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Die Lektor_innen an der Universität Wien haben nichts zu verlieren außer ihren Kettenverträgen

CHRISTIAN CARGNELLI UND ANTON TANTNER

Mehr als 7500 Beschäftigte zählen an der Universität Wien zum wissen­schaftlichen Personal, die große Mehrheit (je nach Berechnungsgrundlage 80 bis 90 Prozent) davon arbeitet unter prekären Bedingungen und ist befristet beschäftigt: Unter den unterschiedlichen an der Uni­versität Wien tätigen Wissenschafter_innen stellen die knapp 3000 Lehrbeauftragten (Lektor_innen) die größte Gruppe. Sie bestreiten 40 Prozent der Lehre – in man­chen Fächern bei weitem mehr –, ohne sie würde der Lehrbetrieb zusammenbrechen.

Dieser Unverzichtbarkeit zum Trotz: Dau­erhafte Perspektiven hat die Universitäts­leitung den wenigsten zu bieten, sie behan­delt die prekär Beschäftigten stattdessen nur zu oft als Verschubmaterial, als »Jong ­liermasse« (so das Originalzitat eines Rek­toratsmitglieds) – und zwar ohne, dass den Betroffenen irgendeine Aussicht auf eine Beendigung dieses nervenaufreibenden Zustands offenstände. Die meisten erhalten in der Regel jeweils nur semesterweise Ver­träge und dies oft nur im Ausmaß von zwei Semesterwochenstunden, die Zuteilung eines Lehrauftrags erfolgt in manchen Fäl­len knapp vor Semesterbeginn, eine Ver­tragsunterzeichnung zuweilen erst danach.

Rütteln an der »Kette«

Dazu kommt ein schwer durchschaubares Dickicht aus arbeits- und vertragsrechtli­chen Bestimmungen, verschärft durch die so genannte »Kettenvertragsregelung«, die nach sechs beziehungsweise acht Jahren Arbeit in befristeten Verhältnissen eine Weiterbeschäftigung untersagt; in der Pra­xis bedeutet dies für viele eine einjährige Unterbrechung ihrer Tätigkeit, bevor es mit den befristeten Verträgen wieder von vorne losgeht, sofern die Begeisterung für wissenschaftliche Tätigkeit noch immer vorhanden ist und sich nicht andere, attraktivere Erwerbsalternativen eröffnet haben.

Dabei gäbe es auch kurzfristig realisier­bare Linderungen dieses skandalösen Zustands, der der Qualität von Lehre und Forschung genauso abträglich ist, wie der Gesundheit der Betroffenen: Entfristungen von Lehraufträgen etwa, die auf einem bescheidenen Niveau planbare Perspekti­ven für die betroffenen Personen ermöglichen würden und für die es nicht einmal Gesetzesänderungen bräuchte, denn sie liegen in Verantwortung der Universi­tätsleitung. Derzeit kommt an der Uni­versität Wien eine überschaubare Menge von 48 Personen in den Genuss einer sol­chen Regelung, es müssten viel mehr sein. Die mittel- bis langfristige Perspek­tive sollte ohnehin sein, an Universitä­ten bedeutend mehr unbefristete, gut dotierte Arbeitsplätze einzurichten.

Was tun?

Trotz der von Gewerkschaften beklagten Schwierigkeit, Wissenschafter_innen zum kollektiven Einsatz für die Verbes­serung ihrer Arbeitsbedingungen zu bewegen – und an manchen anderen österreichischen Universitäten ist die Situation noch schlimmer, ganz zu schweigen von der Lage in Deutsch­land –, gibt es Organisierungsversuche der intellos précaires (Anne/Marine Ram­bach), wie die bereits 1996 anlässlich eines Unistreiks gegründete IG LektorIn­nen und WissensarbeiterInnen: Ihre Aktivist_innen haben sich in jahrelanger Arbeit Expertise im Paragraphendschun­gel angeeignet, sind im Betriebsrat der Uni Wien vertreten und können als niedrigschwellige Ansprechpersonen Anfragen und Beschwerden an die zuständigen Einrichtungen weiterleiten.

Die Zusammenkünfte der IG schaffen Diskussionsräume zum Erfahrungsaus­tausch und ermöglichen es, solidarische Forderungen auf universitärer, aber auch auf allgemein politischer Ebene zu erarbeiten, wie zum Beispiel in Form der über ig-elf.at abrufbaren Leitlinien. Alli­anzen mit anderen Organisierungen des Prekariats – mit Guy Standing verstan­den als in Entstehung begriffener Klasse – sind dabei willkommen!

Christian Cargnelli und Anton Tantner sind Vor­standsmitglieder der IG LektorInnen und WissensarbeiterInnen

Kanäle der IG LektorInnen:

Homepage: ig-elf.at

Twitter: @IGLektorInnen

facebook.com/IGLektorInnen

In Deutschland setzt sich das Netzwerk für Gute Arbeit in der Wissenschaft für das universitäre Prekariat ein:

mittelbau.net

@NGA_Wiss

VON MIRKO MESSNER

Plebiszit

Die KPÖ war noch in den Windeln, da musste sie in Kärnten bereits auf schwankendem Boden gehen lernen. Die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg bzw. nach dem Zerfall der Monar­chie war nicht nur geprägt von bitterer sozia­ler Not, sondern in Kärnten auch durch Ausei­nandersetzungen um die Grenze; der sloweni­sche Nationalrat reklamierte den überwiegend von Slowenischsprechenden bewohnten Süden des Landes für sich, d. h. für den neuen Staat der Serben, Kroaten und Slowenen. Die – ohne jede slowenische Vertretung konstitu­ierte – Kärntner Landesversammlung tat ihrerseits desgleichen und erklärte ihren Bei­tritt zum Staat Deutschösterreich. Die folgen­den Grenzscharmützel (von den einen als »Abwehrkampf«, den anderen als »Kampf um die Nordgrenze« bezeichnet) endeten mit einer Besetzung Klagenfurts durch serbische Truppen und mit der Terminisierung einer Volksabstimmung am 10. Oktober 1920.

Von einer eigenständigen Nationalitäten­politik konnte in dieser Frühphase der KPÖ keine Rede sein. Dazu fehlten das Wissen, die organisatorische und vor allem in Süd­kärnten die personelle Substanz – auch wenn die zentrale Persönlichkeit der jun­gen Kärntner KPÖ, der überaus agile Gregor Kersche, selbst aus einem Südkärntner slo­wenischen Dorf stammte (Sveče/Suet­schach) und die slowenische Sprache beherrschte. Die Arbeiterklasse in Kärnten, und das heißt auch die im slowenisch- oder zweisprachigen Gebiet, war politisch fest im Griff der (österreichischen) Sozialdemo­kratie. Diese wiederum segelte unter deutschnationaler Flagge, die slowenischen Industrie- und LandarbeiterInnen mit im Boot. Genau das war dann entscheidend für den Ausgang des Plebiszits; denn nur sie, die Sozialdemokratie, hatte den organisato­rischen und politischen Einfluss auf den besitzlosen Teil der Bevölkerung und somit die Fähigkeit, diesen für die Sicherung des Besitzstands anderer zu mobilisieren. Was sie denn auch tat: sie verband in ihrer ple­biszitären Propaganda das Schicksal der sozialen Reformen in Österreich mit dem Schicksal des deutschen Charakters des Landes. Auf diese Weise ermöglichte sie nicht nur den Ausgang des Plebizits zugunsten Österreichs, sondern legte einen Grundstein für die parteiübergreifende kul­turelle und politische Dominanz des Deutschnationalismus im Lande. Also einigte sich die KPÖ (oder einigte sich Ker­sche) in dieser Situation bezüglich Plebiszit mit den slowenischen Genossen auf jugosla­wischer Kärntner Seite (sprich im Mießtal) und mit der KP Jugoslawiens auf die Losung vom Boykott der Volksabstimmung. Das hatte zwar keine sichtbaren Folgen für die Beteiligung des Proletariats am Plebiszit, und es war auch kein Ausdruck einer stra­tegisch angelegten Nationalitätenpolitik. Für jene allerdings, die es damals wahrneh­men konnten und wollten, und aus heuti­ger Sicht war es ein mutiger selbständiger Standpunkt, eine Gehorsamverweigerung den nationalistischen Kärntner Spießern, ihren Korpssoldaten, dem Kartoffel- und Landadel gegenüber.

Erste Ansätze und Widerstand

Der erste ernsthafte Anlauf zu einer strate­gisch überlegten Nationalitätenpolitik war die im Jahre 1934 beschlossene gemeinsame Erklärung der italienischen, der jugoslawi­schen und der österreichischen KP zum Selbstbestimmungsrecht der Slowenen. Sie wurde von der Kommunistischen Interna­tionale angeregt, sprach den in drei (bzw. vier, zählt man Ungarn dazu) Staaten lebenden Slowenen das Recht auf Lostren­nung sowie auf ihre Vereinigung in einem gemeinsamen Staat zu. Darüber hinaus ver­pflichte sie die unterzeichnenden Parteien, sich dafür einzusetzen. Vermutlich war bei den Beratungen zu dieser Erklärung Gregor Kersche für die österreichische Partei ein­gebunden. Auf die konkrete Politik der KPÖ in Kärnten, die zu diesem Zeitpunkt bereits verboten war, hatte sie keine Auswirkung. Sie wurde nicht einmal in deutscher Spra­che veröffentlicht.

