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ANDI DVOŘÁK: Meine Gegenfrage kann nur lauten: was ist nicht politisch? Jede Handlung setzt Verantwortung voraus, ganz unabhän­gig davon ob wir uns dessen bewusst sind oder nicht. Oder wie Gerald Casale, Mitbe­gründer und Bassist der Band Devo (in Totally Wired, Soft Skull 2009, S. 47) sagte: »So long as you can get rid of the meaning of content you’re allowed to do anything in capitalist culture. Mea­ning is the number-one enemy. If you render any­thing trivial and meaningless, then you’re allo­wed to deal with the subject!«

Andi Dvořák betreibt seit 2005 das label Fettkakao und spielt in der Punk Band Lime Crush.

 

ANDREAS KUMP: Die Frage ist mir zu katego­risch. Oder zu verkopft. Beides eigentlich. Freilich kann Musik dezidiert oder über ihr Zustandekom­men, ihre Wirkung im engeren oder weiteren Sinn politisch sein. Für allgemein gültig halte ich das aber nicht. Da müsste man auch fragen, warum Freude, Melancholie oder Rhythmus politisch sind. Wer sich damit aufhält, versäumt vermutlich das Beste.

Andreas Kump, 51, sang von 1992 bis 2014 bei der Linzer Band Shy, ist heute selbstständiger Werbetexter und Autor.

 

BERNADETTE SCHÖNANGERER: Musik bedeutet auch Szene. Die eigene Nische, geteilte Leidenschaft und Community zu finden. Auch im kleinsten Kaff gemeinsam etwas auf die Beine zu stellen. Vom Organi­sieren von ein paar Konzerten hin zu kollektiven, subkulturellen Mög­lichkeitsräumen. Und auch lernen, die Geschlechterverhältnisse zu hin­terfragen: Wer steht auf der Bühne, wer macht das Booking, wer steht an den Reglern, wer kocht und putzt?

Bernadette Schönangerer ist in der oberösterreichischen Kulturvereinsszene aufge­wachsen, vom DIY-Gedanken nie wieder losgekommen und (auch deshalb) Redak­teurin bei MALMOE.

 

BERNHARD KERN: Meiner Meinung nach ist Musik genauso politisch wie alles andere auch. In der Entscheidung in welcher Form Musik gemacht wird, mit welchen Menschen zusammengearbeitet wird, welche Deals eingegangen werden, an wel­chen Orten Musik performt wird usw. steckt gesell­schaftspolitisches Potential.

Bernhard Kern, Betreiber von Siluh Records (Label, Verlag, Booking, Laden).

 

GERALD VDH: Musik ist politisch, da sie von Menschen gehört und gefühlt wird und somit soziale und kulturelle Komponenten hat. Im Turbokapitalismus ist sie auch immer Produkt mit wirtschaftspoli­tischer Dimension, somit ist es unmöglich unpolitische Musik zu pro­duzieren. Ich sehe mich in der Tradition von Musiker*innen wie den Schmetterlingen oder Drahdiwaberl auch wenn mein Musik-Genre nicht explizit politisch scheint. Techno wirkt auf der Metaebene. Der Klang der Maschinen darf in den Ohren strukturkonservativer Musiker* innen nie als Musik durchgehen. Techno darf sich nie anbiedern, sonst wird er zum Schlager. Techno funktioniert außerdem nicht ohne Tanz. Der Club als Raum gesellschaftlicher Utopie, die offene Kommunikation mit Fremden ohne jegliche Form der Diskriminie­rung zulässt und Menschen über eine Kunstform zusammen kommen lässt, ist ohne Zweifel ebenfalls politisch. Jeder Rave ist eine Mini-Rebellion dagegen und dafür. Tanz im Club ist eine wichtige Form der Bewältigung, des Eskapismus aber auch der Selbstverwirklichung in einer Zeit der als Individualismus vermarkteten Uniformität. Wir tanzen nicht wie Maschinen. Wir tanzen mit unseren Herzen in den Zehenspitzen.

Gerald VDH ist DJ (all things Techno), Gründer u. a. der Meat Market Parties, Mitbetreiber des Labels Meat Recordings und mit all seinen Bemühungen fest in der LBGTI-Community verwurzelt.

 

MARLENE ENGEL: Musik ist politisch weil sie Men­schen über Sprache und Kultur hinweg zusammen bringt und trotzdem den Kontext, aus dem sie ent­sprungen ist, kommunizieren kann. Musik ist kaum aus dem Alltag wegzudenken. Der Arbeit einiger Künstler_innen wird aber eine zusätzliche politische Ebene oder ein Narrativ erst von Außen zugemessen. Rapper_innen wie Cakes da Killa, z. B. jenes des »struggling gay Rapper« umgehangen. Wieso ist das so? Cakes ist ja erfolgreich und es gibt keinen Anlass zu glauben, er würde mit sich selbst kämpfen. Inner­halb der politischen Bewertung von Musik finden sich also manchmal konservative Klischees und Reproduktionen. Es wäre an der Zeit nicht ständig nur die politische Ebene queerer, vermeintlich mar­ginalisierter Szenen zu bewerten, sondern jene, die dem gegenüber stehen, und damit eventuell sogar die Mehrheitsgesellschaft darstellen. Warum analysiert niemand z. B. das Mainstream-Formatradio und hängt den Künstler_innen dort (wenn nötig) das Pen­dant-Narrativ vom »struggling gay Rapper« um. Andreas Gabalier als »rich heterosexual Singer« – wobei »rich« ja wieder mehr Wahrheitsgehalt hätte, als das »struggling« im oberen Beispiel.

Marlene Engel – alias Bürgerkurator – ist eine in Wien lebende Musikkuratorin (u. a. Hyperreality), Kulturmanage­rin und Aktivistin.

 

POP:SCH: Weil Musik Sichtweisen der Welt ausdrückt. Zumindest bei uns ist das so. Als queere Band fühlen wir uns auch dazu ver­pflichtet, für die zu sprechen, die das nicht können. Der Song »Shut up Haters« behandelt z. B. Homophobie. In unserem neuen Lied »Für immer« geht es auch um die politische Situa­tion in Österreich, ohne politische Statements würden wir uns nicht authentisch fühlen und uns wäre wahrscheinlich auch textlich fad. Wir sagen gern, was uns stört. Auch innerhalb der queeren »Szene«. Ein Politikum sind und waren wir immer. Als wir vor vielen Jahren auf der Donauinsel gespielt haben, bekamen wir danach mehrere Hassmails, weil wir »zu offen« zu unserer Homosexualität standen. Als wir in Belgrad spielen wollten, wurde ein Konzert beim Queerfilmfestival aus Angst vor Übergrif­fen vorsorglich wieder abgesagt.

POP:SCH sind eine Queer-Electro Band aus Wien. Sie haben bis jetzt ein Album auf Las Vegas Records veröf­fentlicht, das nächste soll endlich bald folgen.

 

VINA YUN: Die Frage ist falsch gestellt: Warum sollte sie es denn nicht sein? Musik reflektiert die gesellschaftlichen Verhältnisse, unter denen sie entsteht und die sie bestätigt oder zu überwinden versucht. In ihr drückt sich unsere Beziehung zu anderen und zur Welt aus, aber auf eher affek­tive, assoziative, atmosphärische Weise, was sie auch viel­deutig macht. So gesehen beinhaltet jede Musik etwas Poli­tisches – nicht nur dann, wenn der Liedtext explizit politi­sche Themen anspricht.

Vina Yun arbeitet als freie Journalistin in Wien und legt gerne altmo­disches Disco-Vinyl auf.

 

ШAПΚA (SCHAPKA): Alles ist politisch. Uns ist in unserer Musik wichtig, durch die Inhalte unsere Gedanken nach Außen zu tra­gen. Wir bringen private Themen, wie Mens­truation und Sexualität abseits einer hetero­normativen Cis-Mackerkacknorm in die Öffentlichkeit. Alle Musik, die in der Öffent­lichkeit steht ist auf eine Weise politisch, auch wenn sie sich nicht explizit politisch positioniert. Mit Musikmachen gehen viele öffentliche Plattformen und Positionierungs­möglichkeiten einher – sei es in Interviews, in Songtexten, dem Sprechen auf Bühnen oder der Auswahl, wo gespielt wird.

Interessant ist es auch sich zu fragen: Wer steht (nicht) auf der Bühne? Wie zugänglich ist ein Konzert? Ist es barrierefrei oder gibt es Barrieren? Wer kann sich auf einem Kon­zert wohlfühlen? Wie viel kostet ein Kon­zert?

Шaпκa (Schapka) sind Marie Luise Lehner, Laura Gstättner, Dora Lea de Goederen & Lili Kaufmann und Grrrlskrach. Glamour. Lärm. Wahrheit. Schall. Rauch. Sie definieren Punk für sich neu: feministisch, queer, undogmatisch, divers, links. 2017 haben sie ihre erste LP auf Unrecords veröffentlicht.

 

GÜRTEL CONNECTION: Leider fehlt uns die Zeit um die vor­gegebene Frage zu beantworten. Zudem sehen wir uns eigentlich nicht als politschen Verein und wollen uns in diese Richtung auch nicht unbedingt äußern.

Die Gürtel Connection ist ein Verein, der aus Bars und Clubs am Lerchen­felder Gürtel, zwischen Thaliastraße und Alser Straße, besteht. Das Pro­jekt soll die Vielfältigkeit und Attraktivität des Gürtelabschnitts unter­streichen und wieder ins Gedächtnis der BesucherInnen rufen. Hierfür findet zwei-mal im Jahr das gleichnamige Fest statt, bei dem alle Gäs­tInnen die Möglichkeit haben, gegen einen einmaligen Eintritt (freiwil­lige Spende), das umfangreiche Programm aller teilnehmenden Lokale in Anspruch zu nehmen. Die gesamten Spendeneinnahmen werden wohltätigen Einrichtungen für einen guten Zweck zugeführt. Bei der nächsten Ausgabe, am 25.10.2019, wird für das Obdach Josi-Tageszen­trum gesammelt. (Beantwortet von Stefan Fürnkranz)

 

JUST FRIENDS AND LOVERS: In einer Bandkonstellation bestehend aus ausschließlich Frauen_*, ist es gar nicht so ein­fach, mit Musik nicht politisch zu sein. Wir glauben, dass man einen Impact haben kann. Vielleicht traut sich ja jemand sel­ber eine Band zu gründen, weil sich die Person denkt: »Aha, das könnte ich vielleicht auch!«. Oder weil einfach Frauen_* an Instrumenten gesehen werden, die typischerweise eher Männern_* zugeschrieben werden. Auch wie man an die Pro­duktionsmittel herangeht, ob es zum Beispiel möglich ist, die Instrumente anders als es »die Schule« vorsieht zu benutzen, ob Positionen gewechselt werden können, nicht immer die gleiche Person das »Leadsinging« übernimmt usw., das sind Entscheidungen mit gesellschaftskritischem Potential. Wir eignen uns das meiste durch Ausprobieren an und sind sehr dankbar dafür, eine unterstützende Szene zu haben, die es erlaubt auch auf Bühnen stehen zu können, ohne sich jahre­lang im dunklen Kämmerchen darauf vorbereitet haben zu müssen.

Just Friends And Lovers sind Vero, Lina und Lena, ihr zweites Album »Her most Criminal Crimes« ist soeben auf Cut Surface erschienen. Im Oktober 2019 sind sie damit auf Tour unterwegs.

 

EsRAP: Musik ist politisch, weil es Erfahrungen teilt. Wenn eine Erfahrung viele Leute teilen, dann ist es eine systematische Erfahrung, eine politische Erfahrung. Musik widerspiegelt die Gesellschaft und deren Probleme. Musik sollte politisch sein!

EsRAP sind die Geschwister Esra und Enes Özmen. Ihr Hip Hop ist voll von Gegensätzen, die ineinander schmelzen; kürzlich erschien ihre LP »Tschuschistan« (Springstoff);

 

KRISTINA PIA HOFER: Musik ist politisch, weil sie einen Raum aufmacht, in dem ich mich als Artist mit der real existierenden Welt in Beziehung setze – inklusive der ungleichen Machtverhältnisse, die in dieser Welt herrschen. Wie und ob ich auf der Bühne, in meinen Aufnahmen und im Umfeld, in dem meinen Musikarbeit stattfin­det auf diese Verhältnisse eingehe, ist nicht egal. Der Vorteil von Musik als künstleri­scher Form ist, dass sowohl Platz für Kritik des Bestehenden als auch für utopisches Erforschen bleibt: ich kann ausdrücken, wie sich Entfremdung für mich anfühlt, während ich ästhetische Formen und Arbeitsweisen finde, die sich dieser Entfremdung entzie­hen, und sogar aktiv widersetzen.

Kristina Pia Hofer ist Musikerin (Ana Threat, The Boiler, Pfarre, Sektstress, Schweiffels) und Teil des linken Musiker*innenratnetzwerks.

