NiUnasMenos am Frauen.Punkt, Volksstimmefest 2018 NiUnasMenos am Frauen.Punkt, Volksstimmefest 2018 FOTO: Tani Pilz

Der Winter der grünen Tücher in Argentinien

von

Nach dem ersten Internationalen Frauen­streik im Jahr 2017, den Massenmärschen, die seit 2015 unter dem Motto #NiUnaMenos* stattfanden, und der Annahme des »Gesetzes zur Legalisierung des Schwangerschaftsab­bruchs« durch den argentinischen Kongress, wird das Gesetz durch den Senat verhindert.

NATALIA HURST

Die nationale Kampagne für das Recht auf legale und freie Abtreibung in Argentinien begann vor 13 Jahren. Aus die­ser Zeit stammt ein Protokoll für die Straf­freiheit des Schwangerschaftsabbruchs in Fällen von Vergewaltigung oder bei Gefähr­dung der Gesundheit der Mutter, das aber in den wenigsten Fällen angewandt wurde. Seit der Rückkehr zur Demokratie im Jahr 1983 sind mehr als 3.000 Frauen durch unsichere Abtreibungen ums Leben gekom­men. Jedes Jahr werden zirka 500.000 unsi­chere Abtreibungen durchgeführt, müssen etwa 60.000 Frauen wegen Komplikationen infolge dieser unsicheren Praktiken ins Krankenhaus und sterben etwa hundert Frauen an den Folgen eines illegalen Ein­griffs. Es handelt sich dabei um Schätzun­gen, da es in Argentinien aufgrund der Geheimhaltung keine genauen Statistiken zu Abtreibung gibt.

Zusätzlich zu den Todesfällen durch heimliche Abtreibungen gibt es zahlreiche schwangere Mädchen, die zu ungewollter und traumatischer Mutterschaft gezwun­gen werden. Alle drei Stunden bekommt in Argentinien ein Mädchen zwischen 10 und 14 Jahren ein Baby, das sind acht pro Tag, 2.787 pro Jahr. Es sind Mädchen, die verge­waltigt wurden, manchmal von Verwand­ten, und die in den meisten Fällen erst bei der Geburt auf das Gesundheitssystem zugreifen.

Und natürlich ermöglicht die Illegalisie­rung von Abtreibungen Privatkliniken und geheimen Büros lukrative Geschäfte.

Nationaldebatte und Abstimmung im Kongress

Im Sommer 2018 fand im Parlament eine Nationaldebatte über die Sanktion des Gesetzes zur freiwilligen Schwanger­schaftsunterbrechung statt. Der Slogan der Feministinnen lautete: »Sexualerziehung, damit wir entscheiden können, Kontrazeptiva, damit wir nicht abtreiben müssen und legale Abtreibung, damit wir nicht sterben.«

Im Juli wurden jeden Dienstag und Mitt­woch die Zeugnisse von Hunderten von Menschen in öffentlichen Kommissionen angehört. Die Berichtenden teilten ihre Argumente, persönlichen Erfahrungen, Statistiken, wissenschaftliche und auch religiöse Überzeugungen, wobei die plura­listische Debatte die Gesellschaft des gan­zen Landes bewegte und sich auch auf andere lateinamerikanische Länder erstreckte. Die vielen Geschichten über Frauen, die durch heimliche Abtreibun­gen gestorben sind, lösten eine Kettenre­aktion aus und überschwemmten die öffentliche Meinung. Besonders erzürnte die Heuchelei derer, die gegen Abtreibung sprachen und ihre Liebhaberinnen, Töch­ter oder Schwestern zwangen, abzubre­chen, wenn sie schwanger wurden. Auch war soziale Ungleichheit ein Thema: Es sterben vor allem Frauen mit niedrigem Einkommen, oft Mütter von mehreren Kin­dern, die sich eine Abtreibung in einem »professionellen« Geheimbüro in einer wohlhabenden Nachbarschaft nicht leisten können.

Im Laufe der Anhörungen wurde die Dis­kussion neu gewichtet: Es ging nicht mehr darum, ob frau abbrechen dürfe oder nicht, sondern um die Frage legale vs. heimliche Abtreibung. Es zeigte sich, dass der Schwangerschaftsabbruch eine alte Praxis ist, die in früheren Rechtssystemen nicht verboten war. Wenn eine Frau sich heute für eine Abtreibung entscheidet, führt sie sie mit den zur Verfügung ste­henden Mitteln aus, wodurch sie ihr Leben gefährdet. Weiterhin auf Geheimhaltung von Abtreibung zu bestehen, bedeutet, Tausende von Frauen sowohl physisch als psychisch zu verurteilen, sie ungeheuren, mittelalterlichen und unwürdigen Prakti­ken und Debatten auszusetzen und ihren unnötigen Tod.