Eine völlig neue Situation ergab sich im Kampf gegen die Nazis, im opferreichen Widerstand der Kärntner KommunistInnen, im Kampf der slowenischen Partisanen und PartisanInnen, der Befreiungsfront, der slo­wenischen Antifaschistischen Frauenfront, der Jugendlichen und Frauen, die ihren Widerstand zu hunderten mit dem Leben bezahlten; hier soll in diesem Zusammen­hang allerdings nur der Aspekt der »Natio­nalitätenpolitik« benannt werden. Einige slowenische KärntnerInnen, geübt im Widerstand gegen den Deutschnationalis­mus, waren bereits vor dem Krieg zur KPÖ (Karl Prušnik, Blaž Kordež im Eisenkappler Gebiet) oder zur KP Sloweniens gestoßen (Matija Verdnik im Rosental); sie wurden gemeinsam mit anderen slowenischen Akti­vistInnen zu OrganisatorInnen des sloweni­schen antifaschistischen Widerstands und Volksbefreiungskampfes – jedoch unter der politischen Führung der slowenischen, nicht der österreichischen KP. Sie stützten sich dabei auf bereits vorhandene sloweni­sche kulturelle Netze, die die längste Zeit unter klerikal-christlicher politischer Dominanz gewirkt hatten. Nun gerieten diese aufgrund der Tätigkeit der Befrei­ungsfront – als Bauern, Keuschler, Mägde, Arbeiterinnen – in neue ideologische Fahr­wasser und entfremdeten sich den alten »nationalen«, auch antikommunistischen und den Nazis gegenüber abwartenden Führern so weit, dass von einem Bruch in der slowenischen politischen Kultur gesprochen werden kann.

Die slowenische KP verband den Kampf um die Befreiung von den deutschen Okkupanten mit dem Ziel der Vereinigung der slowenisch besiedelten Territorien in einem neuen, föderativen und volksdemo­kratischen bzw. sozialistischen Staat. Das würde die Angliederung Unterkärntens an den neuen sozialistischen Staat bedeuten, und von der slowenischen Befreiungsfront (OF) wurde das nach dem Krieg auch eine Zeitlang so betrieben. Doch auch die KPÖ hatte jetzt ihr antideutsches, österrei­chisch-nationales Programm, und ihre Ori­entierung auf die Wiederherstellung Öster­reichs in seinen Grenzen vor dem »Anschluss« – entsprechend der Moskauer Deklaration – stand im Widerspruch zur Orientierung der KPS bzw. der OF; das führte gegen Ende des Krieges zwar zu Rei­bereien, konnte aber überbrückt werden, indem die gemeinsame Orientierung auf den Kampf gegen die Hitlerei in den Vor­dergrund gerückt wurde. Nach dem Krieg teilte die KPÖ zwar nicht den Standpunkt der Befreiungsfront, duldete jedoch still­schweigend das diesbezügliche Engage­ment hunderter slowenischer Mitglieder, die der Partei beigetreten waren. Der Widerspruch in den nationalen Orientie­rungen wurde auf diese Weise gemanagt – aber nicht aufgehoben.

Desaster

Genau mit diesen aus dem antifaschisti­schen Widerstand zur KPÖ gestoßenen Menschen wurde 1948 im Kominform-Kon­flikt (volkstümlich: »Stalin-Tito-Konflikt«) gebrochen. Obwohl die KPÖ kein Mitglied des Kominform-Büros war, stellte sie sich auf den Boden der Bukarester Resolution. Mit dieser wurde die jugoslawische KP aus der kommunistischen Gemeinschaft ausge­schlossen. Die Begründungen hatten einen wesentlichen harten Kern: Die selbstbe­wusste jugoslawische KP wollte die Vor­mundschaft Stalins bzw. der KPdSU abschütteln. Hier ist nicht der Platz, die Hintergründe auszuleuchten (mehr dazu unter www.kpoe.at/ bund/dokumente/komin­form.htm), sondern lediglich, die Folgen für Kärnten anzureißen: Die Befreiungsfront lehnte den Führungsanspruch der KPÖ ab, ihre Mitglieder bezogen – was sonst – den jugoslawischen Standpunkt, wurden deswe­gen auf bizarre Weise öffentlich diffamiert, repräsentative Persönlichkeiten des sloweni­schen Widerstands (Karl Prušnik, Milena Grö­blacher und andere) wurden ausgeschlossen, Hunderte slowenische Mitglieder traten wie­der aus. Was sich unter großen Opfern an soli­darischer Beziehung im Widerstandskampf herausgebildet hatte, ging die Drau hinunter. Misstrauen, nationalistische Vorurteile und Vorbehalte griffen auch in der KPÖ wieder um sich (nicht nur in Kärnten, der Kominform-Konflikt wirkte sich auch in anderen Bundes­ländern aus), in der slowenischen Linken geschah spiegelbildlich Ähnliches.

Die prinzipielle, die Minderheitenschutzbe­stimmungen des Artikels 7 des Österrei­chischen Staatsvertrags, der ab 1955 zum Bezugspunkt auch der Kärntner slowenischen Politik wurde, befürwortende Haltung der KPÖ blieb erhalten; die Möglichkeit aber, die sich für sie aufgetan hatte, nämlich als Akteu­rin vor Ort eine über den »unterstützenden« Standpunkt hinausgehende, selbständige und von beiden nationalen bzw. sprachlichen Gruppen einheitlich getragene Nationalitäten­politik zu entwickeln, wurde gründlich ver­tan.

Neue Möglichkeit

Zwanzig Jahre später: eine neue, unerwartete Möglichkeit tut sich auf, verkörpert in der 68-er Generation der slowenischen SchülerInnen des Slowenischen Gymnasiums in Klagenfurt und der slowenischen StudentInnen. Diese rebelliert sowohl gegen die klerikale Domi­nanz in den Reihen des Lehrkörpers und des Personals in den Heimen, als auch gegen die politische Abstinenz der an ÖVP und SPÖ gebundenen slowenischen Vertretungsorgani­sationen und gegen die deutschnationale Dominanz im Land. Die in die müde sloweni­sche Szene krachend einbrechende Zeitschrift »Kladivo« organisierte und interpretierte breit angelegte »Aufschriftenaktionen«, d. h. die Verzweisprachlichung von Ortstafeln. Diese ließen zunächst die österreichische und dann – angesichts massiver polizeilicher und gerichtlicher Aktivität gegen slowenische AktivistInnen – auch die internationale Öffentlichkeit aufhorchen; die Regierung Kreisky kam unter Druck und verfügte die Aufstellung zweisprachiger Ortstafeln. Diese wurden umgehend vom deutschnationalen und rechtsextremen Mob unter Leitung des Kärntner Heimatdienstes und unter freundlicher Begleitung durch Polizei & Gendarmerie demontiert oder vernichtet. Unterdessen war die KPÖ mit ihren konse­quent mit dem Artikel 7 argumentierenden Standpunkten als einzige parteiliche Unter­stützerin ins Blickfeld der slowenischen AktivistInnen geraten. Nach dem »Ortsta­felsturm« streute sich ein Teil der Kladivo-Gruppe Asche aufs Haupt – die Aufschrif­tenaktionen hätten die Kärntner Arbeiter­klasse gespalten – und schloss sich aus Buße der maoistischen MLS an. Der zweite Teil der Gruppe dagegen trat der KPÖ bei und begann gemeinsam mit dem dritten Teil der Gruppe, mit Parteilosen und Links ­christlichen, am Aufbau des überparteili­chen, weltanschaulich bunten »Solidari­tätskomitees für die Rechte der Kärntner Slowenen« zu arbeiten. Dieses multipli­zierte sich in kurzer Zeit österreichweit und mobilisierte in erster Linie gegen die von den Kärntner Landtagsparteien und dem Heimatdienst geforderte Minderhei­tenfeststellung sowie für die Umsetzung der Minderheitenschutzbestimmungen und des antifaschistischen Auftrag des Staats­vertrags. Es ist hier kein Platz, die Vielfalt der politischen und kulturellen Tätigkeit in diesem Zusammenhang auch nur ansatz­weise zu referieren. Es soll folgende für das Thema entscheidende Feststellung genü­gen: Die konkrete, von slowenischen – nun­mehr auch kommunistischen – AktivistIn­nen initiierte, aber bald nicht nur von ihnen maßgeblich getragene Bündnispoli­tik entwickelte eine Dynamik, die den Rah­men traditioneller »Nationalitätenpolitik« sprengte. Die Landesorganisation der KPÖ wurde sehr bald mit dem Anspruch der jun­gen Mitglieder konfrontiert, eine selbstän­dige Programmatik und Politik in der soge­nannten »Minderheitenfrage« zu entwi­ckeln.

»Unterstützung« oder selbständige Politik

Dazu war die Parteiführung in Kärnten und in Wien allerdings nicht bereit; unter­schiedliche Positionen wuchsen sich zu Konflikten aus, z. B. in der Schulfrage: die GenossInnen der jüngeren Generation (nicht nur die mit Kladivo-Hintergrund) waren der Meinung, angesichts des sozia­len und nationalistischen Drucks auf die Eltern habe die KPÖ zweisprachigen Unter­richt für alle Kinder im zweisprachigen Gebiet einzufordern. Im Unterschied dazu verteidigte die Parteiführung die lahme Haltung der slowenischen Verbände und die Beibehaltung des Status quo (Anmelde­option für zweisprachigen Unterricht an den Volksschulen). Die immer schlimmere und umfassende Formen annehmenden Divergenzen – z. B. auch die innerparteili­che Demokratie, das berüchtigte Denken in »Haupt- und Nebenwidersprüchen« und das Parteiverständnis allgemein betreffend – sollten 1983 auf der Landes­konferenz in Ossiach geklärt werden. Was dann auch geschah, aber unter Zurückwei­sung der Positionen der Jungen.