 

LAURA RAFETSEDER: Musik ist dann poli­tisch, wenn ich sage, was ich bin, fühle und sehe – denn in einer Klassengesellschaft stoße ich rasch an deren Grenzen. Kunst ist dann revolutionär, wenn sie sich selbst treu bleibt und sagt, was ist. Über das zu spre­chen, was die Gesellschaft verdrängt, ist hoch politisch. Die Symptome des Kapitalis­mus auszudrücken, Einsamkeit, Traurigkeit, Schmerz, Wut – das passt nicht in die happy Scheinwelt des Kapitalismus. Musik ist Aus­druck von Politik, aber kann auch politisie­ren.

Laura Rafetseder ist Singer/Songwriterin. Sie veröf­fentlichte bis jetzt zwei Soloalben und ein Album mit ihrer Band Laura & the Comrats. Ein drittes Soloalbum folgt im Herbst 2019.

 

STIMMGEWITTER AUGUSTIN: Musik als Form der Selbstermächtigung, sich eine öffentliche Bühne zu neh­men, ein politischer Akt! Im Falle des Stimmgewitter Augustin potenziert sich diese anarchistische Aktion, eine Randgruppe abseits des kapitalistischen Musikbe­triebs tut das, was sie eigentlich nicht kann – Singen! Dadurch werden künstlich erschaffene Grenzen ausge­hebelt und trotz aller »Taktlosigkeit« das Auditorium manchmal verstört aber vielmehr berührt. »Wir nehmen uns den Platz zum Blüh’n!«

Das Stimmgewitter Augustin ist der Betriebschor der Wiener Stra­ßenzeitung Augustin. Robert Sommer: »Was sie singen, klingt den meisten sehr vertraut. Wie sie es aber singen, kann der beste Schreiber nicht beschreiben.« (Beantwortet hat Maria Lang)

 

DER WIENER SCHMUSECHOR: Musik ist stärker als Angst, Hass und Hetze. Musik schafft das, was Gesetze und große Ansprachen nicht schaffen: Sie überwindet die Hürden und Grenzen zwischen den Menschen und vereint uns alle im Erleben von Emotionen. Sin­gen ist Widerstand mit sanften Mitteln.

Wir sind der Wiener Schmusechor – eine bunt glitzernde, sexy und enthusiasti­sche Powertruppe. Bei uns bleibt kein Auge trocken und kein Körper regungs­los, schmusen garantiert! (Geantwortet haben die Mezzosopranistin Anna Muhr und die Dirigentin und Chorleiterin Verena Giesinger.)

 

KNARF RELLÖM:

versuch über eine häufig gestellte frage immer wieder taucht die frage auf. warum ist musik politisch? was ist politik? die organisation der verhältnisse der menschen zueinander. macht, geld, gesetze, urteile, vorurteile, warenfluss. warum ist musik politisch? alles ist politisch. das private ist politisch. das wäre der schlüssel. zu unterscheiden wäre das konkret politische und das bilden eines politischen charakters. vielleicht wäre das: vorpolitik. rebellion, gerechtigkeitssinn, moral,freiheit. wie werde ich das politische wesen, dass ich bin? dort ist musik politisch. für einzelne. siehe all die punkbiographien und coming out of age stories. einzelne werden zu massen. ansonsten gilt ein satz von rainer werner fassbinder »Man muss zumindest versuchen zu beschreiben, was man nicht verändern kann.«

Knarf Rellöm ist seit 1990 Musiker und gerne unter verschiedensten Namen, mit DJ Patex oder in Wien mit Gustav unterwegs.

 

RAINER KRISPEL: Wie oder warum, gemäß welchem Politikbegriff könnte Musik denn nicht politisch sein? Als Leben reflektie­rende, begleitende und erträglich machende Kunst kann sie nur politisch sein. Das zeigt sich nicht zuletzt dann, wenn »unpolitische« Musik als ach-so unterhaltende Dreckschleu­der des Reaktionären tönt. Attwenger, Billy Bragg, Crass vs Böhse Onkelz oder Gabalier, Links klingt einfach besser.

Rainer Krispel, Vater, Punk und Musik(arbeit)er

 

ROBERT ROTIFER: Ob und in welche Rich­tung Musik per se politisch ist, lässt sich seit dem Ende des künstlerischen Fortschrittsbe­griffs zwar kaum mehr festlegen, aber ihre Rolle als frei zugänglicher Verstärker politi­scher Inhalte ist unbestreitbar. Musik ver­leiht jeder und jedem die Macht, durch die bloße Bewegung von Luft, kollektive Erfah­rungen zu schaffen, Worte emotional aufzu­laden, Menschen zu bewegen.

Robert Rotifer, Journalist und Musiker, der die tiefe Spaltung seiner Wahlheimat Großbritannien in Lied und Wort kommentiert.

 

SIGNALE (Teil des linken Musiker_innenrat­netzwerk): Musik verbindet Menschen und so wie alles andere im Leben, ist natürlich auch Musik (machen) politisch. Eine Bühne bietet die Möglichkeit, Ideen, Lebensweisen sowie Perspektiven auf interessante und unterhaltsame Weise zu vermitteln. Für uns geht es dabei um Solidarität, eine mit­menschliche Einstellung, Offenheit sowie Protest und Aktion.

Signale ist Teil des linken Musiker_innenratnetz­werk, ein Zusammenschluss von Künstler*innen, Veranstalter*innen, Labelbetreiber*innen und diversen Nachtvögeln.

 

SONJA EISMANN: Hm, was hat Pop mit Poli­tics zu tun? Mal überlegen: wenn auf Elektro­nikfestivals nur ca. 10 % weibliche Acts gebucht werden, wenn wichtige Musikjurys nur mit Männern besetzt sind, wenn Mäd­chen sich in Proberäumen und Plattenläden nach wie vor unwohl fühlen, wenn Frauen immer wieder abgesprochen wird, ihre Musik selbst produziert zu haben – gibt es da dann vielleicht einen Zusammenhang?

Sonja Eismann ist Mitbegründerin und -herausge­berin des Missy Magazine und lebt in Berlin. Sie schreibt, forscht und unterrichtet zu Themen rund um Feminismus und Popkultur.

 

KULTUR FOR PRESIDENT / GASSEN AUS ZUCKER: Bezüglich Politik und Musik/Kul­tur: Wir sind vor allem im Bereich von House und Techno Musik tätig. Jede Musikrichtung hat auch ihre Community und hierin besteht die soziale Bedeutung und Wichtigkeit von Musik. Über Musik werden Barrieren über­wunden und Orte der Begegnung geschaffen. Das erleben wir tagtäglich bei unserer kultu­rellen Arbeit und deshalb gilt es diese Orte auch vor konservativen und rechtsextremen Kräften zu verteidigen.

Kultur for President ist ein Zusammenschluss von Aktivist_innen aus der Wiener Musikveranstaltungs­szene. Zum Anlass des Bundespräsidentschaftswahl­kampfes 2016 zwischen Alexander van der Bellen und Norbert Hofer haben wir unsere Initiative ins Leben gerufen. Über Plakatkampagnen und sogenannte »Rave-Blocks« auf Demonstrationen machen wir soli­darische Stimmen aus der Wiener Kulturszene sicht­bar und setzen uns aktiv gegen Diskriminierung und Entdemokratisierung ein. (Geantwortet hat Magda­lena.) www.facebook.com/kulturforpresident/

 

THERESA ZIEGLER: Popmusik ist eine Spie­gelung dessen, was eine Gesellschaft als inte­ressant und relevant betrachtet. Dadurch finden sich in populärer Musik die Themen und die Vibes wieder, die uns als Individuen in dieser Gesellschaft umtreiben. Keine Mei­nungsforschung kann das, was Menschen beschäftigt, so intuitiv darstellen, wie es ein Blick in Charts und Playlisten kann. Das macht Popmusik zu einer wichtigen Mei­nungsanzeigerin – und Musikschaffen für die einzelnen KünstlerInnen zu einem ebenso wichtigen Werkzeug, Meinung nach außen zu tragen.

The Gap ist Österreichs ältestes Magazin für (Pop-)Kultur und Kreativschaffen. Theresa Ziegler ist Chefredakteurin bei The Gap.

 

YASMO & DIE KLANGKANTINE: Weil Musik von Menschen gemacht und gehört wird, und sobald der Mensch ins Spiel kommt, ist die Politik dabei.

Wir sind Yasmo & die Klangkantine und machen feministische Tanzmusik – wir lieben Sprache, Rap, Jazz, Hiphop und sagen auch nicht »nein« zu einem Spritzer.

 

UNRECORDS: Musik ist in mehrerlei Hin­sicht politisch. Einerseits haben viele Musik­stile, Songtexte und Performances politi­sches Gewicht, andererseits bestimmen die Strukturen innerhalb derer in einem bestimmten Kontext oder Umfeld Musik gemacht und konsumiert wird, die (politi­schen) Handlungsoptionen von Musikschaf­fenden. Der Mainstream wird (in Österreich) von weißen, männlichen, heterosexuellen Performern* dominiert und tendiert dazu, die bestehende Ordnung zu verfestigen. Des­halb gibt es Unrecords.

Unrecords ist ein queer-feministisches Label mit Schwerpunkt auf Experimental/Noise/Punk/Rock, das seit 2012 von den vier Wiener Musikerinnen Johanna Forster, Aurora Hackl Timón, Birgit Michlmayr und Petra Schrenzer betrieben wird.

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»Das Kosmos Theater bleibt auf Linie«, verspricht die neue Intendantin Veronika Steinböck. In einem Presse­gespräch stellte sie ihr erstes Programm für 2018/19 vor.

BÄRBEL DANNEBERG

Die Programmpräsentation der kom­menden Spielsaison ist nach der Neu­eröffnung des Kosmos Theaters vielver­sprechend. Den Weg, den die in Pension gegangene Intendantin Barbara Klein vor­gezeichnet hat, möchten die neue Inten­dantin Veronika Steinböck (künstlerische Leitung) und Gina Salis-Soglio (betriebs­wirtschaftliche Leitung) fortsetzen: »Oft und immer wieder wird der Feminismus als Ideologie interpretiert und die Zeitgemäß­heit von einem feministischen Theaterhaus hinterfragt«, meinen sie. »Feministisches Theater ist notwendig.« Die Programmvor­schau scheint dieses Versprechen einzulö­sen.

Leitmotiv Begehren

Ich erinnere mich an die Zeit, als wir Femi­nistinnen gemeinsam mit Kulturschaffen­den das ehemalige Pornokino Rondell besetzt haben. In langwierigen Verhand­lungen mit der Stadt Wien und widerstän­digen Aktionen hat Gründungsintendantin Barbara Klein schließlich das Begehren der Künstler*innen nach einem eigenen Raum vor 18 Jahren mit der Eröffnung des Kos­mos Frauenraum in der Siebensterngasse verwirklicht. »Wie verstehen wir das Ver­hältnis des Begehrens zu Macht, Herrschaft und Gewalt«, fragen die nun »Neuen«? »Wie viel hat Begehren mit Besitzenwollen zu tun? Wie ist es möglich, dem eigenen Begehren zu folgen? Was, wenn ich nichts begehren will? Wie frei sind wir, unser Begeh­ren zu leben?«

Diese Fragen, in denen sich eng Privates mit Politischem vermischt, finden Niederschlag in den neuen Produktionen. Die erste Eigenpro­duktion MÜTTER wirft eine antibiologistische Perspektive auf das Thema Mutterschaft und macht sich auf die Suche nach den »vielge­schlechtlichen Müttern unserer Herzen«, heißt es in der Vorschau. In BEGEHREN von Gesine Schmidt werden stereotype Bilder des explizit sexuellen Begehrens auf eine sinnliche Entdeckungsreise geschickt. Im musikalischen SCHILDKRÖTENRITT machen sich Les Reines Prochaines auf den Weg durch die menschli­che Existenz und beschwören die Stärken des Alters.

Soziokulturelle Vernetzung

»Zwei Drittel der Theaterbesuchenden sind weiblich«, weist Veronika Steinböck auf ein Missverhältnis hin. Es wäre also Zeit, dass sich diese Zahl auch hinter der Bühne durchsetzt. Wieweit das Budget all die Vorhaben trägt, wird sich zeigen. Für die Spielzeit 2018/19 kann das Kosmos noch über Förderungen in Höhe von insgesamt 685.000 Euro verfügen, aber sicher muss der Eigenanteil durch Spen­den und Förder*innen erhöht werden, so Gina Salis-Soglio. Auch wurde die Bestuhlung zur besseren Auslastung auf 94 erweitert.

In Extras sind die Räume des Kosmos Thea­ters auch den freien Künstler*innen geöffnet, denn ohne die »Freie Szene« wäre die Vielfalt in den darstellenden Künsten nicht entstan­den, so die Veranstalterinnen. So sind Projekte mit dem neuen Kulturverein XYZ oder dem Theaterkollektiv YZMA geplant. Ebenso sind Veranstaltungen zu 100 Jahre Frauenwahl­recht, Kooperationen mit Vereinen wie etwa dem Verein Österreichische Frauenhäuser, Feminist Poetry Slam oder eine Benefiz-Ver­anstaltung für OBRA in Vorbereitung.

