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THOMAS SCHMIDINGER im Gespräch mit dem Generalsekretär der Irakischen Kommunistischen Partei, Raid Jahid Fahmi.

Der 1934 gegründeten Kommunistischen Partei gelang bei den irakischen Parla­mentswahlen im Mai 2018 im Rahmen einer Wahlallianz mit dem schiitischen Geistli­chen Muqtada al-Sadr die Rückkehr ins Parlament. Diese Allianz für Reform (Saai­run) war sehr erfolgreich und bildet nun mit 54 von 329 Abgeordneten die größte Parteienallianz im irakischen Parlament. 

Für europäische KommunistInnen wirkt diese Wahlallianz zunächst etwas selt­sam. Immerhin hat Muqtada al-Sadr als ziemlich extremistischer schiitischer Prediger begonnen. Auch wenn er sich in den letzten Jahren verändert hat, ist es eher ungewöhnlich, dass KommunistIn­nen gemeinsam mit religiös-politischen AkteurInnen kandidieren. Was hat die Irakische Kommunistische Partei dazu gebracht, dieses Bündnis einzugehen?

RAID JAHID FAHMI: Das ist eine Folge der Protestbewegung von 2015, die zunächst von säkularen Bewegungen gestartet wurde, seit 2016 beteiligte sich dann auch Muqtada al-Sadr daran. Die Slogans und Inhalte dieser Bewegung wurden zunächst von den Säkularen formuliert. Im Laufe die­ser zwei Jahre sind in der ganz konkreten Zusammenarbeit neue Möglichkeiten und ein neues Verständnis füreinander entstan­den. Die Initiative zu solch einer engeren Kooperation kam von deren Partei, die uns vor den Wahlen angefragt hatte. Wir hätten diese Wahlallianz gerne mit den gesamten säkularen Kräften gemacht, mit denen wir bereits in einer Allianz zusammengearbei­tet hatten, allerdings gab es einige Diffe­renzen in der Organisation. Einige gingen dann mit uns diese Allianz für Reform mit den Sadristen ein, andere nicht. Die inhalt­liche Basis der Zusammenarbeit ist jeden­falls, dass wir gemeinsam für einen zivilen Staat und eine entsprechende Sozialpolitik und gegen die Konfessionalisierung der Politik eintreten. Man darf nicht vergessen, dass die Sadristen die stärkste politische Bewegung des Landes bilden und eine soziale Basis besitzen, die unserer nicht unähnlich ist.

Deren soziale Basis ist eher in der Arbei­terInnenklasse.

RAID JAHID FAHMI: Ja, aber auch die noch stärker Marginalisierten. Es gibt im Irak kaum mehr Produktion und einen gro­ßen informellen Sektor. Die Organisation dieses informellen Sektors ist sehr ver­schieden von jenem der ArbeiterInnen­klasse. Was bei diesen marginalisierten Klassen funktioniert – und ihr habt das ja auch in Europa – ist ein populistischer Zugang mit einem charismatischen Führer. Das war dann auch die Natur der Bewegung von Muqtada al-Sadr. Aber viele seiner AnhängerInnen kommen aus Familien, deren Eltern zum Beispiel KommunistInnen waren. Sie waren also keine Antikommu­nistInnen, hatten keinen historischen Hass auf uns KommunistInnen, sondern waren allenfalls religiöse AntikommunistInnen. Wir konnten Anfangs nicht wirklich in die­ser Klasse Fuß fassen und konnten uns dort kaum politisch bewegen. Muqtada al-Sadr selbst war ja in seinen Anfängen ziemlich radikal und sektiererisch. Aber es gab hier eine Evolution seiner Person und seiner Bewegung, die eigentlich schon 2010 begonnen hat und sich dann im Zuge der Protestbewegung ab 2015 verstärkt hat. Wir sehen seither eine gewisse Konsistenz in seiner Argumentation für eine nationale Unabhängigkeit des Irak und gegen die Ein­flussnahme von Nachbarstaaten, gegen den Konfessionalismus und auch in seiner Ablehnung von Korruption. Teile seiner Bewegung sind zwar selbst sehr korrupt, aber er selbst ist hier glaubwürdig dagegen. Wir haben darauf bestanden, eigenständige politische Parteien zu bleiben, aber eben gemeinsam zu kandidieren und zusammen­zuarbeiten. Diese Öffnung für unsere Posi­tionen, gerade auch in den Armenvierteln, ist aus unserer Sicht noch wichtiger als die Wahlen selbst. Dass eine islamische politi­sche Bewegung, die früher nicht einmal die Säkularen akzeptiert hatte, nun die Unab­hängigkeit und Positionen einer Kommu­nistischen Partei anerkennt, ist ein enorm wichtiger politischer Schritt, der uns Zugänge in der irakischen Gesellschaft ermöglicht, die wir bisher nicht hatten.