Die Folgen waren dramatisch; die KPÖ verlor nicht nur den Großteil der jungen (nicht nur slowenischen) AktivistInnen, die austraten, ihre Mitgliedschaft ruhend stell­ten, politisch inaktiv oder anderswo aktiv wurden. Die Partei verlor damit auch die Möglichkeit, politisch zu ernten, was sie in den Jahren der Solidaritätsbewegung gesät und gelernt hatte. Voraussetzung dafür allerdings wäre gewesen, dass die Partei­führung bzw. die KPÖ ihren Standpunkt der »Unterstützung« berechtigter Forde­rungen der slowenischen Organisationen weiterentwickelt und die – ich nenne es hier einmal so – interkulturelle Nationali­tätenpolitik in die eigene Agenda über­nommen, d. h. zur eigenen Sache, zum Teil des eigenen Programms gemacht hätte. Das wurde erst nach der Erneuerung der KPÖ möglich.

Heute besteht die Herausforderung an die Theorie und die Praxis der Partei, auch die Minderheiten- bzw. Nationalitätenpoli­tik so wie andere Politikfelder in eine österreichische, europäische und globale Perspektive zu integrieren, die keinerlei Trennnung des Sozialen vom Ökologischen und Menschenrechtlichen zulässt; vor dem Hintergrund des nationalistischen und ras­sistischen Booms (nicht nur) in Europa ist dieses integrierende Denken und Handeln eine Überlebensfrage der klassenbezoge­nen, von den Interessen der Werktätigen ausgehenden Politik und Zivilisation.

Das Ende des ersten Weltkriegs brachte auch das Ende der Donaumonarchie mit sich. Ein auch oft in der Schule tradiertes simplifiziertes Geschichtsbild geht dabei von einer stringenten Entwicklung hin zur parla­mentarischen Demokratie aus. Dass es nicht so einfach ist und es auch eine Bewegung hin zur Rätedemokratie gab, schildert Autor ROBERT FOLTIN.

Wie die Veränderungen 1918/1919 bezeichnet werden, ist von der jewei­ligen Position abhängig. Konservative und deutschnationale Quellen betonen den Umsturz, den Zerfall der Monarchie. Sozial­demokrat_innen sehen in den Ereignissen eine Revolution, weil sich die staatliche Verfassung grundlegend änderte. Kommu­nist_innen erkennen höchstens so etwas wie eine Westentaschenrevolution.

In der Einbeziehung der Bevölkerung war die »österreichische Revolution« zumindest kurzfristig mehr als der Austausch von Eli­ten. In den Streiks, Hungerrevolten und schließlich im Zerfall der Armee entstan­den in den »Arbeiter- und Soldatenräten« Strukturen, die, obwohl von der Sozialde­mokratie benutzt, in denen sich das Poten­tial der Selbstorganisation der Massen zeig­ten. Der Kommunismus/Bolschewismus sprach zwar immer wieder von den Räten, stellte aber doch die Partei darüber.

Die österreichische Revolution begann mit den von Frauen getragenen Hungerun­ruhen im Winter 1916/1917, ab dem Früh­jahr 1917 durch große Streiks ergänzt. Die revolutionäre Phase fiel mit den russischen Revolutionen im März und im Oktober 1917 zusammen. In den Betrieben bildeten sich spontane Streikkomitees, eine ausgeprägte überbetriebliche Form bekamen sie erst im Jännerstreik von 14. bis 21. Jänner 1918.

Die Friedensverhandlungen mit den Bol­schewiki in Brest-Litowsk drohten gerade wegen der intransigenten Haltung der deutschen Militärs zu scheitern, als in Wie­ner Neustadt wegen der Verringerung der Lebensmittelrationen Streiks ausbrachen. Sie breiteten sich zuerst im Industrievier­tel, im Anschluss daran auf Wien aus. Ein paar Tage später standen 550.000 Arbei­ter_innen in der österreichischen und 200.000 in der ungarischen Reichshälfte im Ausstand. Sofort bildeten sich Streikkomi­tees, in Wien beförderte das die Sozialde­mokratie, indem sie ihre Vertrauensleute in den Betrieben dazu aufrief, sich an den »Arbeiterräten« zu beteiligen. Mit dem Argument der Vereinheitlichung wurden die vielfältigen Forderungen mit den Schwerpunkten Frieden und Brot auf vier beschränkt: 1) Der Frieden von Brest-Litowsk darf nicht an irgendwelchen terri­torialen Forderungen scheitern. 2) die Reorganisation des Verpflegungsdienstes. 3) gleiches und direktes Wahlrecht auf Gemeindeebene auch für Frauen. 4) Entmi­litarisierung der Betriebe. Der Wiener Arbeiterrat beschloss unter dem Einfluss der sozialdemokratischen Funktionär_ innen den Abbruch der Streiks, angeblich als siegreich, tatsächlich aber ohne kon­krete Ergebnisse. Den Regierenden waren von sozialdemokratischen Funktionär_ innen vage »Zusagen« in den Mund gelegt worden. Es dauerte schließlich bis zum 24. Jänner, bis sich das Ende der Streiks in allen Betrieben durchsetzen ließ.

Dass ein Ausstieg aus dem Krieg möglich gewesen wäre, zeigten der Januarstreik am Ende des Monats in Deutschland, besonders aber das Übergreifen der Revolten auf die Armee, am bekanntesten davon der Matro­senaufstand von Cattaro.

Waren die Arbeiterräte in den Streiks großteils selbstorganisiert entstanden, so wurden sie in den Tagen darauf institutio­nalisiert. Nur noch Mitglieder von Partei und Gewerkschaft, sowie Abonnent_innen der »Arbeiterzeitung« (AZ) galten als wähl­bar.

Im Herbst zerbrach in wenigen Wochen die Monarchie, die unterschiedlichen Nationen gründeten sich, die Armee löste sich auf, zuerst im Hinterland, dann in der Etappe und schließlich auch an den Fron­ten. Österreich-Ungarn sah sich zu einem Friedensschluss gezwungen, der am 4. November 1918 in Kraft trat. Durch ein Missverständnis darüber, dass der Frieden um 24 Stunden früher eintreten sollte, gerieten noch 100.000 Soldaten in Gefan­genschaft.

Wenn herrschende Regime verschwinden und die Repression wirkungslos wird, orga­nisieren sich die Menschen in »demokrati­scheren« Strukturen als dem Parlamenta­rismus, in den Räten. In den Kasernen wur­den Soldatenräte gewählt.

Zugleich formierte sich in Wien wieder die Staatsmacht. Die noch vor dem Krieg nach dem Männerwahlrecht gewählten Reichstagsabgeordneten, Christlichsoziale, Deutschnationale und Sozialdemokraten, bildeten am 21. Oktober 1918 eine proviso­rische Nationalversammlung. Am 30. Okto­ber 1918 wurde ein »Staatsrat« als deutsch­österreichische Regierung eingesetzt, am 12. November 1918 die Republik Deutsch­österreich ausgerufen. Obwohl die Ressorts aufgeteilt waren, erhielt durch die revolu­tionäre Stimmung die Sozialdemokratie den entscheidenden Einfluss. Dass die Mas­sendemonstrationen am Tag der Republik­gründung von einer Schießerei der Roten Garde begleitet wurden, zeigt von der Unsi­cherheit der Lage.

Am Freitag, den 1. November wurde diese Rote Garde »zur Verteidigung des Proleta­riats« gegründet, als Antwort darauf rief die Sozialdemokratie mit Unterstützung der bürgerlichen Parteien dazu auf, sich zur »Volkswehr« als zukünftiger provisori­schen Armee des neuen Staates zu melden. Diese Volkswehr war eine wirklich proleta­rische Organisation, die oberste Entschei­dung lag bei den von der Mannschaft gewählten Soldatenräten, die Kommandan­ten hatten nur mehr eingeschränkte Auto­rität. Die Rote Garde wurde Teil der Volks­wehr, um sie unter Kontrolle zu bringen, aber auch als notwendiges Gegengewicht, sollten sich doch zu viele Reaktionäre frei­willig zu dieser neuen Armee melden. Die Rote Garde bestand bis in den August 1919 und war eher eine revolutionäre Drohung als eine echte Gefahr. Die Volkswehr funk­tionierte bei Unruhen beruhigend und aus­gleichend, der Polizei wurde nicht mehr vertraut, meistens führte allein ihre Anwe­senheit zur Eskalation.

In diesem revolutionären Herbst gründe­ten sich zwei Organisationen, die die Ver­hältnisse umwerfen wollten. Am 3. Novem­ber erklärte sich eine Gruppe von ungefähr 40 Personen zur KPDÖ (Kommunistische Partei Deutschösterreichs, später KPÖ), Ende November entstand die Föderation Revolutionärer Sozialisten »Internationale« (F.R.S.I.). Letztere hatte maßgeblichen Ein­fluss in der Roten Garde und der Volkswehr sowie unter den Arbeitslosen. Die Bedeu­tung der KP stieg erst nach dem Winter, viele Heimkehrer aus Russland hatten sich angeschlossen, zahlenmäßig bedeutend wurde sie (kurzfristig) nach der Ausrufung der ungarischen Räterepublik.

Die Parlamentswahlen am 16. Februar 1919 machten die Sozialdemokratie zur stärksten Partei. Der provisorische Staats­rat wurde als Regierung durch eine Koali­tion aus Sozialdemokratie und Christlichso­zialen abgelöst.

Die Arbeiterräte hatten durch ihre Insti­tutionalisierung bis Anfang 1919 kaum eine Bedeutung. Die Veränderung der Struktur des Proletariats nach dem Ende der Kriegs­industrie, die Umstellung auf Friedenspro­duktion, sowie das Hinausdrängen von Frauen aus den Fabriken, erforderte eine Neuwahl der Arbeiterräte. Im März wurde beschlossen, dass Mitglieder sozialistischer Parteien, nicht nur Sozialdemokrat_innen, wählbar sind. Diese Wahlen, an den sich allein in Wien 500.000 Arbeiter_innen beteiligten, waren der direktdemokratische Ausdruck eines Teils der Bevölkerung, des Proletariats. Vieles, beispielsweise wer überhaupt dazu gezählt werden sollte, wie etwa »proletarische Hausfrauen« oder Arbeitslose, blieb ungeklärt.