Den Startschuss zu den vielfältigen Angebo­ten macht am 19./20. Oktober das ERÖFF­NUNGSFEST mit einer Eröffnungsshow & Kon­zert (PH LION), Aktionslabor & Party. »Apro­pos Begehren: Unterstützen Sie das Frauen­volksbegehren 2.0, die Eintragungswoche fin­det vom 1.–8. Oktober statt«, wirbt das Kos­mos-Team im Veranstaltungskalender für Frauensolidarität.

WALTER BAIER über die Friedensbewegung der 1980er Jahre

Ich kann mich nicht daran erinnern, wie ich den 3. Juni 1980 verbracht habe. Von der Dramatik der Ereignisse dieses Tages hatte ich – wie die meisten Menschen auf der Welt – keine Ahnung. Im nordamerika­nischen Luftverteidigungskommando hatte an diesem Dienstag um zwei Uhr früh ein Computer den Anflug mehrerer hundert sowjetischer Raketen angezeigt. Als sich der Irrtum herausstellte, war bereits ein Drittel der strategischen Atomstreitkräfte im Einsatzmodus und konnte gerade noch gestoppt werden. Die Welt war am nuklea­ren Desaster vorbeigeschrammt.

Dabei schien es, als hätte sich das Ver­hältnis zwischen der USA und der Sowjet­union entspannt. Nach jahrelangen Ver­handlungen hatte man 1972 vereinbart, die Potentiale, die zur mehrfachen gegenseiti­gen Vernichtung ausreichten, auf ein nied­rigeres Niveau zu senken. Europa blieb aber

ausgeklammert, weil die USA ihre hier sta­tionierten Waffen nicht als »strategisch« mitzählen lassen wollten. Außerdem waren die Arsenale von Frankreich und Großbri­tannien im Abkommen nicht erfasst. Die Sowjets nahmen dies zum Anlass einer Modernisierung ihrer Mittelstreckenrake­ten in Europa.

1981 war Ronald Reagan zum 40. Präsi­denten der USA gewählt worden. Für ihn war die Sowjetunion ein »Reich des Bösen«, gegen das er zum weltweiten Kreuzzug auf­rief. 108 Pershing-2-Raketen, die man in der BRD aufstellen wollte, von wo sie in vier Minuten Moskau erreichen konnten, und neue treffgenaue Marschflugkörper sollten einen »Enthauptungsschlag« und den auf Europa begrenzten Atomkrieg mög­lich machen.

In Österreich protestierten die Friedens­bewegten zu dieser Zeit vor allem gegen die florierenden Waffengeschäfte der ver­staatlichten Industrie. Im Sommer 1981 aber veröffentlichte eine Gruppe friedensbewegter Persönlichkeiten einen Aufruf für die UN-Abrüstungs­woche im Oktober. Der Erfolg war überraschend: Innerhalb weniger Wochen wuchs die Zahl der Unterstüt­zer_innen auf mehrere tausend an. Unter den prominentesten: Friedrich Cerha, Johanna Dohnal, Michael Köhlmeier, Frie­derike Mayröcker, Erika Pluhar, Margarete Schütte-Lihotzky, Peter Fleissner, Michael Häupl und Erwin Steinhauer. Zum Abschluss der Aktionswoche fanden zeit­gleich in Wien und Linz die ersten größe­ren Friedensdemonstrationen statt, wäh­rend unabhängig davon, landauf-landab, in ganz Österreich örtliche Initiativen gebil­det wurden.

Parteijugend und Bewegung

Am 10. Dezember 1981 versammelten sich 150 Personen in Wien zum ersten Plenum der österreichischen Friedensbewegung, unter ihnen auch die Spitzen der Parteijun­gend von SPÖ und ÖVP, des Bundesjugend­rings, der Gewerkschaftsjugend und der katholischen Jugendorganisationen. Einmü­tig beschlossen wurde, für den 15. Mai, der auch Jahrestag der Unterzeichnung des Österreichischen Staatsvertrags ist, zu einer Großdemonstration aufzurufen.

Das Mitte Dezember unter sowjetischem Druck in Polen ausgerufene Kriegsrecht und das Verbot der Gewerkschaft Solidar­ność prägte die Debatte auf dem nächsten Plenum. Eine kleine Arbeitsgruppe, in der ich den »kommunistischen Zugang« zu vertreten hatte, einigte sich schließlich darauf, eine »demokratische Lösung der gesellschaftlichen Kon­flikte in Polen unter Einschluss einer unabhängigen Gewerk­schaftsbewegung« zu fordern. Ein kleiner Schritt für die Menschheit, aber ein großer für die KPÖ.

Das Problem der Jusos, dass ihnen per Parteibeschluss eine Zusammenarbeit mit den Kommunist_innen untersagt war, blieb aber bestehen. Um die Mes ­alliance für die Parteioberen erträglich zu machen, setzte Josef Cap durch, den Bundesju­gendring, dessen Überpartei­lichkeit hauptsächlich in der Ausgrenzung der kommunisti­schen Jugendorganisationen bestand, zu einem der offiziellen Träger der Veranstaltung zu machen. Beim letzten Vorberei­tungsplenum, sechs Wochen vor dem Friedensmarsch, überraschte er die Anwe­senden, indem er namens eben dieses Bun­desjugendrings darauf bestand, dass bei der Abschlusskundgebung auf dem Rathaus­platz ein Sprecher der Jungen ÖVP, aber kein Kommunist das Wort ergreifen sollte.

Die Empörung über diesen »groß-koali­tionären« Coup war ziemlich einhellig, doch offenbarte sich in den Reaktionen auch die Ambivalenz, mit der die Kommu­nist_innen in der Friedensbewegung wahr­genommen wurden. Die Intensität ihres Engagements wurde zwar geschätzt, aber ideologisch bestand Misstrauen, zum Teil selbst verschuldet, weil die Partei jede Kri­tik an der sowjetischen Rüstungspolitik abwehrte, geradeso als wollte sie den Ver­dacht bestätigen, dass sie tatsächlich nur für eine einseitige Abrüstung des Westens eintrat, was nicht zutraf.

Die Demonstration am 15. Mai 1982, ein Sternmarsch von den vier großen Wiener Bahnhöfen auf den Rathausplatz, an dem 70.000 Menschen teilnahmen, wurde trotz­dem zum überragenden Erfolg. ÖVP und SPÖ, die die Plattform der Friedensbewe­gung als »naiv«, »moskaugesteuert« und »einäugig« verketzert hatten, gratulierten sich nun gegenseitig zu dem wundervollen Ereignis, zudem sie außer Störmanöver nichts beigetragen hatten.

Der Meinungsstreit

Inzwischen rückte der November des kom­menden Jahres, an dem die entscheidende Abstimmung im deutschen Bundestag statt­finden sollte, näher. Die Vertreter_innen der Oberösterreichischen Friedensbewe­gung drängten darauf, die Aktionen gerade darauf zu fokussieren. Im Dezember legten sie den »Linzer Appell« vor, der auf einer Konferenz in der Linzer Arbeiterkammer von Hunderten Friedensakti­vist_innen aus ganz Öster­reich beschlossen wurde. Darin wurde von der österrei­chischen Regierung gefordert, »sich gegen die Stationie­rung von Pershing-2 und Cruise-Missiles in Europa« auszu­sprechen. Innerhalb von sechs Monaten wur­den für den Appell 140.000 Unterschriften gesammelt, darunter auch die Bruno Kreiskys, der damit eine Forderung an die von ihm geführte Regierung unterschrieb. Öster­reich!

Kurz zuvor hatte ein in Graz ausgerichte­tes Friedensplenum zu einer neuerlichen Großdemonstration im Herbst in Wien auf­gerufen.

Zu diesem Zeitpunkt wurde die von Mar­git Niederhuber und Annemarie Türk koor­dinierte, unabhängige Initiative »Künstler für den Frieden« für den Zusammenhalt der Bewegung besonders wichtig. Am 6. November 1982 veranstaltete sie in der Wiener Stadthalle ein Großkonzert. Vor 15.000 Menschen sangen, lasen, performten und sprachen unter anderen: Dietmar Schönherr und Peter Turrini, die eine von den Künstler_innen angenommene Resolu­tion verlasen, Erwin Steinhauer, Esther Bejerano, Konstantin Wecker, Erika Pluhar, Ludwig Hirsch, Sigi Maron, Reinhardt Sell­ner, André Heller und Harry Belafonte. Friedensreich Hundertwasser steuerte das Plakat bei. Im Mai 1983 fuhr ein »Zug für den Frieden« quer durch Österreich.

Indessen entwickelte sich eine interes­sante inhaltliche Debatte in den Kirchen. Der Weltkirchenrat hatte die Atomrüstung als unmoralisch gebrandmarkt. Die Bischöfe der USA forderten vom Präsiden­ten den Verzicht auf den Ersteinsatz von Atomwaffen, und die anglikanische Kirche verlangte von Premierministerin Thatcher eine einseitige Abrüstung der britischen Nukleararsenale.

In Österreich waren es die katholischen Jugendorganisationen, die die Debatte vorantrieben. Ihre Grundhaltung war pazi­fistisch, ihre Vertreter_innen, die keine Parteikarrieren vor Augen hatten, konnten zur Verteidigung der Aktionsgemeinschaft mit den Kommunist_innen ein im wahrsten Sinn entwaffnendes Argument anführen: die im Evangelium geforderte »Feindes­liebe«.

Allerdings testeten auch sie die Bündnis­fähigkeit der Kommunist_innen, indem sie eine Solidarisierung der Friedensbewegung mit der von den Behörden unterdrückten, unabhängigen, von Christ_innen getrage­nen Friedensbewegung der DDR verlangten. Eine dementsprechende Resolution wurde auf dem Friedensplenum durch eine Stimmenthaltung der meisten kommunisti­schen Teilnehmer_innen möglich.

Innerhalb der Kirchenhierarchie waren die Meinungen geteilt. Während der Linzer Bischof Aichern den Linzer Appell unter­zeichnet hatte, sah sich der Klagenfurter Bischof Kapellari veranlasst, öffentlich zu erklären, dass eine »Volksfront mit den Kommunisten« niemals geduldet würde.

Anfang September, sechs Wochen vor der für 22. Oktober anberaumten Großdemons­tration kam es zum Showdown mit der ÖVP. Wochenlang hatten die Medien einen Untergang des Abendlands für den Fall pro­phezeit, dass ein Kommunist bei der Abschlusskundgebung das Wort ergreifen würde. Der Koordinationsausschuss hatte mich aber gerade dafür vorgeschlagen. Othmar Karas, dem Chef der Jungen ÖVP fiel zu, das Abendland zu retten und sich selbst als Redner zu empfehlen. Er wurde mit 177 Stimmen der 200 Anwesenden abgelehnt und ich mit derselben Stimmen­zahl gewählt. Mediale Schelte gab es nach dieser Entscheidung vor allem für die Katholische Jugend, deren Bundessekretä­rin, Elisabeth Aichberger, in der rechten Presse als unwürdig bezeichnet wurde, dem drei Tage später zu einem Besuch in Öster­reich eintreffenden Papst Johannes Paul II einen Strauß Blumen zu überreichen.

Trotz oder vielleicht sogar wegen dieser Dauererregung wurde der Friedensmarsch am 22. Oktober 1983 mit seinen 100.000 Teilnehmer_innen zu einem politischen Großereignis.

Schlussbemerkung

Am selben Tag demonstrierten in Europas Hauptstädten Millionen Menschen. Nach einer Gallup-Umfrage waren im November 1983 67 Prozent aller wahlberechtigten Bundesbürger_innen, 68 Prozent der Nie­derländer_innen, 58 Prozent der Brit_innen und 54 Prozent der Italiener_innen gegen die Raketen. Trotzdem beschloss der Deut­sche Bundestag die Aufstellung. Damit war der Höhepunkt der Bewegung überschrit­ten, auch in Österreich. Daran vermochten auch teilnehmer_innenstarke und bemer­kenswerte Aktionen in den folgenden bei­den Jahren nichts zu ändern.

Eigentlich waren wir uns alle nicht bewusst, wie tief der Einschnitt war, den das Jahr 1983 markierte. In Afghanistan hatte sich die Sowjetunion in einen aus­sichtslosen, unpopulären Krieg verwickelt, der Aufstand der polnischen Arbeiter_ innen ließ sich nicht mehr unterdrücken und signalisierte das Ende der kommunisti­schen Regierungen Osteuropas. Reagans Plan, die Sowjetunion durch eine neue kostspielige Runde des Wettrüstens »totzu­rüsten«, war aufgegangen.

Die Friedensbewegung im Westen war zu schwach, um den Ereignissen eine andere Richtung zu geben. Ob die von Gorbatschow 1988 in seiner Rede vor der UNO vorge­stellte Wende in der sowjetischen Außen­politik etwas ändern hätte können, wäre sie früher erfolgt, muss hypothetisch bleiben. Österreich hätte in einem solchen interna­tionalen Ringen um eine neue Friedenspoli­tik sicher keine Hauptrolle gespielt. Seine Friedensbewegung hätte trotzdem eine gute Figur gemacht.