Allerdings gibt es einige historische Bei­spiele bei denen solche Kooperationen zwischen KommunistInnen und poli­tisch-islamischen Bewegungen für die KommunistInnen fatal endeten. In eurem Nachbarland Iran hat die mos­kautreue Tudeh-Partei den Weg für die Islamische Republik bereitet und das Regime Khomeinis gestützt, um dann ab 1982 selbst von den einstigen Bündnis­partnerInnen verfolgt und 1983 verbo­ten zu werden.

RAID JAHID FAHMI: Das war ein völlig anderer Kontext. Die islamische Bewegung im Iran war ja damals schon an der Macht, das sind die Sadristen nicht. Und die Bewe­gung Muqtada al-Sadrs unterscheidet sich stark von den anderen politisch-islami­schen Bewegungen, indem sie eben einen konfessionellen Staat ablehnen.

Nach 2003 haben wir Muqtada al-Sadr aber als konfessionellen Führer kennen gelernt. Was hat sich da geändert?

RAID JAHID FAHMI: Die politisch-islami­schen Parteien haben sich an der Macht als korrupt und unfähig erwiesen. Die Konfes­sionalisierung hat zehn Jahre lang funktio­niert, aber sie haben ihren WählerInnen nichts gebracht. Deshalb haben auch frü­here AnhängerInnen dieser Parteien 2015 unsere Protestbewegung unterstützt. Muqtada al-Sadr hat sich aber auch selbst verändert. Es gab nach 2003 natürlich auch schwere Verbrechen aus dieser Bewegung, aber es gibt in der Familie al-Sadr grund­sätzlich eine eher irakistische und arabi­sche Position als eine konfessionelle. Seine Familie war definitiv nie vom Iran abhängig und er selbst wollte eher ein nationaler als ein konfessioneller Führer sein. Für uns bietet sich damit die Möglichkeit, wieder einen Kontakt zu den Massen bekommen, von denen uns das Regime Saddam Hus­seins abgeschnitten hatte.

Sie versuchen damit sozusagen die Par­tei wieder aufzubauen?

RAID JAHID FAHMI: Ja, es geht uns aber auch darum, diese gesamte Bewegung für die Reform des Irak zu verwenden. Diese Bewegung hat negative Aspekte. Sie ist eine populistische Bewegung. Aber diese Leute sind immer im Irak geblieben, durch all die Jahre der Repression unter Saddam Hus­sein. Sie sind vereint durch die charismati­sche Führerschaft von Muqtada al-Sadr. Sie haben kein wirkliches Programm, aber sehr wohl Milizen und eine AnhängerInnen­schaft. Letztlich ist das eine ähnliche Struk­tur wie wir sie in faschistischen Bewegun­gen finden. So eine Bewegung kann sich in verschiedene Richtungen entwickeln, ent­weder sie geht in die extreme Rechte oder eben nach links. Und wir wollten eben etwas dazu beitragen, dass sie sich nach links bewegt. Wir haben keine Massen hin­ter uns, aber wir wissen, wohin wir wollen. Früher wurden wir als AtheistInnen beschimpft und verdrängt. Nun können wir plötzlich im ganzen Land arbeiten und sind willkommen.

Aber können Sie mit diesen Leuten dann über heikle Themen wie Frauenrechte oder gar die Rechte von Lesben und Schwulen sprechen?