Im Frühjahr 1919 schien die Revolution in greifbare Nähe zu rücken: am 21. März 1919 wurde in Ungarn eine Räterepublik ausge­rufen, am 6. April 1919 in Bayern. Die Eisenbahner_innen streikten und erkämpf­ten Lohnerhöhungen. Einige Betriebe wur­den »wild sozialisiert«, es wurde versucht, sie in Selbstverwaltung weiter zu führen. Fast täglich demonstrierten Heimkehrer, Invalide und Arbeitslose für bessere Lebensbedingungen, sowie in Solidarität mit Ungarn für eine Räterepublik. Am 17. April 1919, dem Gründonnerstag, bela­gerten Demonstrant_innen das Parlament und zündeten es an, fünf Wachmänner und eine Passantin wurden getötet, erst am Abend konnte die Volkswehr den Frieden wieder herstellen. Es war zwar eine Min­derheit, die demonstrierte, aber es bestand die Gefahr, dass sich die Revolten ausbrei­teten. Das Proletariat fühlte zwar sozialde­mokratisch, wünschte sich aber auch eine Revolution.

Eine große Anzahl von Reformen besänf­tigte die Revoltierenden: Arbeitslosenun­terstützung, Acht-Stunden-Tag, das Ende der Vorrechte des Adels und die Enteig­nung der Habsburger (Invalide und Kinder wurden in Schönbrunn untergebracht), die Beschlagnahme von Wohnungen und eini­ges mehr.

Ein angeblicher Revolutionsversuch durch die KP, in der sich inzwischen die F.R.S.I. aufgelöst hatte, scheiterte am 15. Juni 1919. Für diesen Tag wurde zu einer bewaffneten Demonstration gegen die von der Entente verlangte Reduzierung der Volkswehr aufgerufen. Der Abbau wurde verschoben. Obwohl eine Versammlung am Vorabend eine Erklärung beschließen wollte, dass die Kundgebung nur ein friedli­ches Zeichen wäre, wurden alle anwesen­den 122 Kommunist_innen verhaftet. Einige Tausend demonstrierten am nächs­ten Tag gegen die Verhaftungen, die Stadt­wache eröffnete in der Hörlgasse das Feuer, zwanzig Demonstrant_innen starben sofort oder erlagen in den nächsten Tagen ihren Verletzungen.

Auch wenn die Möglichkeit zu einer Aus­rufung einer Räterepublik vorbei war, die bairische und die ungarische Räterepublik wurden zerschlagen, hatten die Arbeiter­räte in Zusammenarbeit mit der Volkswehr im Sommer 1919 die größte Bedeutung. Wohnen und Ernährung bestimmten ihre Aktivitäten: Beschlagnahme von Großwoh­nungen für Wohnungslose, Verhinderung von Delogierungen, Bekämpfung des Schleichhandels, die Verteilung von Lebensmitteln und einiges mehr.

Danach schwand die Bedeutung der Räte. Für die Sozialdemokratie war die Selbstor­ganisation der Arbeiter_innen immer nur eine Ergänzung zum Parlamentarismus. Das staatliche Regime funktionierte wieder, in den Fabriken übernahmen die Betriebsräte die Funktion der Arbeiterräte (eine konsti­tutionelle statt einer absoluten Monarchie, aber keine Demokratie), die Aktivitäten im Reproduktionssektor übernahmen wieder staatliche Organe. Der revolutionäre Pro­zess war vorbei, die »Arbeiterräte« lösten sich schließlich sang- und klanglos auf.

LITERATUR:

Hautmann, Hans (1987): Geschichte der Rätebewe­gung in Österreich 1918–1924. Wien/Frankfurt/ Zürich: Europaverlag (das wichtigste und genaueste Buch über die Rätebewegung in Österreich).

Peter Haumer (2018): Geschichte der F.R.S.I. Die Föderation Revolutionärer Sozialisten »Internatio­nale« und die österreichische Revolution 1918/1919. Wien: mandelbaum kritik & utopie (aus der Per­spektive einer »autonomen« Arbeiter_innenbewe­gung, der F.R.S.I.).

»Österreich ist eine demokratische Republik. Ihr Recht geht vom Volk aus.« (Art. 1 BV-G) Der 2. Satz der gel­tenden Bundesverfassung geht auf Hans Kelsen zurück, der damit den Staat explizit mit dem Recht und nicht mit der traditionellen Gewaltterminologie identifiziert (Theo Öllinger). Die praktische Umsetzung der sozialen Rechte garantierten in den ersten Jahren wesentlich die Soldatenräte, bis die Vertretungsorgane der ArbeiterIn­nen gesetzlich verankert und soziale Errungenschaften bis in die Gegenwart unangetastet blieben.

FRIEDL GARSCHA zum 100. Gründungstag der Republik

Fast eine Revolution

Als 12. November 1918 proklamierten die Präsidenten der Provisorischen National­versammlung vor dem Parlamentsge­bäude die Republik. Die deutschsprachi­gen Abgeordneten des »Reichsrats« (des Parlaments der österreichischen Reichs­hälfte der Monarchie) hatten sich zuvor, am 21. Oktober, als Provisorische Natio­nalversammlung konstituiert, um einen neuen Staat – »Deutsch-Österreich« – zu schaffen, nachdem absehbar wurde, dass mit der bevorstehenden Niederlage im Krieg auch die Habsburger-Monarchie auseinanderbrechen werde. Parallel dazu hatte die kaiserliche Regierung weiter bestanden, die den Waffenstillstand vom 3. November schloss. Am 11. November verzichtete Kaiser Karl zwar auf die Regie­rungsgeschäfte, trat aber nicht zurück, um die Fiktion des Fortbestands der Monar­chie aufrechtzuerhalten – er hat 1921 zweimal von Ungarn aus versucht, sich wieder an die Macht zu putschen.

Der österreichische Staatsrechtler Hans Kelsen hat mehrfach darauf hingewiesen, dass der neue Staat nicht in Form einer Übertragung der Macht durch den alten Staat entstand, sondern einen »Bruch der Rechtskontinuität« darstellte. Der Führer der Sozialdemokratie, Otto Bauer, nannte seine Analyse der Gründungsjahre der Republik »Die österreichische Revolu­tion«. Die Reichsratsabgeordneten mit Karl Renner an der Spitze, die die Repu­blik ausriefen, waren jedoch keine Revolu­tionäre. Sie schufen zwar neue, republika­nische Instanzen, doch die Verwaltung der Republik baute auf dem kaiserlichen Beamtenapparat auf.

1932 veröffentlichte der Berliner Schriftsteller Theodor Plievier, am Ende des Ersten Weltkriegs führender Teilneh­mer des Kieler Matrosenaufstandes, im kommunistischen Malik-Verlag sein Buch »Der Kaiser ging, die Generäle blieben«. Der Titel des Romans verwies auf das Dilemma der revolutionären Umwälzung in Deutschland 1918/19: Die militärische Macht war in den Händen der Reaktion geblieben. In Österreich hingegen war die k.u.k. Armee zerfallen, die aus ihr entstan­dene »Volkswehr« knüpfte an revolutio­nären Traditionen an. Es dauerte fast ein Jahrzehnt, bis das aus ihr hervorgegan­gene Bundesheer zu einem verlässlichen Instrument der bürgerlichen Staatsmacht wurde. Der Wiener Universitätsprofessor Adam Wandruszka spöttelte in den 1970er Jahren in seinen Vorlesungen, für Öster­reich müsse man Pliviers Buchtitel abwan­deln: »Der Hof ging, die Hofräte blieben.«

Die Rätebewegung

Doch parallel zum kaiserlichen Beamten­apparat und den Institutionen bürgerlich-parlamentarischer Mitbestimmung waren seit 1918 neue Formen der Vertretung von Arbeiterinteressen entstanden, die sich an den russischen Sowjets orientier­ten und, auf lokaler Ebene, Ansätze entwi­ckelten, zu Organen einer proletarischer Gegenmacht zu werden. Im Gegensatz zu Otto Bauers Einschätzung, es habe 1918–1920 ein »Gleichgewicht der Klas­senkräfte« bestanden, war es den von der Sozialdemokratie beherrschten Arbeiter­räten allerdings nie gelungen, tatsächlich die bürgerliche Macht im Staat in Frage zu stellen; eine Ausnahme bildete das Militär – die Soldatenräte garantierten während der revolutionären Periode in den ersten Jahren der Republik, dass das die Armee nicht, wie in Deutschland, gegen die Arbeiterschaft eingesetzt wer­den konnte.

Was die Arbeiterräte leisteten, fasste Hans Hautmann in seinem 1987 erschie­nenen Standardwerk zu diesem Thema so zusammen: »... die nach gehorteten Lebensmitteln fahndenden, die Schleich­handelsbestände an die Notleidenden ver­teilenden, freien Wohnraum zur Anzeige bringenden, hungernde Kinder tatkräftig unterstützenden, Waffen- und Munitions­lieferungen an konterrevolutionäre Staa­ten hintanhaltenden, jeden Auskunftssu­chenden und Bittstellenden in sozialen Angelegenheiten kostenlos beratenden Räteorgane der österreichischen Revolu­tion [waren] eine wahrlich einmalige Erscheinung in der Geschichte unseres Landes, die sich in die beste Tradition des­sen einreiht, was man gesunde Initiative erwachter und selbstbewußter Arbeiter­massen nennen kann« (Geschichte der Rätebewegung in Österreich 1918–1924, Seite 680)

Demokratie und Sozialreform

Am Beginn der neugegründeten Republik standen Änderungen in der Sphäre des Rechts, die Hoffnungen auf einen tatsäch­lichen revolutionären Neubeginn weck­ten.