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Walter BaierDer Atomtod wird nicht nach dem Parteibuch fragen

»Es ist nicht einfach die Angst um das eigene biss­chen Leben, das uns heute auf die Straße treibt, sondern es ist die tief empfundene Verantwortlich­keit für das Schicksal unserer Gemeinschaft und des Planeten, auf dem wir leben.

Die Friedensbewegung ist ebenso wenig einseitig wie die Stationierung der neuen Raketen eine Nachrüstung ist. Die Friedensbewegung tritt für die Abrüstung in West und Ost ein.

Aber, so möchte ich fragen: Kann man die von der atomaren Gefahr Bedrohten, die Beunruhigten und Besorgten in Glaubwürdige und Unglaubwürdige einteilen? Ist die Angst, die ein Konservativer um sein Leben empfindet, glaubhafter und berücksich­tigungswürdiger als die Angst eines Sozialisten oder Kommunisten?«

Aus der Rede von Walter Baier (links) am 22. Oktober 1983

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Was die Arbeitsmarktpolitik betrifft, sind ÖVP und FPÖ ohne gröbere Probleme zusammen. Das verwundert aus linker Perspektive nicht, interessant ist jedoch das »Wie?«. Für die Volksstimme analysiert der Soziologe ROLAND ATZMÜLLER von der Johannes Kepler Univer­sität Linz, wie die Umgestaltung der Arbeitsmarktpoli­tik unter Türkis-Blau funktioniert.

… was zusammengehört

»Die Wirtschaft kann die immer zahlreiche­ren offenen Stellen nicht aus dem im Inland vorhandenen Arbeitskräftepotenzial beset­zen«, so die Diagnose im türkis-blauen Regierungsprogramm zur jüngsten Ent­wicklung am österreichischen Arbeits­markt. Diese ist seit 2017 von einem Auf­schwung geprägt, der gegenwärtig zu einer Reduktion der Arbeitslosigkeit führt. Die Regierung betont aber, dass sich der Auf­schwung bislang nicht im gleichen Maß auf die Arbeitslosenquote ausgewirkt hat, er also noch nicht vollständig bei der Bevölke­rung angekommen sei. Für Tükis-Blau ist klar, dass dies nicht daran liegt, dass das Kapital die Flexibilitäten der österrei­chischen Arbeitsverhältnisse ausnutzt (zum Beispiel durch Ausdehnung der Mehrarbeit und Überstunden), oder die fortgesetzte Sparpolitik auf Kosten der Beschäftigung geht. Vielmehr sieht sie die Ursache darin, dass »noch immer Arbeitskräfte aus Ost­mitteleuropa in den Arbeitsmarkt drän­gen«. Der eingangs zitierte Satz hat es also in sich. Macht er doch deutlich, dass auch in der Arbeitsmarktpolitik die so genannte Wirtschaftspartei ÖVP und die selbst ernannte »soziale Heimatpartei« FPÖ ohne gröbere Probleme zusammenkommen. Das sollte aus linker Perspektive zwar nicht weiter verwundern – das tut es nur bei libe­ralen KommentatorInnen in den bürgerli­chen Medien – interessant ist aber das »Wie?«.

Sicherstellung passförmiger Arbeitskräfte für das Kapital

Einerseits übernimmt das Regierungspro­gramm die FPÖ-Position, wonach an der gestiegenen Arbeitslosigkeit die Öffnung der Arbeitsmärkte in der EU und die in das Sozialsystem drängenden Geflüchteten schuld seien. Andererseits liegt der Teufel im Detail der Feststellung, dass die Wirt­schaft die offenen Stellen nicht mit Arbeits­suchenden aus dem Inland besetzen kann.

Damit macht die Regierung die bisherige Regulierung der Arbeitsmärkte und Beschäftigungsverhältnisse zum Ziel ihrer Politik – bei der Durchsetzung des 12-Stun­den-Tages hat sie ja bereits gezeigt, woher der Wind weht. Sie nimmt daher die Sozial­versicherung und insbesondere die Arbeits­losenversicherung und damit auch das AMS ins Visier. Die Kosten für diese Systeme (Arbeitslosenversicherung, Kranken- und Pensionsversicherung), die den Arbeits­kräften immer noch einen gewissen Schutz vor der kapitalistischen Konkurrenz bieten, müssen aus Sicht der Regierung runter – einerseits. Andererseits sollen sie so umge­baut werden, dass die Verfügbarkeit von passförmigen Arbeitskräften für das Kapital sichergestellt wird.

Denn dass die Wirtschaft die offenen Stel­len angeblich gegenwärtig nicht mit Arbeitskräften aus dem Inland besetzen kann, liegt nach Ansicht von ÖVP und FPÖ auch an den ineffizienten Management­strukturen des AMS. Das österreichische System der Sozialleistungen aus der Arbeitslosenversicherung würde außerdem Missbrauch ermöglichen und zu wenige Anreize setzen, dass Arbeitslose Beschäfti­gungsangebote auch annehmen, wie das im Jargon moderner Arbeitsmarktpolitik heißt.

Arbeitslosenversicherung und Klassenkampf

Die neue Regierung hat also genau erkannt, dass die Arbeitsmarktpolitik ein zentrales Feld des Klassenkampfes ist. Vereinfacht gesprochen wird durch die Sozialversiche­rung ein Teil des Lohnes vergesellschaftet, was übrigens nicht vom Staat, sondern der frühen ArbeiterInnenbewegung erfunden wurde und heute als Lohnnebenkosten ideologisch vernebelt wird. Durch die Insti­tutionalisierung von Solidarität setzte sich der Kollektivarbeiter gegen den individua­lisierten Produktionsfaktor Arbeit, wie er in der liberalen Ökonomie vorgesehen ist, durch. Dieser rang dem Kapital und dem Staat die finanzielle Absicherung bestimm­ter Formen der zumindest zeitweiligen Nichtteilnahme an Lohnarbeit ab.

Karl Marx zeigte im Kapital, dass die ArbeiterInnenklasse mit dem Lohn jene Güter finanzieren muss, die für ihr Überle­ben notwendig sind. Dieses Überleben gilt es aber auch bei Arbeitslosigkeit, Krank­heit, Alter usw. zu sichern. Das gelingt durch die Vergesellschaftung eines Teils des Lohnes, was zugleich aus Arbeitslosen, Kranken und Alten (institutionell) Lohnab­hängige machte. Der Kampf um höhere Löhne wurde daher zu einem Kampf um die Höhe der Mittel für Sozialleistungen, sodass hier eine Vereinigung verschiedener Interessen möglich wurde. So werden bis heute Arbeitslosengeld- und Notstandshil­febezieherInnen in Österreich Versiche­rungszeiten für die Pension angerechnet.

Zentrales Kampffeld: Arbeitsmärkte

Doch dieser Erfolg der ArbeiterInnenklasse war immer auch widersprüchlich, da er aus Perspektive des Kapitals eine Rationalisie­rung der Arbeitsmärkte und der Vermitt­lung von Arbeitskräften erforderte. Staat und Kapital konnten nicht akzeptieren, dass die Gewerkschaften und ArbeiterIn­nenbewegung die Vermittlung von Arbeits­kräften und den Zugang zu Berufen oder Branchen kontrollierten, sodass es zur Ein­führung staatlicher Arbeitsvermittlungen kam. Damit wurde die Frage der Passför­migkeit der ArbeiterInnen und wie diese hergestellt oder aufrecht erhalten werden kann, zum Gegenstand des Klassenkampfes.

Es geht dabei etwa darum, die Arbeitsdis­ziplin durch Sanktionen für »Arbeitsunwil­lige« zu erhalten; darum, mögliche Beschäftigte ausreichend zu qualifizieren; aber auch darum, Arbeitskräfte aufgrund gewisser als natürlich angenommener Eigenschaften in bestimmte Tätigkeiten (zum Beispiel so genannte »Frauenberufe«) zu kanalisieren. Außerdem geht es darum, Personen, die als dauerhaft nicht integrier­bar in den Arbeitsmarkt gelten, aus diesem und dem Sozialsystem zu verdrängen. Diese Tendenzen lassen sich daher mit sexisti­schen und rassistischen Vorstellungen leicht verbinden. Die Vermittlung passför­miger Arbeitskräfte wird daher nicht allein über die Höhe die Arbeitslosengeldansprü­che gesteuert, sondern auch über die Fähig­keiten und Einstellungen der Arbeitskräfte wie jüngst durch »Aktivierung« und »Workfare« in den Vordergrund trat.

Die letztgenannten Aufgaben werden aus Perspektive der Regierung vom AMS aber nicht ausreichend erfüllt – und zwar, weil dem die Reste der von der ArbeiterInnen­klasse durchgesetzten Einschränkung des Kapitals entgegenstehen. Drei Dimensionen der geplanten Veränderungen lassen sich daher gegenwärtig unterscheiden. Diese betreffen erstens die Organisationsstruktur des AMS, zweitens die Erhöhung des Drucks auf die Arbeitslosen und drittens die insti­tutionelle Verfestigung einer Segmentie­rung der Arbeitslosen, die Teile letzterer aktiv vom Eintritt in eine Lohnarbeit in Österreich ausschließen will.

Erstens: Umbau der AMS-Struktur

Die türkis-blaue Regierung will unter dem Vorwand mangelnder Effizienz und inadä­quater Managementstrukturen das AMS umkrempeln. Wie ist noch nicht klar, es scheint aber naheliegend, dass der Einfluss der Sozialpartner, also vor allem der Gewerkschaften zurückgedrängt werden soll. VertreterInnen von Gewerkschaften und Arbeiterkammer verfügen gegenwärtig über ein Drittel Stimmanteile im Verwal­tungsrat des AMS. Die Pläne werden einer­seits in der Manier neoliberaler Bürokratie­kritik formuliert. Die Aktivitäten des AMS werden als wenig effizient und schwerfällig dargestellt. Dies verbindet sich einerseits mit Angriffen auf den angeblich zu ver­ständnisvollen Umgang mit Langzeitar­beitslosen, die aus öffentlichen Mittel durchgetragen würden. Andererseits wer­den Geflüchtete und andere Zuwanderer – insbesondere muslimischer Religion – und der Umgang mit diesen Gruppen als Pro­blem inadäquater Abläufe im AMS darge­stellt.

Zweitens: Steigender Druck auf Arbeitslose

Zweitens plant die Regierung, den Druck auf Arbeitslose zu erhöhen. Dazu gehört erstens eine forcierte Anwendung der gesetzlich möglichen Sanktionen, zu der die Dienststellen des AMS bereits angewie­sen wurden. Insbesondere soll der §10 des ALVG, der einen Verlust des Arbeitslosen­geldes von mindestens sechs Wochen vor­sieht und die Verweigerung oder Vereite­lung einer Arbeitsaufnahme sanktioniert, möglichst rigoros angewendet werden. Es ist zu erwarten, dass die Regierung spätes­tens im nächsten Jahr, wenn die diesjähri­gen Zahlen mit den Jahren davor vergli­chen werden können, den Anstieg der Sper­ren für ihre Agenda breittreten wird. Man kann sich die Argumente leicht vorstellen. Endlich werde im AMS mit dem nachsichti­gen Umgang mit Arbeitslosen aufgeräumt. Oder: Die Zunahme an Sanktionen aufgrund von Arbeitsverweigerung zeige, dass unter den Zuwanderern viele arbeitsscheue Per­sonen zu finden sind. Die Vorhersehbarkeit dieser Argumente wäre zum Lachen, stellte es für die betroffenen Personen keine exis­tenzielle Bedrohung dar.

Weitere Umbauaktivitäten, die im Regie­rungsprogramm angekündigt wurden, müssen zwar erst in Gesetzesform gegossen werden. Doch es ist nichts Gutes zu erwar­ten. So soll das »Arbeitslosengeld neu« in Zukunft degressiv gestaffelt werden. Die Begründung dafür ist, dass sich die Arbeits­aufnahmen, wenn Arbeitslose in eine andere Stufe im Transferleistungssystem eintreten, erhöhen würden. Zu erwarten ist, dass in den ersten Monaten der Arbeits­losigkeit damit sogar eine leichte Erhöhung der Nettoersatzrate für das Arbeitslosen­geld, das im internationalen Vergleich sehr niedrig ist, verknüpft sein wird. Da eine derartige Maßnahme aber zumindest kos­tenneutral ausfallen muss, sind massive Einschnitte bei längerfristig arbeitslosen Personen zu erwarten.

Das degressive Arbeitslosengeld ist näm­lich mit der geplanten Abschaffung der Notstandshilfe, die als Versicherungsleis­tung gegenwärtig theoretisch unbegrenzt lange ausbezahlt werden kann, und der Zusammenführung dieser Leistung mit der Mindestsicherung verbunden. Da bei der Mindestsicherung eine Bindung an das Ver­mögen der BezieherInnen gegeben ist, ist die Nähe dieser Reformen zu Hartz IV mehr als offensichtlich. Auch wenn noch zur Diskussion steht, inwiefern Langzeitar­beitslose hier erfasst werden sollen. Zwar erreichen gegenwärtig etwa zwei Drittel der NotstandshilfebezieherInnen ein Leis­tungsniveau, das unter der Mindestsiche­rung liegt, sodass sie auf diese aufstocken könn(t)en. Doch die geplanten Verände­rungen bei der Mindestsicherung (Decke­lung und Kürzung der Leistungen) zeigen, dass für Langzeitarbeitslose insgesamt massive Kürzungen zu erwarten sind.