RAID JAHID FAHMI: Es gibt natürlich Grenzen der Zusammenarbeit und der The­men, die wir besprechen können. Unser Fokus ist derzeit auf soziale Rechte gelegt und darüber können wir uns einigen. Zudem arbeiten wir weiter mit anderen säkularen Bewegungen zusammen.

Wie weit könnt Ihr derzeit mit der Sadr-Bewegung konkret gehen?

RAID JAHID FAHMI: Wir sprechen derzeit über soziale Rechte und die Reform des Staates und kämpfen gemeinsam gegen Korruption. Insgesamt ist das derzeitige Regierungsprogramm progressiver als in der Vergangenheit. Wir versuchen aber weitere Brücken zwischen der säkularen Bewegung und der Sadr-Bewegung zu schaffen, um auch weitere Themen gemein­sam behandeln zu können.

Eines der großen Themen der letzten Jahre war aber zum Beispiel das Ehe­recht, wo es darum ging ab welchem Alter Mädchen verheiratet werden dür­fen. Das irakische Personenstandsrecht sah bislang 18 Jahre als Mindestalter für Eheschließungen vor und manche schii­tische Parteien versuchten, dieses Alter auf neun Jahre herabzusenken. Das war ja 2017 ein wichtiger politischer Kon­flikt.

RAID JAHID FAHMI: Genau dazu haben wir mit der Sadr-Bewegung gearbeitet, damit sie diesen Gesetzesvorschlägen nicht zustimmen und darin waren wir erfolg­reich. Sie haben das natürlich nicht heraus­gestrichen, aber es war ein Erfolg unserer Zusammenarbeit, dass die Sadristen diesem Gesetzesvorschlag nicht zugestimmt hatten und heute Mädchen nicht mit neun Jahren verheiratet werden können.

Das ist allerdings tatsächlich ein sehr konkreter Erfolg.

RAID JAHID FAHMI: Ich möchte kein rosa Bild malen. Diese Zusammenarbeit ist nicht problemlos und der Erfolg ist nicht garan­tiert. Jeder von uns trifft seine eigenen Ent­scheidungen und wir haben oft auch andere Positionen, aber in den großen Fra­gen stimmen wir derzeit vielfach überein. Wir werden mit den Sadristen versuchen, so lange wie möglich zu kooperieren. Aber das ist ein politischer Kampf und dafür reicht es nicht aus, einfach nur die beste­hende Situation zu verurteilen. Wir wollen diese ja verändern und dabei können wir auch scheitern.

Die Irakische KP ist die älteste noch existierende Kommunistische Partei der arabischen Welt, die KPÖ ist eine der ältesten der Welt und feierte heuer ihren hundertsten Geburtstag. In diesen hundert Jahren hat sich die kommunistische Bewegung stark ver­ändert. Es gibt heute keine KOM ­INTERN mehr, sondern eine sehr viel pluralistischere Bewegung. Welches sind Ihre politischen Referenzen in der globalen Linken?

RAID JAHID FAHMI: Wir sind immer noch eine marxistische Partei, die aber versucht, die aktuellen Möglichkeiten für marxistische Politik in der derzeiti­gen Situation des Irak zu analysieren. Wir haben politische Beziehungen zu verschiedenen kommunistischen Par­teien in der Region und in Europa. Wir haben gute Beziehungen zur Sudanesi­schen KP, zur Marokkanischen Partei des Fortschritts und des Sozialismus und sogar zur Syrischen KP.

Zu welcher der Syrischen KPs?

RAID JAHID FAHMI: Zur vereinigten KP unter Hanin Nimir.

… die mit dem Regime zusammen ­arbeitet.

RAID JAHID FAHMI: Ja, das tut die andere aber auch.

Die stalinistischen Bakdash-AnhängerInnen schon, aber es gibt ja auch die Oppositionellen Kommunist ­Innen um Riad al-Turk.