Die als Provisorische Nationalversamm­lung tagenden Männer beschlossen am 12. November als eines ihrer ersten Gesetze ein neues Wahlrecht, mit dem sie der bis dahin von der demokratischen Mitbestim­mung ausgeschlossenen weiblichen Hälfte der Bevölkerung das aktive und passive Wahlrecht zuerkannten. Den Hintergrund hierfür bildete die Erfahrung der massen­haften Einbeziehung der Frauen in die industrielle Produktion während des Krie­ges und die Tatsache, dass die es waren, die angesichts des Versagens der Nah­rungsmittelversorgung der Bevölkerung durch die k.u.k.-Behörden das Überleben der Menschen gesichert hatten.

Die Abschaffung der Todesstrafe im April 1919 fand 1920 auch Eingang in die neue Verfassung. Hintergrund war die Abscheu, welche die exzessive Anwen­dung der Todesstrafe, selbst gegen Min­derjährige, durch die k.u.k. Militärjustiz in Galizien und Serbien erzeugt hatte.

Die sozialen Errungenschaften der Jahre 1918 bis 1920 umfassten die Einführung des Achtstundentages und des bezahlten Urlaubs, die Ausweitung der Arbeitslosen­versicherung, das Betriebsrätegesetz, die Einführung von Kollektivverträgen, die Errichtung der Arbeiterkammern und andere mehr. Hervorzuheben ist, dass dieses gewaltige Reformwerk – das in den darauffolgenden Jahren im »Roten Wien« seine Fortsetzung fand – in einer Zeit beschlossen und umgesetzt wurde, in wel­cher die staatlichen Finanzen durch den Krieg zerrüttet war, die Mehrheit der Bevölkerung Hunger litt und die Spani­sche Grippe Zehntausende Menschenle­ben forderte. Die Vorstellung, dass der Sozialstaat »zu teuer« sei, blieb Zeiten vorbehalten, in denen der gesellschaft liche Reichtum sich vertausendfacht hatte.

Kriegslärm

Die Geräusche unserer Schritte und das sanfte Knacken der trockenen Äste unter unseren Schuhen werden jäh unterbro­chen. Mit einem ohrenbetäubenden Geräusch ziehen Kampfflugzeuge über uns hinweg, gestartet vom nahgelegenen Truppenübungsplatz Allentsteig. Plötzlich kommen uns im friedlichen Waldviertel Gedanken an all die vielen Kriege, die der­zeit im Gang sind. Wir stellen uns die Angst der Menschen vor, über die Flug­zeuge fliegen und ihre Bomben auf sie werfen. Wir denken an die Demonstratio­nen zur Abschaffung des Bundesheeres, an das Anti-Bundesheer-Volksbegehren in den 70er-Jahren – und an Bob Dylan’s Master of wars: »Komm du Meister des Krieges, der du die großen Kanonen baust, der du die großen Flugzeuge baust, der du all die Bomben baust, der du dich hinter Mauern versteckst, der du dich hinter Schreibtischen versteckst … und du machst dich aus dem Staub, wenn die Kugeln fliegen …«

Ein totsicheres Geschäft

Im Zusammenhang mit der Waffenpro­duktion stellen sich immer wieder Fragen: Gäbe es ohne die Rüstungsindustrie keine Kriege mehr? Gäbe es ohne die Lieferan­ten der Waffen eine friedlichere Welt ohne Amoklauf, Bandenkämpfe, Morde? Statistiken zeigen jedenfalls, dass es dort, wo weniger Waffen verfügbar sind, weniger Tote durch Waffengewalt gibt. Damit die Waffenproduzenten nicht auf ihren Erzeug­nissen sitzen bleiben, braucht es aber die Politik.

Politik und Waffenindustrie ergänzen einander. Zumindest eine Politik, mit geopo­litischen Interessen, eine Politik, die Men­schen gegeneinander aufhetzt, um ihre Macht zu erhalten. Es braucht Bedrohungs­szenarien, Nationalismus und Feindbilder. Die Rüstungsindustrie und Waffenproduk­tion hat kein Interesse an einer anderen Poli­tik. Ihr geht es ums Geschäft. Krupp lieferte im 2. Weltkrieg Waffen an Hitlerdeutschland und an die USA.

Österreichischer Exportschlager

Im kleinen Deutsch-Wagram in Niederöster­reich ist der Firmensitz des Marktführers unter den Handfeuerwaffenproduzenten, die Firma Glock. Hauptabnehmer der berühmten Glock-Pistole ist die USA. Dort tragen Zivilis­ten, Polizisten, Justizwachebeamte und Amokläufer Glock-Pistolen. Glock-Pistolen sind aber auch in allen Kriegs- und Krisenge­bieten im Einsatz. Jede Woche verlassen etwa 30.000 dieser Handfeuerwaffen die Produkti­onsstätten. Glock ist eines der 100 Unterneh­men der Waffen- und Munitionsproduktion in Österreich, die etwa 1,5 Milliarden Euro im Jahr erwirtschaften. Und sie schaffen Arbeitsplätze. »Als 2007 der Firma Glock der Export von Pistolen in den Irak untersagt wurde, drohte das Unternehmen, seine Pro­duktion in die USA zu verlagern – schon war die Genehmigung erteilt«1

Beste Freunde

In Kärnten residiert Gaston Glock, einer der Masters of war, Herr über ein weltweit agie­rendes Firmennetzwerk. Entscheidend für einen Waffenproduzenten sind die Exportge­nehmigungsverfahren. Es wäre ja nicht wei­ter schlimm, wenn FPÖ-PolitikerInnen bei den regelmäßig veranstalteten Springreit­tournieren der Familie Glock anwesend sind – wie Strache, Hofer und Hartinger-Klein im Februar bzw. Juni dieses Jahres. Jetzt, wo die FPÖ in der Regierung sitzt, sind die engen Verflechtungen zur Firma Glock, die schon auf die Ära Haider zurückgehen,

1 Christof Mackinger in Augustin Nr. 467, S 8

Ein christlich-marxistischer Arbeitskreis versucht auszuloten, welche Wege man gemeinsam gehen kann für eine bessere Welt.

Ein Portrait von PETER FLEISSNER

Seit mehr als 10 Jahren wird im Rahmen des christlich-marxistischen Arbeits­kreises, der im Albert-Schweitzer-Haus der Evangelischen Kirche in der Evangelischen Akademie stattfindet, der Dialog zwischen Menschen unterschiedlicher Weltanschau­ung erprobt und geübt. Der Arbeitskreis setzt Versuche fort, die bereits in den 1960er Jahren begonnen haben. Promi­nente Vertreter dieses Dialogs waren etwa der evangelisch-lutherische Theologe Johannes Dantine und der Historiker Ulrich Trinks, beide langjährige Leiter der Evange­lischen Akademie Wien, der Wiener Philo­soph Walter Hollitscher, Mitglied des Zen­tralkomitees der KPÖ, und der Theologe Rudolf Weiler, Professor für Sozialethik an der katholisch-theologischen Fakultät der Universität Wien. Damals war allein schon die Vorstellung einer Annäherung zwi­schen ChristInnen und MarxistInnen für viele ein Sakrileg, und das nicht nur von christlicher Seite. Mit dem Ende des Real ­sozialismus, der für manche KatholikInnen als Inbegriff des Bösen angesehen und von einzelnen katholischen Gruppen durch Gebet und Spenden bekämpft worden war, entspannten sich die Voraussetzungen für den Dialog. Auch die Theologie der Befrei­ung erhielt in den letzten Jahrzehnten in kirchlichen und linken Kreisen verstärkte Anerkennung.

Der christlich-marxistische Arbeitskreis ist offen für TeilnehmerInnen aus den unterschiedlichsten Lebensbereichen. Er will weniger hochtheologische und philoso­phische Auseinandersetzungen führen, sondern versucht auszuloten, wie die auf weite Strecken gemeinsamen Vorstellun­gen von einer besseren Welt entwickelt und Praxis werden könnten. Zunächst wurden Kerntexte christlicher oder linker Prove­nienz gemeinsam gelesen und diskutiert. TheologInnen und MarxistInnen brachten ihre Einsichten in den Diskurs ein. Im Lauf der Jahre beschäftigte sich der Arbeitskreis stärker mit politischen und ökonomischen Fragen unserer Zeit. Immer wieder wurden und werden VertreterInnen von Initiativen für ein besseres Leben in Österreich einge­laden, die über ihre Arbeit sprechen und ihre Ergebnisse zur Diskussion stellen. Wie­derholt befasste sich der Arbeitskreis mit dem Für und Wider zu einem bedingungslo­sen Grundeinkommen und Ansätzen zu sei­ner Verwirklichung. Große Aufmerksam­keit fanden das Handschreiben Evangelii Gaudium und die Umweltenzyklika Laudato si’ von Papst Franziskus, der in deutlichen Worten die Verzerrungen unserer Gesell­schaft in Bezug auf Menschlichkeit, Umwelt, Gesundheit und Soziales aufzeigt. Trotz unterschiedlicher theoretischer Grundlagen führen die Formulierungen aus dem Kommunistischen Manifest und den Tex­ten von Papst Franziskus zu ähnlichen kon­kreten Schlussfolgerungen. Viele Mitglie­der des Arbeitskreises beteiligten sich an den Diskussionsprozessen zum »Sozial­wort« und »Sozialwort 10+«, zu dem der Ökumenische Rat der Kirchen in Österreich eingeladen hatte. Viel bleibt in diesem Dia­log noch zu tun, und der ArbeiterInnen sind wenige.