Drittens: Weitere Segmentierung der Arbeitslosen

Hier zeigt sich, wie breit der Konsens zwi­schen Wirtschaftspartei und »sozialer Hei­matpartei« ist. Diese Maßnahmen sollen verhindern, dass »Durchschummler« nicht mehr von der Gesellschaft »durchgetra­gen« würden und der Anreiz, eine Beschäf­tigung aufzunehmen, wie regierungsnahe Experten wie Wolfgang Mazal argumentie­ren, erhöht wird. Gleichzeitig soll der Zuwanderung in die Sozialsysteme durch Geflüchtete aber auch von Personen aus dem EU-Ausland, die erst nach fünf Jahren Erwerbstätigkeit in Österreich Zugang zu diesen Leistungen bekommen sollen, ein Riegel vorgeschoben werden.

Dass die neoliberale und konservative Arbeitsmarktpolitik in ihrer Koalition mit der äußeren Rechten ihren universalisti­schen Anspruch aufgibt, alle in das Markt­geschehen zu zwingen, wird auch in den Kürzungen der aktiven/aktivierenden Arbeitsmarkt- und Integrationspolitik sichtbar. So wird von der neuen Regierung die Aktion 20.000, die über 50-jährigen Langzeitarbeitslosen eine dauerhafte Beschäftigung auf dem sogenannten 2. Arbeitsmarkt ermöglichen sollte, abge­schafft. Außerdem werden ab 2019 die Sprachkurse und das Integrationsjahr für Geflüchtete gekürzt und können Unter­nehmen bei der Einstellung von Asylbe­rechtigten nicht mehr die Eingliederungs­beihilfe, durch die das AMS einen Teil der Lohnkosten übernimmt, lukrieren. Die Kürzungen der Lehrlingsentschädigung in den Überbetrieblichen Lehrwerkstätten forciert die Spaltung zwischen Jugendli­chen.

Kritik an AMS verbindet sich mit Angriff auf »Integrationsindustrie«

Die Kritik an der ineffizienten Organisati­onsstruktur des AMS verbindet sich daher mit dem Angriff auf die so genannte Inte­grationsindustrie, die als Spielwiese rot-grüner Gutmenschen angesehen wird, die die Betreuung von Arbeitslosen mit Sinn­loskursen – was von rechter Seite was anderes bedeutet, als die linke Kritik damit jemals gemeint hat – zum Selbstzweck wer­den lässt, um für sich und das eigene Milieu Jobs zu schaffen. Das passt gut zu den Inte­ressen der ÖVP nahen Wirtschaftsvertreter, die schon immer gegen experimentelle Arbeitsmarktpolitik und die Finanzierung von zivilgesellschaftlichen und gemeinnüt­zigen oder gar politisch-widerständigen Vereinen auftraten.

Da die arbeitsmarktpolitischen Aktivitä­ten schon lange nicht mehr experimentell sind, sondern den neoliberalen Zielsetzun­gen unterworfen und professionalisiert wurden, wird hier schwer Widerstand orga­nisierbar sein, da wohl von den betroffenen Arbeitslosen aufgrund ihrer Erfahrungen mit der gegenwärtigen Situation wenig Mobilisierungsbereitschaft zu erwarten ist.

Bleibt als Fazit

Die neoliberale Kürzung von Leistungen und die Disziplinierung der Arbeitslosen verbinden sich im Programm der Regie­rung mit der rassistischen und auch sexisti­schen Strukturierung der Arbeitsmarktpo­litik und der aktiven Abdrängung und Ver­drängung bestimmter Gruppen von Arbeitslosen in die Mindestsicherung oder überhaupt aus Österreich hinaus. Die Seg­mentierung der Arbeitslosen und die aktive Schaffung einer »unproduktiven« Schicht, bindet die Teilhabe an dieser Gesellschaft an Leistungsbereitschaft und kultureller und sozialer Konformität. Sozialpolitik wird renationalisiert, ihre Bedeutung für die Solidarität der ArbeiterInnenklasse wird weiter unterhöhlt. Der Eintritt der FPÖ in die Regierung zeigt die Konsequenz der neoliberalen Individualisierung der Arbeitsmarktpolitik durch Aktivierung und Workfare, die in Ethnisierung und Kultura­lisierung umschlägt, – was ihre wechselsei­tige Legitimation steigert.

Ein Blick auf die großen Krisen des Kapitalis­mus, deren Bewältigung immer zu Lasten der breiten Bevölkerung versucht wurde, legt zwar die Notwendigkeit von politischen Regu­lierungen nahe, hält aber an der Notwendig­keit eines System Changes fest.

Nach dem marxistischen Verständnis von Wirtschaft gehören Krisen zum Kapitalismus wie das Amen zum Gebet. Dafür ist die so genannte Anarchie der kapitalistischen Produktion verantwort­lich, die einem Unternehmen egoistische Entscheidungen zur Gewinnmaximierung erlaubt, ohne auf die anderen Unterneh­men oder die Bevölkerung Rücksicht zu nehmen. Bekannt wurde die Tulpenkrise in den Niederlanden zwischen 1634–1637. Im 19. Jahrhundert brachen die Wachstumsra­ten alle sieben bis zehn Jahre ein. Während diese Krisen eher lokale Auswirkungen hat­ten, kam es 1857 zur ersten Weltwirt­schaftskrise, die ihren Ausgang von New York City nahm. Als dort eine Bank ihre Zahlungen einstellte, kam es zu einer Ket­tenreaktion von Zusammenbrüchen, die sich rasch über die gesamte Welt ausbreite­ten. Die Finanzzentren Europas und Ameri­kas waren besonders stark betroffen.

In den 1870er-Jahren kam der nächste Krisenschub: Das Ende des Booms der Grün­derzeit in Österreich und Deutschland, der zeitgleich mit einer US-amerikanischen Wirtschaftskrise erfolgte, führte zu einer langdauernden Stagnation in allen entwi­ckelten Ländern der Erde.

Am Freitag, dem 25. Oktober 1929, der als »schwarzer Freitag« in die Geschichte ein­ging, brachen die Börsenkurse an der New Yorker Wall Street zusammen und lösten in allen wichtigen Industrienationen eine Kette von Unternehmenszusammenbrü­chen, Massenarbeitslosigkeit und Preisver­fall aus. Es begann die »große Depression«, die erst nach vielen Jahren ein Ende fand. Aber immer wieder wurden die Krisen durch Wachstumsperioden abgelöst, die maximal 20 Jahre andauerten, oder – weni­ger günstig – von längeren Stagnationsperi­oden mit eher bescheidenen Wachstumsra­ten. Manche der Krisen brachten in ihrem Gefolge verstärkten Widerstand gegen das kapitalistische System, andere dagegen führten zu einer Modifikation des Kapitalis­mus selbst, aber alle verschlechterten die Lebensqualität weiter Bevölkerungskreise und bürdeten der Bevölkerung neue Lasten auf. Auf der politischen Ebene waren und sind Nationalismus und Rechtsentwicklung häufige Folgen.

Nur wenige ÖkonomInnen sahen voraus, dass schon bald nach der Jahrtausend­wende eine weitere weltweite Krise im Ausmaß der »großen Depression« den Globus erschüttern würde. Ausnahmen bestätigten allerdings die Regel: Stephan Schulmeister, aber auch der »paläolibe­rale«1 Universitätsprofessor Erich Streiss­ler von der Wiener Universität warnten schon einige Jahre vor dem großen Crash vor einem Zusammenbruch der US-Finanzmärkte, ohne den genauen Zeit­punkt vorhersagen zu können. Im Kreis der Fachleute war dennoch die Überra­schung groß, als die New Yorker Invest­mentbank Lehman Brothers am 15. Sep­tember 2008 tatsächlich Bankrott machte: Diese große Bank hatte einen Berg dubio­ser Wertpapiere (CDS – Credit Default Swaps) angeboten, der ihr Eigenkapital weit überstieg. Die Kombinationspapiere waren von Ratingagenturen als sehr gut eingestuft worden. Sie wurden von den Banken der ganzen Welt als sichere Anlage gekauft. Als einzelne Kunden begannen, ihre Einlagen abzuziehen, konnte sich Lehman nicht mehr selbst finanzieren und musste schließen. Das vorher Undenkbare war Wirklichkeit geworden. Die Finanzkrise zeigte aber erst in den folgenden Monaten ihr ganzes Ausmaß, als immer mehr Finanzinstitu­tionen zu schwanken begannen. Mittel­große Banken wurden sogar verstaatlicht, in den USA ein echter Skandal, vier klei­nere (Bear Stearns, Washington Mutual, Wachovia und Countrywide) verloren ihre eigenständige Existenz. Manche sprachen gar vom Ende des US-Kapitalismus.

Die Krise in Europa

Das Überschwappen der Krise auf Europa führte in der EU zu einem Rückgang des Brutto-Inlandsprodukts. Es erreichte wegen der dauerhaft niedrig bleibenden Investitionen erst 2016 wieder das Niveau des Vorkrisenjahrs 2007. Manche spre­chen von einem »verlorenen Jahrzehnt«. Durch die Entwertung von Wertpapieren, Immobilien und Rohstoffen schrumpften die Vermögenswerte der europäischen Banken und damit ihr Eigenkapital.

Anders als beim Börsenkrach 1929 waren die Regierungen bereit, ihre großen Finanzinsti­tutionen zu retten. In Großbritannien brachte die eigene Notenbank die nötige Liquidität auf, in Deutschland und Österreich finanzierte sich der Staat am Anleihenmarkt zu niedrigen Zinssätzen. In den südlichen Mitgliedsländern der EU war die Beschaffung von zusätzlichem Geld viel schwieriger. Als Mitglieder der euro­päischen Währungsunion stand ihnen keine eigene Notenbank zur Verfügung (die Europäi­sche Zentralbank darf keine Euros ausgeben). Wegen der Wetten von großen Spekulanten auf den Bankrott von einzelnen stark ver­schuldeten Euroländern waren überdies die Zinsen auf den Anleihemärkten gestiegen. Eine Refinanzierung der Schulden wurde vor allem für Griechenland praktisch unmöglich. Die von den Banken Südeuropas gehaltenen Anleihen verloren an Wert, sie brauchten mehr Staatshilfe, wodurch wieder die Staats­schulden wuchsen und die Anleihekurse wei­ter sanken – ein Teufelskreis, von dem 2012 auch Spanien und Italien erfasst wurden.

Da es in Euroland durch die Verträge von Maastricht, Amsterdam und Lissabon bisher verboten war, dass die Europäische Zentral­bank oder die Mitgliedsländer einander hel­fen, bedurfte es 2012 einer Ankündigung des EZB-Chefs Draghi, dass der Euro mit allen Mit­teln verteidigt werden würde. Dadurch sanken die Zinsen für Staatsanleihen. Auch die Länder Südeuropas (mit Ausnahme Griechenlands) konnten sich so refinanzieren. Um einen Preisverfall zu verhindern und die Liquidität zu steigern, kaufte die EZB überdies von März 2015 bis Juli 2018 Staatsanleihen der Mit­gliedsstaaten im Wert von zweitausendfünf­hundert Milliarden Euro (!), wodurch sie zum größten Gläubiger der Mitgliedsländer wurde. Erst mit Ende 2019 sollen keine weiteren Käufe getätigt werden.

Griechenland war von diesem Programm aus­geschlossen. Es wurde unter den Europäischen Rettungsschirm gestellt, womit äußerst harte Sparmaßnahmen verbunden waren, die zu einem sozialen Desaster führten. Die Euro­gruppe, ein informelles, demokratisch nicht abgesichertes Gremium, entsandte in kolonia­ler Manier Vertreter der Troika, die aus der Weltbank, dem Interntionalen Währungsfonds und der Europäischen Kommission bestand, nach Griechenland, die darauf achteten, dass alle Auflagen exakt eingehalten werden. Nur wenn diese erfüllt würden, könnten Milli­ardenkredite fließen, um den Staatsbank­rott abzuwenden, der durch eine Über­schuldung des Staatshausshalts drohte. Die Regierung Tsipras willigte letztlich in diese erpresserischen Auflagen ein. Das katastro­phale Ergebnis: Ein Rückgang des BIP zwi­schen 2008 und 2016 um 26,2 Prozent, die Nachfrage nach Konsumgütern um 24,4 Prozent. Welche menschlichen Tragödien sich dahinter verbergen, lassen diese tro­ckenen Zahlen kaum ahnen.

Zehn Jahre später

Zehn Jahre später ist alles anders. Schein­bar keine Rede mehr von Problemen mit dem Finanzkapital. Der Nettoumsatz der global agierenden Investmentbanken lag 2017 bei etwa 85 Milliarden Dollar und damit höher als die 80 Mrd. im Jahr 2006 und nur unwesentlich weniger als die 90 Mrd. im Vorkrisenjahr 2007. Die fünf größ­ten Geschäftsbanken der USA sind die glei­chen geblieben wie vor elf Jahren. Die Bereinigung der Banken hatte überra­schender Weise überall das gleiche Resul­tat: Die größten Banken wurden noch grö­ßer, der Anteil der fünf größten Banken des Sektors wuchs. Allerdings hat sich der Ban­kenanteil an den 500 Unternehmen, die im Standard & Poors Index notieren, von 10 auf 6 Prozent reduziert.