Dora Barrancos, anerkannte Soziologin und Historikerin, sagte: »Ich gehöre zu denen, die das Recht auf legale Abtreibung verteidigen, um das sexuelle Vergnügen von der Fortpflanzung zu trennen. […] Sexueller Genuss ist ein Recht der Frauen, das von der Reproduktion getrennt wer­den muss […] Besonders arme Frauen, die keine Gelegenheit haben, anständige Klini­ken zu bezahlen, sind zum Tode verur­teilt.«

Der Juli wurde zu einem Monat, in dem die grünen Taschentücher die Schulen, Uni­versitäten und Straßen überschwemmten. In der Nacht zum 1. August schlossen sich eine Million Frauen der sogenannten »Grü­nen Flut« in der Nähe des Kongresses an.

In der historischen Parlamentssitzung vom 1. August waren die Grenzen der Blö­cke der politischen Parteien aufgehoben. Für einen Tag hatten die individuellen Positionen zum Recht von Frauen, über ihren Körper und ihr Leben zu entschei­den, Vorrang. Die Debatte drehte sich um die Freiheit der Wahl, um die Frage kon­fessioneller oder säkularer Staat und um die Verpflichtungen des öffentlichen Gesundheitsministeriums, heute Gesund­heitssekretariat. In dieser Sitzung, die live übertragen wurde und fast 24 Stunden dau­erte, sprach sich das Abgeordnetenhaus mit 129 Ja- und 125 Nein-Stimmen für das Gesetz aus. Ein Triumphschrei von Millio­nen Frauen donnerte durch die Straßen von Buenos Aires und durch das ganze Land. Die Bilder durchzogen die Netzwerke und Medien und wurden von feministi­schen Kollektiven auf der ganzen Welt ver­breitet. Frauen schliefen auf der Straße, hielten Nachtwache, um am 1. August im Abgeordnetenhaus die Sanktion des Geset­zes zu erreichen.

Das Aus durch den Senat

In der darauffolgenden Woche kam es zu Spannungen auf der Straße: Zum ersten Mal hatte der Feminismus gegenüber dem Konservatismus gesiegt. In verschiedenen Städten fanden verbale und körperliche Angriffe auf Mädchen statt, die stolz ihre grünen Tücher zeigten. Es gab Schulen, die die Taschentücher verboten, Drohungen gegen Senatoren, Belästigungen und star­ken Druck. »Pro Life« organisierte Paraden, in denen sie mit riesigen Kolossen von Embryonen durch die Straßen marschier­ten, was der Situation einen tragikomi­schen Touch verlieh.

Die Senatssitzung vom 8. August hatte kein »Happy End«, obwohl der Hauptoppo­sitionsblock unter der Leitung der ehemali­gen Präsidentin Cristina F. de Kirchner das Gesetz für legale Abtreibung unterstützt hatte. 38 Nein- und 31 Ja-Stimmen verhin­derten die im Kongress erreichte Sanktion. Und setzten den Erwartungen von Millio­nen Frauen ein Ende. Der Senat des konser­vativen und neoliberalen Regimes, das Argentinien gerade in eine neue Staats­pleite führt, entschied sich gegen die legale Abtreibung, mit 7 Stimmen Unterschied.

Allein im letzten Monat gab es drei neue Todesfälle durch heimliche Abtreibungen. Deshalb wurden die Senatoren, die für heimliche Abtreibung sind, von Menschen­rechtsorganisationen angeklagt.

Zum ersten Mal in einem langen Kampf von fast hundert Jahren war ein Gesetz in greifbarer Nähe, das den Frauen die Fülle ihrer reproduktiven Rechte, den Zugriff auf eine gewünschte Mutterschaft und legale, sichere und freie Abtreibung gewährt hätte. Wir werden es durchsetzen und die Straßen mit grünen Tüchern fluten, bis es Realität wird. #queSeaLey.

Natalia Hurst ist Sopra­nistin, Gesangspädago­gin und Aktivistin von Ni Una Menos Austria.

Gelesen 6309 mal Letzte Änderung am Mittwoch, 08 Mai 2019 09:46
Bitte anmelden, um einen Kommentar zu posten

Kontakt

Volksstimme

Drechslergasse 42, 1140 Wien

redaktion@volksstimme.at

Abo-Service: abo@volksstimme.at

Impressum

Medieninhaber und Herausgeber:

Verein zur Förderung der Gesellschaftskritik
ZVR-Zahl: 490852425
Drechslergasse 42
1140 Wien

ISSN Nummer: 2707-1367