Von 5. bis 7. Oktober 2018 fand unter dem Motto »Sich selbst verändern. Die Welt verändern!« die nunmehr 3. Marxismus-Feminismus-Konferenz in Lund in Schwe­den statt. Etwa 250 Teilnehmer_innen, Theoretiker_innen und Aktivist_innen aus allen Teilen der Welt fanden sich ein, um die im Jahr 2015 mit der 1. MF-Konfe­renz (damals in Berlin) von Frigga Haug und ihren Mitstreiterinnen im Institut für kritische Theorie begründete Tradition weiterzutragen. Als Hauptrednerinnen konnte die Konferenz, neben Frigga Haug selbst, mit Gayatri Spivak, Heidi Hart­mann und Nikita Dhawan aufwarten. Außerdem wurde eine Fülle an interessanten Workshops – viele davon parallel – geboten. Der Bericht von HILDE GRAMMEL kann freilich nur eine Auswahl davon näher besprechen.

Neben dem Motto der Konferenz »Sich selbst verändern. Die Welt verändern!« waren die Workshops den Themen »Soziale Reproduktion und Care«, »Alternativen«, »Feministische Kämpfe und Solidarität«, »Orte der Unterdrückung und Mittel zur Emanzipation«, »Frauenbewegungen, -organisationen und Widerstand«, »Verge­schlechtlichte und rassifizierte Körper bei der Arbeit« sowie »Sozialer Reproduktions­feminismus: die Verbindungen zwischen Unterdrückung und Ausbeutung« gewid­met. Gesponsert und organisiert wurde die Konferenz von transform! europe, der Rosa Luxemburg-Stiftung, der Universität Lund, der dortigen Genderabteilung und durch eine Privatspende von Gayatri Spivak.

Gleich vorweg: Was die schwedische Kon­ferenz von den bisherigen unterschied, ist das große Augenmerk, das auf partizipative didaktische Methoden (zum Beispiel Welt­café, Fischbowl, Erinnerungsarbeit, kollek­tives Mapping, Kleingruppendiskussion) bei der Workshop-Gestaltung gelegt wurde, sodass es leicht fiel, sich einzubringen. Ein Unterschied zu den vorherigen Konferen­zen war außerdem, dass die Vorträge nicht aufgezeichnet wurden, weshalb sie auch nicht online zur Verfügung stehen.

Gayatri Spivak, Verkörperung der kriti­schen Weltbürgerin par excellence, sprach unter anderem die Empfehlung aus, dass Migration im Zusammenhang mit Umver­teilung diskutiert werden muss und nicht wie bisher in der EU üblich, unter den Aspekten von Kultur und Rassismus. Man kann nicht über Menschenwürde sprechen, wenn es keine soziale Sicher­heit gibt. Wäh­rend das echte Problem der Subalternität darin besteht, dass die Betroffenen meinen, ihr Elend sei »normal«, gilt es ihren Willen zu sozialer Gerechtigkeit zu ent­zünden, was nur durch Bildung und intel­lektuelle Anstrengung geschehen kann. Sonst würden Menschen bloß als Stimm­vieh missbraucht, was ein echtes Problem von Demokratie darstellt, wobei Spivak die Vorenthaltung von Bildung (für Arbei­tende, für Frauen) als Herrschaftsstrategie identifiziert.

Heidi Hartmann, vor 32 Jahren Mitbe­gründerin des »Institute for Women’s Policy Research« in Washington, D.C. (www.iwpr.org), einer Einrichtung, die die ökonomische Situation von Frauen unter­sucht, berichtete über die Anfänge ihrer Institution und den Einfluss von dort gefer­tigten Studien (etwa zur Erwerbsarbeit von Frauen) auf konkrete Politik. Beispielsweise würde es in den USA ohne eine bahnbre­chende Studie des IWPR keinen bezahlten Elternurlaub geben. Interessant auch, dass US-amerikanische Frauen, oftmals mit höherer Bildung, weniger Stunden lohnar­beiten, damit sie nicht mehr verdienen als ihre Ehemänner, was deren Männlichkeit unterminieren würde. Bereits 1979 hatte Hartmann mit ihrem Essay »The Unhappy Marriage between Marxism and Feminism: Towards a More Progressive Union« auf die blinden Flecken beider Analyseinstrumen­tarien hingewiesen.

Nikita Dhawans Vortrag, sowohl in per­formativer als auch inhaltlicher Hinsicht ein Höhepunkt der Konferenz, befasste sich mit der Frage, wie unter den neuen globa­len Gegebenheiten und vor dem Hinter­grund von »Empathie-Erschöpfung« so etwas wie feministische Solidarität entste­hen könnte. Schließlich gibt es ja inzwi­schen eine, wenngleich noch immer aus höchst selektiv präsentierten Nachrichten bestehende »globale Öffentlichkeit« und frau sollte meinen, dass eine Verletzung von Grundrechten in einem Teil der Welt die ganze Welt betrifft. Unsere Komplizen­schaft mit den Strukturen anzuerkennen, die wir bekämpfen, ist ein erster Schritt, ein nächster aber, den Staat und seine Institutionen für die eigene Politik der Ver­änderung zu besetzen und nutzbar zu machen, damit der Staat zur »Medizin« für die Gesellschaft werden kann und nicht wie jetzt, weiterhin ein »Gift« ist.

Der Vortrag von Frigga Haug erläuterte die drei ersten ihrer insgesamt 13 Thesen des Marxismus-Feminismus, die sie bereits in den früheren Konferenzen vorgelegt hatte. Das betreffende Papier soll weiter geschrieben und zu einem Grundlagentext des MF verdichtet werden. Zentral für Haug ist die Weiterentwicklung des Marxschen Begriffs der Produktionsverhältnisse, wobei die »Produktion des Lebens« mit der »Pro­duktion der Lebensmittel« als zusammen­wirkend gedacht werden muss (im Gegen­satz zur traditionell einseitigen Gewichtung auf die Produktion der Lebensmittel durch die Arbeiterbewegung). Eingehend unter­suchte sie, unter Bezugnahme auf Brecht und Christa Wolf, die Frage, ob aus den sor­genden und Leben bewahrenden Praxen von Frauen, Schritte für eine neue Gesell­schaft gewonnen werden können, oder ob Frauen sich nicht von diesen Praxen verabschieden müssen, wollen sie ihr Subjekt entwickeln, finanziell auf eigenen Füßen stehen oder sich gleichberechtigt am revo­lutionären Kampf beteiligen. Die Methode der Erinnerungsarbeit machte Frauen als an ihrer eigenen Unterwerfung Mit ­wirkende sichtbar, die schöne Literatur bie­tet Frauen Formen für ihre Subjektbildung an, die auf ihre Tauglichkeit für Emanzipa­tion hin untersucht werden müssen. Voraussetzung für jeden Prozess der Neukonstruktion des Subjekts ist die schmerzhafte Zerstörung des Alten, die Verabschiedung von Liebgewonnenem und Vertrautem, Krise als Chance. Für die not­wendige Humanisierung der Gesellschaft braucht es eine Verkürzung der Lohn ­arbeitszeit und eine Aufteilung der Sorge­arbeit auf alle Geschlechter.

In einem eigenen Workshop wurde die Methode der Erinnerungsarbeit vorgestellt, deren zugrundeliegende Annahme ist, dass wir ein Ensemble aus gesellschaftlichen Beziehungen sind. Frau zu werden ist eine Tätigkeit, nicht nur Folge einer Viktimisie­rung, weil wir selbst es sind, die sowohl die Gesellschaft als auch (Vorstellungen von) uns selbst re/produzieren. Es geht darum, im Kollektiv Inventare von sich selbst zu erstellen, um sich selbst und die eigene Geschichte zu erkennen, die mit der Geschichte der Gesellschaft verbunden ist, in der wir leben.

Nennenswert auch der Workshop zu Prä­figuration, zur Vor-Stellung dessen, was sein könnte im Sinne einer gesellschaftli­chen Utopie und von einzelnen Gemein­schaften auch realisiert wird. Jede Vorstel­lung von Zukunft wurde dabei als eine in der Gegenwart verankerte gesehen, aber nicht bloß im Sinne einer einfachen Nega­tion des Gegebenen.

Im Workshop über Verletzlichkeit und Empathie wurde der Frage nachgegangen, ob es eine feministische Vorstellung von Empathie gibt, die es wert ist, bewahrt zu werden – im Gegensatz zu Brechts Mitleid mit den Leidenden, das, laut ihm, in das produktive Gefühl von Wut über die das Leid produzierenden Verhältnisse transfor­miert werden soll. Wie Wut ist auch Empa­thie leidenschaftlich, meinte hingegen Audre Lorde. Andererseits wurde Verletz­lichkeit als Teil der conditio humana kon­statiert und die Frage aufgeworfen, wie Gesellschaften und die Menschengesell­schaft global heute damit umgehen.

Diese Konferenz hat, wie ihre beiden Vor­gängerinnen, einmal mehr deutlich gezeigt hat, welch kräftiges und umfassendes Ana­lyseinstrument der Marixismus-Feminis­mus ist, da er die Untersuchung von Geschlechter-, Rassen- und Klassenverhält­nissen miteinander verbindet und beides in historisch gewordenen Verhältnissen, mitt­lerweile einer Weltgesellschaft, verankert. Und das ist gut so, denn Frauen können für linke und feministische Politik nicht gewonnen werden, wenn sie und ihre Lebensverhältnisse und -erfahrungen in der politischen Theorie nicht vorkommen.

 

Nach dem ersten Internationalen Frauen­streik im Jahr 2017, den Massenmärschen, die seit 2015 unter dem Motto #NiUnaMenos* stattfanden, und der Annahme des »Gesetzes zur Legalisierung des Schwangerschaftsab­bruchs« durch den argentinischen Kongress, wird das Gesetz durch den Senat verhindert.