Die renommierte Wirtschaftszeitschrift Economist stellt zum zehnjährigen Jahres­tag des Bankenkrachs fest, dass sich »die Wolken verziehen«. Es ließen sich wieder »maßvolle Gewinne machen«, die Wirt­schaft expandiere, die Qualität bei Krediten wäre gut, die regulierenden Eingriffe gin­gen zurück. Also alles wieder wie vor der Krise? Man könnte es beinahe annehmen, denn an die Topmanager werden nach wie vor Spitzengehälter bezahlt, an den Chef von AIG, Brian Duperreault, 43 Millionen Dollar, an James Dimon von JPMorgan »nur« magere 29,5 Millionen Dollar, wäh­rend sich Lloyd Blankfein von Goldman Sachs mit 24 Millionen Dollar, und Brian Moynihan von der Bank of Amerika mit 23 Millionen Dollar begnügen.

Die Beharrlichkeit der Finanzwelt zeigt sich aber am stärksten bei den Immobilien­krediten. Immerhin waren in den USA neun Millionen Familien im Zuge der Krise gezwungen worden, ihre Wohnstätten zu verlassen. Oft waren ihnen wieder besseres Wissen uneinbringliche Hypothekarkredite aufgeschwatzt worden. Bis heute sind die beiden dafür mitverantwortlichen Unter­nehmen, Fannie Mae und Freddie Mac, die nach ihrer Verstaatlichung kurz vor dem Fall von Lehman abgewickelt, privatisiert oder aufgelöst hätten werden sollen, in ihrem fragwürdigen Geschäft tätig.

Ist nach der Krise vor der Krise?

Obwohl sowohl die USA als auch die EU die Regulierung des Bankensektors verstärkten und eine Erhöhung des Eigenkapitals vor­schrieben, ist das Risiko einer weiteren Krise nicht gebannt. Zwar ist das Kernkapi­tal, das die Banken zur Eigenfinanzierung verwenden, in der Eurozone um rund zwei Drittel (von 8,8 % auf 14,7 %), in den USA um rund ein Drittel (von 9,8 % auf 12,9 %) gewachsen, aber die USA schleppen einen Rucksack von Staatsschulden in der Höhe von »21 Billionen Dollar mit, durch die Steuerreform der Trump-Regierung steigt die Verschuldung um eine weitere Billion Dollar pro Jahr an. Das Haushaltsdefizit liegt laut IWF-Prognosen in den kommen­den drei Jahren bei fünf Prozent der Wirt­schaftsleistung, die staatliche Schulden­quote im Jahr 2023 voraussichtlich bei 117 Prozent. Stärker verschuldet sind dann nur noch Japan (250 %) und Griechenland (165 %), selbst Italien (116 %) wird von den USA überholt«.2 In Deutschland glauben 61 Prozent, dass eine Finanzkrise die größte Bedrohung ihres Wohlstands ist. Immerhin denkt ein wachsender Teil der Bevölkerung in die richtige Richtung: »Eine gar nicht so kleine Minderheit von 15 Pro­zent stimmt der traditionellen marxisti­schen Einschätzung zu, das kapitalistische Eigentum sei Quelle der Ausbeutung und der Entfremdung der Arbeiter.«3 Hier kann ich mich anschließen: Obwohl eine ver­stärkte Regulierung des Finanzkapitals gegenüber dem Realkapital nötig ist – wie Stephan Schulmeister nie müde wird zu betonen, muss letztlich das kapitalistische System durch eine bessere Alternative ersetzt werden.

1 So bezeichnete er sich selbst: alt-liberal, nicht neoliberal

2 Business No 2 2018: 21.

3 https://diepresse.com/home/wirtschaft/economist/5440336/ Kommt-eine-neue-Finanzkrise

Beinahe hätte der marxistische Wissenschaft­ler und Aktivist KEREM SCHAMBERGER nicht einreisen dürfen. An der Grenze zwi­schen Österreich und Deutschland zwang ihn die Polizei aus dem Zug zu steigen und detail­liert über seine Pläne in Österreich zu berich­ten. RAINER HACKAUF hat Schamberger zur Gefängnissituation in der Türkei befragt.

Mit Max Zirngast sitzt gerade ein Jour­nalist und Blogger aus Österreich in der Türkei im Gefängnis. Die genauen Vor­würfe sind noch unklar. Kennst du Zirn­gast?

KEREM SCHAMBERGER: Ich kenne ihn, wir sind via Facebook in Kontakt. Er schreibt für das lesenswerte re:volt Magazin und kennt sich auch in der Türkei besser aus als ich, da er in Ankara gelebt hat. Die Inhaftierung war zugleich ein Schock für mich, aber auch, so bitter das klingt, Ge­wohnheit. Schließlich sind viele meiner tür­kischen oder kurdischen Bekannten schon festgenommen worden. Das Besondere an der Verhaftung von Max ist, die Politik der Geiselnahme durch Erdoğan weitet sich aus. Nach Deutschen wie Deniz Yücel hat es nun auch einen Österreicher getroffen. Wir wer­den sehen, wie sich die österreichische Rechtsregierung nun verhält.

Die Repression in der Türkei gegen linke und kurdische AktivistInnen ist stark. Wie hat sich die Situation seit dem Putschversuch verändert?

KEREM SCHAMBERGER: Das neue Machtkon­zept der AKP unter Erdoğan besteht aus einer gezielten gesellschaftlichen Spaltung. Auf der einen stehen die TerroristInnen – also die tür­kische Linke, Kurden und Demokratiebewe­gung –, auf der anderen Seite stehen in dieser Logik alle, die Erdoğan unterstützen. Der Angriffskrieg auf Afrin von Anfang des Jahres ist hier einzuordnen, ebenso wie die Verhaf­tung streikenden Bauarbeiter in den letzten Tagen. So wurden 400 Bauarbeiter des dritten Istanbuler Flughafens in Gewahrsam genom­men, 24 davon mittlerweile in dauerhafte Untersuchungshaft. Dazu muss man sagen, dass diese Bauarbeiter Kurden sind, da Kurden auch einen Gutteil des proletarischen Teils der Bevölkerung stellen. Hier spielt also auch eine Klassenfrage mit hinein.

Von welcher Größenordung reden wir da?

KEREM SCHAMBERGER: Die Anzahl linker, politischer Gefangener war in der Türkei im-mer schon hoch. Diese hat sich jedoch seit Beginn der AKP-Herrschaft, vor allem aber seit dem Abbruch des Friedensprozesses im Som­mer 2015 vervielfacht. Insgesamt gibt es in der Türkei 390 Gefängnisse, 40 weitere sollen bis Jahresende eröffnet werden und noch weitere 100 werden derzeit gebaut. Darin sind rund 250.000 Menschen inhaftiert.

Rund 10.000 AnhängerInnen der HDP, also der Demokratischen Partei der Völker, wur­den seitdem inhaftiert. Der Vorsitzende Sela­hattin Demirtaş sitzt seit zwei Jahren im Hoch­sicherheitsgefängnis. Weitere 10.000 sitzen wegen echter oder angeblicher PKK-Mitglied­schaft oder anderen Aktivitäten für die kurdi­sche Freiheitsbewegung im Gefängnis. Über 34.000 wegen Mitgliedschaft in der Gülen-Bewegung und 1.270 wegen IS-Mitgliedschaft. Auch diese Zahlen sprechen für sich. Tausende der Inhaftierten sind übrigens Studierende, die oft wegen ihren politischen Aktivitäten auf der Uni eingesperrt wurden.

Türkische Gefängnis sind berüchtigt. Was dringt in Bezug auf die Haftbedingungen nach außen?

KEREM SCHAMBERGER: Die türkischen Gefängnisse sind extrem überbelegt. Die Haft­bedingungen sind damit sehr dramatisch. Es gibt sehr viele erkrankte Gefangene, lebens­wichtige medizinische Behandlungen werden oft verweigert. Viele verlassen mit chronischen Erkrankungen das Gefängnis auf Grund der katastrophalen Haftbedingun­gen. Und erst heute wurde bekannt, dass über 750 Kleinkinder zusammen mit ihren Müttern eingesperrt sind.

Darüber hinaus mehren sich die Berichte von Folter in Gefängnissen. Das was also in der Türkei schon überwunden geglaubt war, mehrt sich wieder. Vor allem bei Pro­testen in den Gefängnissen für besseres Es­sen oder Haftbedingungen wird seitens der Wärter sehr schnell zu Gewalt gegriffen.

Der Mitgründer der Kurdischen Arbei­terpartei, Abdullah Öcalan, befindet sich seit knapp 20 Jahren im Gefängnis. Das hat seiner Popularität keinen Abbruch getan, hat er doch einige Bücher aus dem Gefängnis heraus veröffentlicht. Was spielt er für eine Rolle?

KEREM SCHAMBERGER: Er ist der Schlüs­sel für die kurdische Frage in der Türkei. Und meiner Einschätzung nach ist das nicht nur eine kurdische Frage, sondern eine Frage der Demokratie. Die Demokrati­sierung der Türkei muss Hand in Hand mit einer Föderalisierung der Türkei gehen, also weg von einem Zentralstaat hin zu Bundesländern oder Kantonen mit eigenen Kompetenzen wie in Deutschland oder der Schweiz. Damit ist das keine kurdische Frage alleine, da die Türkei ja aus sehr vie­len Ethnien, religiösen und kulturellen Gruppen besteht.

Vorschläge für so eine Dezentralisierung weg von Ankara kamen wiederholt aus İm-ralı, der Gefängnisinsel auf der Abdullah Öcalan sitzt. Seine Rolle ist mittlerweile also mehr die eines Vordenkers der Demo­kratisierung der Türkei und eigentlich des ganzen Nahen Ostens. Der Aufbau von selbstverwalteten Strukturen in Rojava be­ruht auf seinen Ideen. Er ist der Schlüssel. Wenn er nicht in Gespräche eingebunden und mittelfristig frei gelassen wird, dann wird es keinen Frieden in der Türkei geben.

Ende September kommt der türkische Präsident zum Staatsbesuch nach Deutschland und wird mit allen Ehren empfangen. Was wären linke Forderun­gen an die Regierungen in Deutschland oder Österreich im Umgang mit Erdoğan?

KEREM SCHAMBERGER: Keine Zusam­menarbeit mit solchen Verbrechern. Die Bundesregierung wäre eigentlich in der Lage die Wirtschaftskrise in der Türkei zu nützen, um Druck in Hinblick auf Verhand­lungen um eine Verbesserung der Situation vor Ort aufzubauen. Das ist aber politisch und wirtschaftlich nicht gewollt. Vor allem auch, weil das Bankensystem in der Türkei von Deutschland geschützt wird, da die Banken wiederum vor allem im ausländi­schen Besitz stehen und daher von Deutschland als »systemrelevant« einge­stuft werden.

Abschließen gefragt: Jenseits von Solida­rität, warum sollte sich die Linke im deutschsprachigen Raum für die Kurden interessieren?

KEREM SCHAMBERGER: Es geht nicht mehr um die klassische Solidarität der 1970er und 1980er Jahre, wo westliche Linke dort hingehen und »denen da« hel­fen. Wir können nun viel mehr von den gesellschaftlichen Umgestaltungsprozessen – zum Beispiel in Nordsyrien – lernen: Etwa wie man eine progressive Volksbewegung mit linken Idealen initiiert, gleichzeitig aber nicht die religiösen Teile der Bevölke­rung verprellt. Die kurdische Befreiungsbe­wegung ist da sehr feinfühlig, das haben wir als Linke, vielleicht MarxistInnen, oft AtheistInnen nie so wirklich hinbekom­men. Es geht um wechselseitiges Lehren wie auch ein Lernen gleichzeitig. Das Inte­ressante an der kurdischen Bewegung ist, dass sie in Teilen sehr offen für diese neue Art der Solidarität ist.

Kerem Schamberger ist wissenschaftlicher Mit­arbeiter am Institut für Kommunikationswis­senschaft und Medien­forschung und Aktivist aus München. Er ist aktiv im Verein »mar­xistische linke« und im Vorstand des »Institut Solidarische Moderne«.

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Kerem Schamberger und Michael Meyen Die Kurden: Ein Volk zwischen Unterdrü­ckung und Rebellion, Westend Verlag: Frank­furt/Main 2018

Unter dem Titel »Die Schwere der Schuld« hat der Jurist THOMAS GALLI ein Buch verfasst, in dem er auf seine jahrelange Tätigkeit als Gefängnisdirektor zurück blickt. CHRISTOF MACKINGER hat den ehemaligen Direktor der JVA Zeithain in Sachsen gefragt, wie eine Gesellschaft ohne Gefängnis aussehen könnte. Und woran diese konkrete Utopie scheitert.