NATALIA HURST

Die nationale Kampagne für das Recht auf legale und freie Abtreibung in Argentinien begann vor 13 Jahren. Aus die­ser Zeit stammt ein Protokoll für die Straf­freiheit des Schwangerschaftsabbruchs in Fällen von Vergewaltigung oder bei Gefähr­dung der Gesundheit der Mutter, das aber in den wenigsten Fällen angewandt wurde. Seit der Rückkehr zur Demokratie im Jahr 1983 sind mehr als 3.000 Frauen durch unsichere Abtreibungen ums Leben gekom­men. Jedes Jahr werden zirka 500.000 unsi­chere Abtreibungen durchgeführt, müssen etwa 60.000 Frauen wegen Komplikationen infolge dieser unsicheren Praktiken ins Krankenhaus und sterben etwa hundert Frauen an den Folgen eines illegalen Ein­griffs. Es handelt sich dabei um Schätzun­gen, da es in Argentinien aufgrund der Geheimhaltung keine genauen Statistiken zu Abtreibung gibt.

Zusätzlich zu den Todesfällen durch heimliche Abtreibungen gibt es zahlreiche schwangere Mädchen, die zu ungewollter und traumatischer Mutterschaft gezwun­gen werden. Alle drei Stunden bekommt in Argentinien ein Mädchen zwischen 10 und 14 Jahren ein Baby, das sind acht pro Tag, 2.787 pro Jahr. Es sind Mädchen, die verge­waltigt wurden, manchmal von Verwand­ten, und die in den meisten Fällen erst bei der Geburt auf das Gesundheitssystem zugreifen.

Und natürlich ermöglicht die Illegalisie­rung von Abtreibungen Privatkliniken und geheimen Büros lukrative Geschäfte.

Nationaldebatte und Abstimmung im Kongress

Im Sommer 2018 fand im Parlament eine Nationaldebatte über die Sanktion des Gesetzes zur freiwilligen Schwanger­schaftsunterbrechung statt. Der Slogan der Feministinnen lautete: »Sexualerziehung, damit wir entscheiden können, Kontrazeptiva, damit wir nicht abtreiben müssen und legale Abtreibung, damit wir nicht sterben.«

Im Juli wurden jeden Dienstag und Mitt­woch die Zeugnisse von Hunderten von Menschen in öffentlichen Kommissionen angehört. Die Berichtenden teilten ihre Argumente, persönlichen Erfahrungen, Statistiken, wissenschaftliche und auch religiöse Überzeugungen, wobei die plura­listische Debatte die Gesellschaft des gan­zen Landes bewegte und sich auch auf andere lateinamerikanische Länder erstreckte. Die vielen Geschichten über Frauen, die durch heimliche Abtreibun­gen gestorben sind, lösten eine Kettenre­aktion aus und überschwemmten die öffentliche Meinung. Besonders erzürnte die Heuchelei derer, die gegen Abtreibung sprachen und ihre Liebhaberinnen, Töch­ter oder Schwestern zwangen, abzubre­chen, wenn sie schwanger wurden. Auch war soziale Ungleichheit ein Thema: Es sterben vor allem Frauen mit niedrigem Einkommen, oft Mütter von mehreren Kin­dern, die sich eine Abtreibung in einem »professionellen« Geheimbüro in einer wohlhabenden Nachbarschaft nicht leisten können.

Im Laufe der Anhörungen wurde die Dis­kussion neu gewichtet: Es ging nicht mehr darum, ob frau abbrechen dürfe oder nicht, sondern um die Frage legale vs. heimliche Abtreibung. Es zeigte sich, dass der Schwangerschaftsabbruch eine alte Praxis ist, die in früheren Rechtssystemen nicht verboten war. Wenn eine Frau sich heute für eine Abtreibung entscheidet, führt sie sie mit den zur Verfügung ste­henden Mitteln aus, wodurch sie ihr Leben gefährdet. Weiterhin auf Geheimhaltung von Abtreibung zu bestehen, bedeutet, Tausende von Frauen sowohl physisch als psychisch zu verurteilen, sie ungeheuren, mittelalterlichen und unwürdigen Prakti­ken und Debatten auszusetzen und ihren unnötigen Tod.

Dora Barrancos, anerkannte Soziologin und Historikerin, sagte: »Ich gehöre zu denen, die das Recht auf legale Abtreibung verteidigen, um das sexuelle Vergnügen von der Fortpflanzung zu trennen. […] Sexueller Genuss ist ein Recht der Frauen, das von der Reproduktion getrennt wer­den muss […] Besonders arme Frauen, die keine Gelegenheit haben, anständige Klini­ken zu bezahlen, sind zum Tode verur­teilt.«

Der Juli wurde zu einem Monat, in dem die grünen Taschentücher die Schulen, Uni­versitäten und Straßen überschwemmten. In der Nacht zum 1. August schlossen sich eine Million Frauen der sogenannten »Grü­nen Flut« in der Nähe des Kongresses an.

In der historischen Parlamentssitzung vom 1. August waren die Grenzen der Blö­cke der politischen Parteien aufgehoben. Für einen Tag hatten die individuellen Positionen zum Recht von Frauen, über ihren Körper und ihr Leben zu entschei­den, Vorrang. Die Debatte drehte sich um die Freiheit der Wahl, um die Frage kon­fessioneller oder säkularer Staat und um die Verpflichtungen des öffentlichen Gesundheitsministeriums, heute Gesund­heitssekretariat. In dieser Sitzung, die live übertragen wurde und fast 24 Stunden dau­erte, sprach sich das Abgeordnetenhaus mit 129 Ja- und 125 Nein-Stimmen für das Gesetz aus. Ein Triumphschrei von Millio­nen Frauen donnerte durch die Straßen von Buenos Aires und durch das ganze Land. Die Bilder durchzogen die Netzwerke und Medien und wurden von feministi­schen Kollektiven auf der ganzen Welt ver­breitet. Frauen schliefen auf der Straße, hielten Nachtwache, um am 1. August im Abgeordnetenhaus die Sanktion des Geset­zes zu erreichen.

Das Aus durch den Senat

In der darauffolgenden Woche kam es zu Spannungen auf der Straße: Zum ersten Mal hatte der Feminismus gegenüber dem Konservatismus gesiegt. In verschiedenen Städten fanden verbale und körperliche Angriffe auf Mädchen statt, die stolz ihre grünen Tücher zeigten. Es gab Schulen, die die Taschentücher verboten, Drohungen gegen Senatoren, Belästigungen und star­ken Druck. »Pro Life« organisierte Paraden, in denen sie mit riesigen Kolossen von Embryonen durch die Straßen marschier­ten, was der Situation einen tragikomi­schen Touch verlieh.

Die Senatssitzung vom 8. August hatte kein »Happy End«, obwohl der Hauptoppo­sitionsblock unter der Leitung der ehemali­gen Präsidentin Cristina F. de Kirchner das Gesetz für legale Abtreibung unterstützt hatte. 38 Nein- und 31 Ja-Stimmen verhin­derten die im Kongress erreichte Sanktion. Und setzten den Erwartungen von Millio­nen Frauen ein Ende. Der Senat des konser­vativen und neoliberalen Regimes, das Argentinien gerade in eine neue Staats­pleite führt, entschied sich gegen die legale Abtreibung, mit 7 Stimmen Unterschied.

Allein im letzten Monat gab es drei neue Todesfälle durch heimliche Abtreibungen. Deshalb wurden die Senatoren, die für heimliche Abtreibung sind, von Menschen­rechtsorganisationen angeklagt.

Zum ersten Mal in einem langen Kampf von fast hundert Jahren war ein Gesetz in greifbarer Nähe, das den Frauen die Fülle ihrer reproduktiven Rechte, den Zugriff auf eine gewünschte Mutterschaft und legale, sichere und freie Abtreibung gewährt hätte. Wir werden es durchsetzen und die Straßen mit grünen Tüchern fluten, bis es Realität wird. #queSeaLey.

Natalia Hurst ist Sopra­nistin, Gesangspädago­gin und Aktivistin von Ni Una Menos Austria.

FRANZISKA SCHUTZBACH ist Initiatorin von #SchweizerAufschrei, Forscherin und feministische Aktivistin. Im Gespräch mit ALEXANDER STOFF spricht sie über aktu­elle Herausforderungen des feministischen Aktivismus.

In den letzten Jahren treten Phänomene wie Women’s March, #metoo oder #Auf­schrei auf. Was sind verbindende The­men und Praktiken? Und wo gibt es Unterschiede?

FRANZISKA SCHUTZBACH: Ich bin über­rascht wie stark feministische Themen mittlerweile wieder auf der aktivistischen und medialen Agenda stehen. Dazu haben verschiedene Hashtags oder der Women‘s March in den USA beigetragen. Die großen sozialen Bewegungen sind im Moment die feministischen.

#Aufschrei und #metoo haben ein gesell­schaftliches Bewusstsein für das Problem der sexualisierten Gewalt und Belästigung hergestellt. Hashtags sind ein relativ demo­kratisches Prinzip, weil alle mitmachen können. Aber nicht alle können es sich leis­ten, öffentlich über Gewalterfahrungen zu sprechen. Bei den netzpolitisch Aktiven gibt es eine unglaubliche Vielfalt. So for­dern etwa viele Women of color oder queere Frauen* differenzierte Debatten ein, da ihre Probleme wie zum Beispiel Armut bei Hashtags zu wenig berücksichtigt wer­den. Die Stimmen von so vielen Frauen* machen deutlich, dass sexualisierte Gewalt überall vorkommt – ob in Hollywood, in den Fabriken, im Privaten oder in der Disco. Durch den Hashtag wird ein struktu­relles Problem sichtbar und breit disku­tiert. Zum Teil sind das auch problemati­sche Debatten, wo sich dann Leute äußern, die es klein reden oder die behaupten, dass man das Problem den Männern* nur unter­schiebe.

Es ist auch deutlich geworden, dass es nicht nur unmittelbar um Gewalt geht, son­dern auch um größere Zusammenhänge. Gewalt gegen Frauen* gibt es, weil wir in einer sexistischen und geschlechter-unglei­chen Gesellschaft leben. Andere Faktoren dieser Machtverhältnisse müssen auch Gegenstand der Debatte werden wie zum Beispiel ökonomische Ungleichheit.

Und es muss auch die intersektionale Dimension berücksichtigt werden, dass migrantische Frauen* und Women of color andere Erfahrungen machen als weiße Frauen* aus der Mittelschicht. Die Domi­nanz des westlichen Blicks muss innerhalb der feministischen Bewegung unbedingt in Frage gestellt werden.

Früher hat der klassische Protest bei Demonstrationen auf der Straße statt­gefunden, während heute viel im Inter­net passiert. Hast du den Eindruck, dass sich die öffentlichen Räume ver­ändert haben, in denen heute feminis­tischer Aktivismus und Bewegung stattfinden?

FRANZISKA SCHUTZBACH: Ja, ich denke schon, dass das Internet generell vieles verändert in Bezug auf Meinungs­äußerung und soziale Bewegung – sowohl mit positiven als auch schlimmen Effek­ten. Anfänglich gab es viel Hoffnung, dass das Internet mehr Demokratisierung und Teilhabe bringt. Trotz dieses Potentials habe ich das Gefühl, dass sich im Moment eine Katerstimmung breit macht. Erste wissenschaftliche Untersuchungen haben ergeben, dass gerade Frauen* und Women of color in besonderem Maße wieder aus diesen öffentlichen Räumen verdrängt werden. Vor allem Männer* nutzen die Kommentarfunktion bei großen Medien mit aggressivem Sprechen, Troll-Strate­gien und Hate speech. Und das führt dazu, dass Frauen* sich aus diesen Räumen zurückziehen. Es ist wissenschaftlich erwiesen, dass dieses »silencing« funktio­niert. Auch in der nicht-virtuellen Welt werden weibliche Stimmen weniger gehört, nehmen Frauen* seltener an Podien teil und sind weniger in Medien und Politik vertreten. Es spiegelt sich im Internet vieles wider, was in der nicht-virtuellen Welt passiert.

Ich denke, wir müssen der Individuali­siertheit im Internet wirkliche Räume entgegensetzen, wo man sich trifft, aus­tauscht und unterstützt. Deswegen orga­nisiere ich zum Beispil einmal im Monat die Feministischen Salons in Zürich und Basel, wo sich Menschen bei Veranstal­tungen auch jenseits der virtuellen Welt treffen. Auch Demonstrationen oder Streiks sind Anlässe, bei denen man sich gemeinsam auf der Straße trifft, sich spü­ren und bestärken kann.

Du hast in einem Text geschrieben, dass #Aufschrei ein Bildungsmoment und der Hashtag-Feminismus eine Form von Aufklärungsarbeit ist. Was braucht es, damit die feministische Kri­tik stärker von Männern* reflektiert wird, auch um dem Hass etwas entge­genzusetzen?

FRANZISKA SCHUTZBACH: Ich denke, es braucht Verschiedenes. Es wäre schön, wenn Männer* in allen gesellschaftlichen Institutionen damit anfangen, über dieses Thema zu sprechen und sich zu engagieren. Teilweise passiert das auch schon. Als vor zwei Jahren der #Aufschrei in der Schweiz stattfand, mussten die Frauen* erst in ihren Redaktionen durchsetzen, dass sie über sexualisierte Gewalt schreiben konnten. Das hat sich mittlerweile geändert. Bei #metoo und anderen Themen schreiben nun auch männliche, vor allem jüngere Journalisten Leitartikel oder Kommentare – und zwar oft profeministisch. Ich denke, es ist ganz wichtig, dass Männer* in Positio­nen, wo sie diskurs-bestimmend sein kön­nen, sich für dieses Thema stark machen.

Als ein Mensch, der nicht von Rassismus betroffen ist, überlege ich mir immer wie­der, wie ich dieses Privileg einsetzen kann, um antirassistische Themen voranzubrin­gen. Auch wenn ich persönlich nicht davon betroffen bin, so mache ich mich mitschul­dig, wenn ich Rassismus akzeptiere und mich nicht dazu äußere. Ich hoffe, dass diese Erkenntnis sich auch bei vielen Män­nern* durchsetzt. Zum Teil erlebe ich schon, wie Männer* einander aufmerksam machen und ihre Stimme erheben, wenn sie sexistisches Verhalten beobachten. Das ist ein langsamer Veränderungsprozess, weil Männlichkeit* so stark darüber funk­tioniert, sich selbst als Norm und alle ande­ren als besonders zu begreifen. In der Folge wird auch Gewalt gegen Frauen* oder andere geschlechterpolitische Themen als ein Problem wahrgenommen, mit dem sich nur Frauen* zu befassen hätten. Diese Wahrnehmung müssen Männer* überwin­den.

Was macht für dich kritische Männlich­keit* aus? Und wie kann das Verhältnis zu einem gemeinsamen feministischen Aktivismus sein, bei dem sich Männer* solidarisch als Verbündete betätigen?

FRANZISKA SCHUTZBACH: Ich denke, kritische Männlichkeit* bedeutet vor allem, sich zuerst zu überlegen, inwiefern patriar­chale Verhältnisse auch für Männer* selbst Probleme oder gar Nachteile mit sich bringen. Es geht darum, patriarchale Zuschreibungen von Überlegenheit, Macht und Stärke kritisch zu reflektieren.

Wir leben nach wie vor in einer Gesell­schaft, in der Macht ungleich auf die Geschlechter verteilt ist: Männer besetzen beinahe alle Schlüsselpositionen in Wirt­schaft, Politik, Wissenschaft, Kunst und Kultur. In der Regel sind es also Männer, die Macht besitzen, sie verteilen und ent­sprechend repräsentieren. Das gilt auch finanziell. Doch auch hier muss genau hingesehen werden. Nicht allen Männern steht der Zugang zu Macht in demselben Maße offen, sondern vor allem denjeni­gen, die außerdem weiß, begütert, nicht behindert, heterosexuell und akademisch gebildet sind.

Für mich als Feministin ist es manchmal schwer zu erklären, dass die Aussage, Männer* haben Privilegien, nicht heißt, dass Männer* kein Leid, keine Gewalt und keine Prekarisierung erfahren. Das schließt sich eben nicht aus. Und ich denke, manche Männer* reagieren des­halb mit starker Abwehr, weil sie das Gefühl haben, ihnen wird quasi gesagt, dass sie immer auf der Sonnenseite des Lebens stehen.

Was macht es für dich in einer inter­sektionalen Sichtweise aus, ein*e gute*r Verbündete*r zu sein? Was bedeutet es, sich als ein*e gute*r Verbündete*r zu verhalten und was sollte man dabei vermeiden?

FRANZISKA SCHUTZBACH: Wichtig ist sicher die Bereitschaft zuzuhören und zu reflektieren. Ich denke, es ist für viele Männer* tatsächlich schwer, dass sie ein­fach mal nicht in der Position des Akteurs sind, sondern als Verbündete erst einmal Rezipienten von dem sind, was Frauen* sagen. Ich glaube, das ist für Männer* schwierig, weil sie es gewohnt sind, vor allem anderen Männern* zuzuhören. Das nennt sich Homosozialität – Männer* sind an anderen Männern* ausgerichtet. Man will Anerkennung und bewundert andere Männer*. Frauen* werden vielleicht als Partnerinnen oder Mütter gewürdigt, aber nicht als Ideengeberin. Zum Verhal­ten auf Twitter gibt es erste Studien, nach denen Männer* vor allem andere Männer* retweeten.

Übrigens sind auch Frauen* stark män­ner-orientiert. Denn Männer* repräsentie­ren Macht und Schlüsselpositionen in unse­rer Gesellschaft. Es ist wichtig, dass Män­ner* sich stärker bewusst machen und darauf achten, was Frauen* schreiben oder sagen.

Wo siehst du dann Ansatzpunkte, das zu durchbrechen?

FRANZISKA SCHUTZBACH: Eine Möglich­keit ist, bei sich selber anzufangen und sich zu überlegen: an wem orientiere ich mich? Dabei kann man sich bewusst machen, wie viel von dem, was man täglich liest, von Männern* gemacht wird. Dann gibt es Techniken der Diskussionsführung, bei denen eine Diskussion abgebrochen wird, sobald sich keine Frau* mehr zu Wort mel­det, weil das als ein Indiz gesehen wird, dass der Verlauf für viele nicht mehr inte­ressant oder sogar diskriminierend ist. Ich weiß nicht, ob das eine gute Idee ist. Ich finde es jedenfalls interessant, weil man darüber nachdenkt. Wenn sich nur noch Männer* melden, dann trauen sich Frauen* oft gar nicht. Eine Möglichkeit ist auch, in gemischten Gruppendiskussionen (Ver­sammlungen, Konferenzen und so weiter) einmal über längere Zeit die Redezeit von Frauen* und Männern* zu messen und sich zu vergegenwärtigen, wie das abläuft. Wenn Frauen* das einfordern, dann werden sie oft dafür kritisiert. Daher ist es eine Hilfe, wenn Männer* für eine gender-gerechte Gesprächsführung einstehen.

Franziska Schutzbach ist in verschiedenen feminis­tischen Zusammenhängen aktiv, sie lehrt und forscht an der Uni Basel im Fach Gender Studies. Demnächst erscheint ihr Buch »Die Rhetorik der Rechten. Rechtspopulistische Diskursstrategien im Überblick«. Franziska Schutzbach schreibt u. a. Texte für Geschichte der Gegenwart www.geschich­tedergegenwart.ch und ihren Blog franziskaschutz­bach.wordpress.com

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