Zum Einstieg, Herr Galli, ist das Gefäng­nis nicht völlig kontraproduktiv, weil es vielmehr eine »Universität für Verbre­cher« ist, wie es manchmal gesagt wird?

THOMAS GALLI: Das ist sehr zugespitzt formuliert, aber es ist Wahres dran. Die im Gefängnis etablierte Kultur, ist eben nicht die, in die der Staat integrieren will, son­dern eine Parallelkultur. Ich denke, dass es nicht unbedingt so ist, dass der eine dem anderen beibringt, wie man ein Auto am besten knackt. Das kommt sicher auch vor. Viel wichtiger sind jedoch Kultur und damit verbundene Wertvorstellungen, die im Gefängnis im Gruppengefüge aufgebaut und gefestigt werden.

Wer sitzt eigentlich im Gefängnis?

THOMAS GALLI: Im Bereich der kurzen Strafen kommen fast alle aus prekären Ver­hältnissen oder haben zumindest eine belastende Biografie. Im Bereich der hohen Haftstrafen ist es anders, aber auch kein Querschnitt der Bevölkerung. Es trifft in erster Linie diejenigen, die unterdurch­schnittlich gute Chancen im Leben hatten.

Wenn sie nicht in die Gesellschaft integriert werden, was macht Haft dann mit den Inhaftierten?

THOMAS GALLI: Also meine These wäre, dass 90 % der Häftlinge nicht in die Gesellschaft integriert werden. Wie ich gerne sage, manche schaffen es trotz Strafvollzug, aber nicht wegen dem Gefängnis. Die allermeisten, die ich erlebt habe, werden zynisch und abge­stumpft oder aber wütend und aggressiv – haben eindeutig den Plan weiter auf illegale Weise Geld zu verdienen. Und es gibt natürlich auch die, die verzweifelt sind. Die Selbstmord­rate ist deutlich überdurchschnittlich im Ver­gleich zu draußen.

Das Leben im Gefängnis ist vollkommen fremdbestimmt. Vom Aufstehen, bis zum Essen, die Arbeit, diese ganzen Dinge. Im Gefängnis wird man jeglicher Autonomie beraubt und damit auch jeder Selbstverant­wortung. Draußen braucht man die aber. Für mich liegt völlig auf der Hand, dass das Gefängnis nicht resozialisiert, sondern deso­zialisiert.

Sie waren ja in unterschiedlichen Justiz­vollzugsanstalten tätig. Ab wann war der Punkt erreicht, wo sie dieses System in Frage gestellt haben?

THOMAS GALLI: Es hat wirklich gedauert, mir selber einzugestehen: »Das ist eigentlich ein Schmarrn, was da passiert.« In einer Haft­anstalt, in der ich etwa sechs Jahre gearbeitet habe, da kamen immer wieder die Gleichen ins Gefängnis. Meistens keine Schwerkriminellen, viele aus dem Drogenmilieu. Die sind kurz raus, haben dann wieder irgendwas gemacht und kamen wieder rein. Das war allen klar. Ein Dauerkreislauf wo man sich irgendwann denkt: »Wer hat da was davon?« Und denjeni­gen, die noch den Willen hatten, dem Kreislauf zu entkommen, denen hat man mit dem Gefängnis viele Chancen kaputt gemacht. Eine Haftzeit bekommt man schwer raus aus dem Lebenslauf, naturgemäß hat man damit weni­ger Chancen am Arbeitsmarkt und in anderen Bereichen. Damit ist die Gefahr groß, letztlich wieder abzurutschen und straffällig zu wer­den. Was die Mehrheit der Inhaftierten angeht, vergrößert man damit also eher die Gefahr, dass sie wieder straffällig werden.

Arbeit von Häflingen wird zumindest in Österreich als sehr zentral für die Resozialisierung angepriesen. Wie sehen sie das?

THOMAS GALLI: Zu einem gewissen Grad stimmt das. Wobei auch der Nachweis zu führen wäre, dass Leute, die in Haft arbeiten, danach auch mehr Chancen auf dem Arbeitsmarkt haben. Aber das wird nicht untersucht. Die meisten Inhaftierten sind ja tatsächlich heilfroh, dass es Arbeit gibt, und wollen arbeiten. Den Justizbehör­den geht es eher darum, dass in der Haft einigermaßen Ruhe herrscht und die Leute beschäftigt sind. Und so ist Arbeit in Haft eher ein Selbstzweck, denke ich. Wenn man hingegen wirklich wollte, dass es um Resozialisierung geht, dann müsste man sich viel weitergehende Gedanken machen und die Leute in die Rentenver­sicherung einbeziehen. So landen sie ja erst Recht in der Armut nach der Haft. Das kann doch nicht der Sinn von Resozialisierung sein.

In Deutschland hat sich vor einigen Jahren eine Gefangenenge­werkschaft gebildet. Mittlerweile gibt es so einen Versuch auch in Österreich. Was halten sie davon?

THOMAS GALLI: Diese Gefangenengewerkschaft finde ich einen sehr guten Ansatz, der aber natürlich einen extrem langen Atmen brauchen wird. Das Modell einer Gewerkschaft passt überhaupt nicht in das System des Strafvollzugs. Aber es ist sehr wichtig, sich zu verbünden und Ressourcen und Know-How zu bündeln, um da mehr Wirkungsmacht zu haben. Die schon angesprochene Einbe­ziehung in die Rentenversicherung, zum Beispiel, wird in Deutsch­land von vielen aus dem Bereich der Wissenschaft und Politik gefordert. Umso wichtiger ist es, dass es auch Verbände gibt, deren Stimme gehört wird, die das vorantreiben.

Passend zum Schwerpunkt in dieser Zeitung, ist eine Gesell­schaft ohne Gefängnis denkbar? Als sie noch die JVA Zeithain geleitetet haben, haben sie mal öffentlich gesagt, wenn es nach ihnen ginge, könnte jeder einzelne ihrer Häftlinge freigelassen werden.

THOMAS GALLI: Man muss es sich bewusst machen: Die Leute, die dort bei mir eingesperrt waren, wurden sowieso in zwei Jahren entlassen. Also zu sagen, »Wir wollen sicher sein vor denen«, ist eine falsche Rechnung. Wenn der nämlich nach zwei Jahren raus kommt und danach noch weniger Chancen hat als vorher, dann ist auf Dauer gesehen die Sicherheit nicht erhöht, sondern reduziert.

Aber es gibt sicherlich keine Patentlösung. Das erwarten Leute in Diskussionen jedoch oft. Das macht es auch so schwierig, in diesem Bereich zu argumentieren.

Oft kommt die Frage: »Was tun sie mit einem Anders Breivik?« In meiner Zeit in der JVA Straubing habe ich gelernt, dass es Insassen gibt, die nach meiner Meinung auf keinen Fall mehr in Freiheit kommen dürfen. Wir können nicht jede Gefährlichkeit abtherapie­ren, das müssen wir uns auch eingestehen. Es macht aus meiner Sicht keinen Sinn, einen Anders Breivik 40 Jahre lang zu therapie­ren. Aber wir könnten sagen, »Wir wollen von dir keine Gefahr mehr in Kauf nehmen, aber wir behandeln dich trotzdem men­schenwürdig«. Denn, das sind auch so die Erfahrungen, unter ande­rem aus den USA, wenn man Gefangene roh behandelt, foltert oder hinrichtet, dann führt das nur zu einer allgemeinen Verrohung in der Gesellschaft und zu noch mehr Gewalt. Insofern brauchen wir weiterhin eine Art von Gefängnis für dieses Klientel. Die Grundlage für die Haft wäre hier aber eine ganz andere. Weggesperrt würde nicht zur Strafe, wegen Schuld oder Vergeltung.

Das Gefängnis hat ja aber auch eine abschreckende Wirkung?

THOMAS GALLI: Ja, ich denke, die abschreckende Wirkung ist nicht von der Hand zu weisen. Bei manchen wird mögli­cherweise gerade eine drohende Haftstrafe abschreckend sein. Bei anderen wären das aber vielleicht auch ganz andere Sachen. Aber auch hier darf man nicht zuviel davon erwarten. Aus der Forschung weiß man, dass gerade bei den schlimmen Straftaten – Gewalttaten, Sexualdelikten – der Abschre­ckungsgedanke kaum eine Rolle spielt. Auch bei eher langfristig geplanten Taten, irgendwelchen Finanzbetrügereien oder so, gehen die Leute ja davon aus, dass sie nicht erwischt werden.

Was müsste sich in unserer Gesellschaft ändern, damit diese Art des Strafens nicht mehr sein muss?

THOMAS GALLI: Jede Straftat hat indivi­duelle Ursachen – ich will den einzelnen nicht aus seiner Verantwortung nehmen. Jede Straftat hat aber auch soziale Anteile. Diese bestehen im Hier und Jetzt. Auch in unserer Wohlstandsgesellschaft gibt es gewaltige Ungerechtigkeiten. Und die erzeugen hilflose Wut und auch Gewalt und Normbrüche. Das ist natürlich ein Ideal, aber je gerechter eine Gesellschaft ist, desto geringer ist die Straffälligkeit. Und natürlich haben Straftaten auch soziale Ursachen, im Hinblick auf die Biografie der Straffälligen etwa. Es gibt natürlich sehr viele, die aus schwierigsten Umständen kommen und nicht straffällig werden. Umgekehrt ist es aber so, dass die meisten, die straffällig werden aus schwierigen Ver­hältnissen kommen.

Thomas Galli ist mittlerweile als Rechtsanwalt tätig. Sein letztes Buch widmet sich Einzelschicksa­len von Straftätern und ist unter dem Titel »Die Gefährlichkeit des Täters« 2017 erschienen.

Kein Land auf der Welt hat mehr Gefangene als die USA. Ein überdurchschnittlich großer Teil von ihnen sind Schwarze Menschen.

VON LEA SUSEMICHEL

2.121.600 Menschen sitzen in den USA derzeit im Gefängnis. Mit über zwei Millionen Inhaftierten sind die USA damit weltweit das Land mit den meisten Gefan­genen. Das gilt nicht nur relational (nur die Seychellen haben eine noch höhere lnhaf­tierungsrate, also einen noch größeren Anteil der Bevölkerung in Haft), sondern sogar in absoluten Zahlen: Obwohl sie nur fünf Prozent der Weltbevölkerung stellen, haben die USA 25 Prozent aller Inhaftierten global zu verantworten. Allerdings ist diese lnhaftierungsquote nicht für alle Bevölke­rungsgruppen gleich hoch. Was die US-amerikanische Bürgerrechtlerin Angela Davis, die sich zeit ihres Lebens auch für politische Gefangene einsetzt, schon vor Jahrzehnten als »Die Farbe der Gefangen­schaft« angeklagt hat, ist bis heute Realität: US-Gefangene sind unverhältnismäßig oft Schwarz bzw. hispanischer Herkunft. Die Wahrscheinlichkeit, zumindest einmal im Leben im Gefängnis zu landen, beträgt bei weißen US-amerikanischen Männern eins zu 17, bei Schwarzen liegt sie hingegen bei eins zu drei. Bei Schwarzen Frauen ist die Inhaftierungsrate immerhin noch fast dop­pelt so hoch wie bei weißen Frauen.

»Mass Incarceration«

Das Phänomen der sogenannten »Mass Incarce­ration« macht es für viele Kinder und Jugendli­che der Black Community alltäglich, dass Elternteile oder Menschen aus dem nahen sozialen Umfeld im Gefängnis sitzen – was wie­derum die Zukunftsperspektiven dieser Kinder bestimmt. Es hat seinen Ursprung in der Law-&-Order-Politik, die mit Richard Nixons Präsi­dentschaftskandidatur 1968 begann. Um damals die Widerstandsbewegungen gegen den Vietnamkrieg und die Black-Liberation-Bewe­gung zu kriminalisieren, wurden Hippies gezielt mit Marihuana und Afroamerikanerln­nen mit Heroin in Verbindung gebracht. Unter Ronald Reagan wurde dieser zuvor vor allem rhetorische Krieg gegen Drogen ab 1982 zu einem tatsächlichen: Drogenabhängigkeit wurde nicht als gesellschaftspolitisches, thera­peutisches oder sozialpädagogisches Problem betrachtet, sondern als Verbrechen. Seit den 1980ern steigen die Inhaftierungsraten als unmittelbare Folge dieser Politik rasant an. Mittlerweile sitzt fast die Hälfte (47 Prozent, Stand 2016) aller Insassinnen in Bundesgefäng­nissen wegen Drogendelikten ein.

Auch der Demokrat Bill Clinton verabschie­dete 1994 den »Violent Crime Control and Law Enforcement Act«, die mit einem Dreißig-Milli­arden-Dollar-Budget ausgestattete, größte Strafrechtsreform der US-Geschichte (er wurde dabei übrigens aktiv von Hillary Clin­ton unterstützt, wofür sie sich in ihrem Wahlkampf 2016 allerdings entschuldigte). Dazu gehörte auch das berüchtigte Three-Strikes-Law (»Drei-Verstöße-Gesetz«), das bei der dritten Verurteilung wegen einer Straftat automatisch eine lebenslange Haft­strafe vorsieht – in manchen Bundesstaaten fallen darunter sogar Delikte wie Einbrüche oder Autodiebstahl.

Kontinuität der Sklaverei

Ava DuVernays sehenswerter Dokumentar­film »Der 13.« bewertet diese rassistische Mass Incarceration als Kontinuität der Sklaverei. Denn obwohl Sklaverei seit 1865 durch den 13. Zusatzartikel der US-Verfas­sung abgeschafft ist, enthält das Sklaverei­verbot eine entscheidende Ausnahme: Die Arbeitskraft von Kriminellen darf bis heute ausgebeutet werden. DuVernays beim New York Film Festival 2016 gefeierte und inzwischen auf Netflix verfügbare Doku­mentation führt in zahlreichen Interviews mit Wissenschaftlerinnen, Expertlnnen und AktivistInnen historische Zusammenhänge dieses »Gefängnis-Industrie-Komplexes« vor Augen. Eine von ihnen ist die Bürger­rechtlerin Michelle Alexander, die in ihrem Bestseller »The New Jim Crow« den »War on Drugs« als politisches Mittel für die soziale Stigmatisierung und Segregation von Schwarzen identifiziert.

Lobbyarbeit und der politische Einfluss der Gefängnisindustrie haben zu lukrativen Privatisierungen im Strafvollzugssystem geführt, womit nun nicht nur Dienstleis­tungen und Güter wie Überwachungstech­nologie verkauft werden können, sondern auch die Ressource billiger Gefangenenar­beit geschaffen wurde, von der heute Kon­zerne wie McDonalds, Starbucks, Microsoft oder Bayer profitieren. »Viele Unterneh­men, deren Produkte wir täglich konsumie­ren, haben erkannt, dass die Arbeitskraft in den Gefängnissen genauso profitabel sein kann wie die Arbeitskraft aus der Dritten Welt«, schrieb Angela Davis schon 1998 im Magazin »Colorlines«.

»Schwarzes Verbrechen«

Dieser Ausbeutung wiederum liegt die Kri­minalisierung von Schwarzen Menschen insbesondere Männern zugrunde. Und diese beginnt nicht erst bei der alltäglichen rassis­tischen Polizeigewalt, gegen die »Black Lives Matter« aufbegehrt. Einer Gewalt, die jedes Jahr aberhunderten Menschen in den USA das Leben kostet, erneut ist ein überpropor­tional großer Teil von ihnen Schwarz. Der Ursprung für diese Polizeibrutalität, für Racial Profiling und Racial Persecution, die Afroamerikanerlnnen von Verkehrskontrol­len über Drogenfahndung bis hin zu den darauffolgenden rassistischen Verurteilun­gen massiv diskriminiert, liegt tiefer. Schließlich wird das Bild des »Schwarzen Verbrechers« seit der Kolonialgeschichte kultiviert und tradiert, weshalb sich das Motiv des »Schwarzen Vergewaltigers«, vor dem die Weiße Frau geschützt werden muss, tief eingebrannt hat – völlig unbeeindruckt von der Tatsache, dass es historisch vor allem weiße Männer waren, die Schwarzen Frauen schlimmste, auch sexuelle, Gewalt angetan haben. Selbst Schwarze Kinder und Jugendliche werden im Zuge dieser generel­len Kriminalisierung als seelenlose »Super­predators« gebrandmarkt und das US-ameri­kanische Strafrecht verfolgt sie bereits als Minderjährige und wirft sie ins Gefängnis.

Crimmigration

Auch das sogenannte »Crimmigration Law«, also die zunehmende Ineinssetzung von Strafrecht und Immigration, kriminalisiert allein die Herkunft von Menschen. Das Aus­einanderreißen von illegal in die USA einge­reisten Familien im vergangenen Sommer durch Präsident Trump sowie das Einsperren kleiner Kinder in Lager, die sich nur dem Namen nach von Gefängnissen unterschei­den, geschah ebenfalls auf dieser Grundlage. Doch skandalös sind nicht nur die Umstände, die Menschen in den USA massenhaft ins Gefängnis bringen, schlimm sind auch die Zustände in den zunehmend privatisierten Gefängnissen selbst, in denen es beispiels­weise auch weiterhin die längst als Folter klassifizierte Isolationshaft gibt. Angela Davis hat bereits vor zwanzig Jahren konsta­tiert, dass in den USA das Gefängnis als wich­tigste Antwort auf soziale Probleme gilt. Doch »Gefängnisse lassen nicht die Probleme verschwinden, sie lassen Menschen ver­schwinden«, ist Davis' Erwiderung. Daran hat sich bis heute nichts geändert.

Dieser Beitrag von Lea Susemichel ist erstmals im Schwerpunkt »Geschlecht und Gefängnis« in »an.schläge – Das feministische Magazin« Ausgabe VI/2018 erschienen.

Vor einigen Jahren stand ich nach einer Gerichtsverhandlung mit einer Anwältin vor der Justizanstalt (JA) Josefstadt und sie sagte zu mir: »Ihnen ist klar, dass da drinnen ein rechtsfreier Raum besteht.« Das wurde mir zu dieser Zeit gerade klar und bei regelmäßigen Gefängnisbesuchen finden sich dafür zahlrei­che Beispiele, die von kleineren Schikanen bei der Essensausgabe bis zur groben Missach­tung von Menschenrechten reichen. Informa­tionen darüber kommen selten an die Öffent­lichkeit und werden noch seltener wahrge­nommen.

Text von MONIKA MOKRE und MARTIN PREISACK

Gegen diese Situation formieren sich in manchen Ländern seit langer Zeit Gefan­genengewerkschaften; auch in den deutsch­sprachigen Ländern gab es immer wieder Bemühungen, Gewerkschaften in Gefängnis­sen zu gründen. In jüngerer Zeit gelang dies in Form der Gefangenengewerkschaft/Bundes­weite Organisation (GG/BO), die 2014 in der JA Berlin-Tegel gegründet wurde und Solidari­tätsgruppen in acht deutschen Bundesländern umfasst.

In Österreich hörten im November 2015 drei streitbare Gefangene in der JA Karlau von der deutschen Initiative – Herwig Baumgartner, Georg Huß und Oliver Riepan – und gründeten daraufhin eine Gewerkschaft nach dem deut­schen Vorbild.

Die österreichische Gewerkschaft übernahm den Namen GGBO vom deutschen Vorbild und fügte noch den Zusatz »R.A.U.S.« hinzu. Das steht natürlich für den Wunsch vieler Gefan­gener, rauszukommen, ist aber auch die Abkürzung für »richtig artgerecht unterge­brachte Strafgefangene«. Die »artgerechte Haltung der Untergebrachten« wurde genauso von der Vollzugskammer des OLG Linz ausfor­muliert. »(…) es zeigt die überaus humanisti­sche Denkweise an den Gerichten, denn Gefan­gene werden in Österreich wirklich wie die nahezu noch rechtloseren Tiere gehalten«, so Oliver Riepan, einer der Gründer der GG/BO R.A.U.S. zur Namensfindung.

Zur »artgerechten« Unterbringung gehört aber offensichtlich nicht die Gründung einer Gewerkschaft – die wurde vom Justizministe­rium untersagt, da sie im Strafvollzugsgesetz nicht vorgesehen ist. Die offizielle Gründung als Verein hat daher noch nicht stattgefunden, ist aber gerade in Arbeit; die Statuten wurden gerade von Oliver Riepan entworfen.

Aber der Kampf für die Rechte der Gefange­nen fand auch schon bisher ohne die Erlaubnis des Ministeriums statt, allerdings dadurch erschwert, dass die drei Gründer voneinander getrennt wurden. Herwig Baumgartner wurde in die JA Göllersdorf und Oliver Riepan in die JA Mittersteig verlegt. Georg Huß wurde bedingt entlassen und zugleich als deutscher Staatsbürger mit einem zehnjährigen Aufent­haltsverbot für Österreich belegt. Trotzdem blieben aber alle drei im Rahmen ihrer Mög­lichkeiten aktiv und auch die deutsche GGBO unterstützt die Aktivitäten in Österreich.

Über die deutsche Gewerkschaft wurden auch Kontakte mit Aktivist_innen draußen hergestellt und so gibt es seit Herbst 2016 eine Solidaritätsgruppe der GGBO-R.A.U.S., die Kontakt mit den Gefangenen hält und ihre Forderungen unterstützt.

Gesetzlicher Arbeitslohn und Versicherung

Die wichtigsten Forderungen der deutschen Gewerkschaft betreffen die Arbeitsverhält­nisse im Knast und dieses Thema wurde auch als erstes in Österreich aufgegriffen. Die Justizanstalten werben in der Öffent­lichkeit und bei Firmen mit den Produkti­onsmöglichkeiten im Gefängnis, der hohen Produktqualität und den gut geschulten Arbeitskräften. Zugleich aber arbeiten Gefangene für Hungerlöhne und sind weder kranken- noch pensionsversichert. Aus der Sicht des Justizministeriums hat das alles seine Richtigkeit, denn Gefangenen unter­liegen der Arbeitspflicht, daher handelt es sich nicht um ein reguläres Arbeitsverhält­nis. Aus der Perspektive der Gefangenen bedeutet das, dass sie oft nicht mehr als 1,40 bis 1,90 Euro pro Stunde verdienen, keinen Anspruch auf Krankenstand haben und keine Pension erhalten – was für Lang­zeitgefangene den sicheren Weg in die Altersarmut bedeutet.

Die GGBO-R.A.U.S. fordert angemessene Arbeitslöhne und volle Versicherung.

Gesundheitsversorgung

Die Justiz argumentiert, dass eine Kranken­versicherung nicht nötig ist, da die Gefan­genen in der Anstalt ärztlich versorgt wer­den. Doch diese Versorgung ist reichlich fragwürdig. Sogar ansteckende Krankhei­ten wie Hepatitis C werden nicht behandelt, andere, »draußen« fast ausgestorbene Krankheiten wie die Krätze, werden trotz Erstuntersuchung in die Anstalt gebracht.

Die GGBO-R.A.U.S. fordert die Auf­nahme von Gefangenen in die Kranken­versicherung und adäquate medizini­sche Versorgung.

Diskriminierung im Gefängnis

In der ohnehin elenden Situation im Knast werden manche noch schlechter als andere behandelt; dies gilt insbesondere für Migrant_innen, die sich zahlreich im Gefängnis wiederfinden, weil öfter als bei Österreicher_innen U-Haft verhängt wird, keine Bewährungsstrafe ausgesprochen wird etc. Im Gefängnis bekommen sie oft wichtige Informationen nicht in ihrer Mut­tersprache, dürfen keine »fremdsprachige« Post oder Besuche empfangen und werden von allen »Privilegien« ausgeschlossen, auf die andere Gefangene zumindest eine Chance haben, wie etwa Ausbildungen oder Sportmöglichkeiten.

Gerade am Beispiel von Migrant_innen wird auch deutlich, dass es zwar eine Pflicht zur Arbeit, aber kein Recht auf Arbeit gibt. Denn trotz der schlechten Bedingungen ist es vielen Gefangenen lie­ber, irgendetwas zu tun und ein bisschen zu verdienen, als den ganzen Tag in der Zelle zu verbringen. In überbelegten Anstalten gibt es aber nicht Arbeit für alle – und Migrant_innen bekommen dann im Nor­malfall keinen Arbeitsplatz. Doch auch andere Gefangene werden laufend diskri­miniert, insbesondere Homo- und Trans ­sexuelle.

Die GGBO-R.A.U.S. fordert die Gleichbe­handlung aller Gefangenen.

Versammlungs-, Presse- und Informationsfreiheit

Die wichtigste Forderung der Gefangenen­gewerkschaft betrifft aber Versammlungs-, Presse- und Informationsfreiheit als Grund­bedingung dafür, dass Gefangenen für ihre Rechte eintreten können. Zur Verdeutli­chung dieser Forderung wird die Gefange­nengewerkschaft bei der Wahl zum Euro­päischen Parlament 2019 mit einer eigenen Liste antreten, auf der sich auch Kandidat_ innen finden werden, denen das aktive und passive Wahlrecht aufgrund ihrer Verurtei­lung entzogen wurde.

Unterstützung für diese Wahlkandidatur oder auch in vielen anderen Angelegenhei­ten wird dringend benötigt. Zugleich bemüht sich die Gefangenengewerkschaft auch um weitere Kontakte zu Gefangenen, um sie in ihren Kämpfen zu unterstützen.

Monika Mokre ist Politikwissenschaftlerin und Mit­glied der Solidaritätsgruppe der Gefangenenge­werkschaft Österreich.

Martin Preisack, Mitglied der Solidaritätsgruppe der Gefangenengewerkschaft Österreich.

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Wir treffen uns jeden dritten Donnerstag im Monat (also z. B. am 18.10.) um 18 Uhr in der Migrating Kitchen.

Darüber hinaus veranstalten wir am 23. November um 19 Uhr eine Präsentation des »Handbuch Straf­vollzug – Fakten – Rechtsgrundlagen – Mustersammlung« mit dessen Autorinnen Johanna Schöch und Alexia Stuefer, eben­falls in der Migrating Kitchen.

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