RAID JAHID FAHMI: Die nennen sich jetzt aber nur noch Volkspartei. Wir betrachten uns jedenfalls immer noch als Kommunistische Partei und versu­chen mit verschiedenen Kommunisti­schen Parteien weltweit zusammenzuar­beiten. Wir sind gegen eine zentralisti­sche kommunistische Bewegung, aber wir suchen die Kooperation mit Genos­sInnen weltweit, weil viele Kämpfe heute global geführt werden müssen und wir dafür eine Zusammenarbeit progressiver Kräfte benötigen.

Bei der letzten Nationalratswahl im Oktober vor knapp einem Jahr waren genau 6.340.231 Personen mit Wohnsitz in Österreich wahlbe­rechtigt. Gegenüber der Bundespräsident­schaftswahl im Jahr zuvor waren das um 2.837 Wahlberechtigte weniger. Klingt nicht viel. Tatsächlich lagen aber zwischen den Stich ­tagen für die jeweilige Wahl nur zehn Monate, in denen gleichzeitig die Gesamtbevölkerung Österreichs um circa 35.000 BewohnerInnen wuchs. Einem Anstieg der Bevölkerung steht also ein Rückgang an Wahlberechtigten gegenüber.

Text von GERD VALCHARS

Österreichs Bevölkerung wächst, die Zahl der Wahlberechtigten aber schrumpft. Dieses Auseinanderdriften von Wohn- und Wahlbevölkerung kann seit einigen Jahren beobachtet werden. 2012 lebten in Österreich erstmals mehr als eine Million Menschen ohne österreichische Staatsbürgerschaft. Seitdem ist diese Zahl auf circa 1,4 Millionen und ihr Anteil an der Bevölkerung auf 15,8 Prozent angestiegen. Mehr als die Hälfte (56 Prozent) dieser Nicht-StaatsbürgerInnen lebt bereits seit mehr als fünf Jahren in Österreich, 39 Pro­zent gar seit mehr als zehn Jahren. Und 14 Prozent sind als Nicht-StaatsbürgerInnen in Österreich geboren, haben also immer schon in Österreich gelebt. Gleichzeitig ist die Zahl der jährlichen Einbürgerungen in Österreich nach 2003 stark zurückgegan­gen. Das im internationalen Vergleich stark ausschließende Staatsbürgerschaftsrecht mit einer Reihe von außergewöhnlich hohen Hürden für die Einbürgerung beschert Österreich seit geraumer Zeit eine der niedrigsten Einbürgerungsquoten innerhalb der Europäischen Union. Diese Entwicklungen spiegeln sich natürlich unmittelbar im Elektorat wider. In Öster­reich ist das Wahlrecht streng an die Staatsangehörigkeit gebunden. Bei der Nationalratswahl, bei den Landtagswahlen und bei der Wahl der BundespräsidentIn­nen gilt: Wahlberechtigt sind ausschließ­lich österreichische StaatsbürgerInnen. Nur bei den Wahlen zum Europäischen Parla­ment und bei den Gemeinderatswahlen sind seit 1995 auch UnionsbürgerInnen wahlberechtigt. Eine Ausnahme ist Wien, das gleichzeitig Bundesland und Gemeinde ist: Hier dürfen UnionsbürgerInnen nur auf Bezirksebene wählen. Drittstaatsangehö­rige jedoch, also StaatsbürgerInnen von Nicht-EU-Staaten, sind in Österreich auf keiner politischen Ebene wahlberechtigt.

Mehr WienerInnen, weniger WählerInnen

Damit sinkt die sogenannte Wahlrechts ­inklusivität parallel zum Anstieg des Anteils an Nicht-StaatsbürgerInnen an der österreichischen Bevölkerung. Noch deut ­licher als auf Bundesebene zeigt sich das in Wien: Bei der Nationalratswahl 2017 waren 7.000 WienerInnen weniger wahlberechtigt als 2008. Gleichzeitig ist Wien eine wach­sende Stadt, die Bevölkerung im Wahlalter (16 Jahre und älter) ist im selben Zeitraum um 163.000 EinwohnerInnen gewachsen. Prozentuell hat sich der Wahlrechtsaus­schluss damit innerhalb von nur 18 Jahren von 14,4 (1999) auf 27,9 Prozent (2017) nahezu verdoppelt. In absoluten Zahlen sind das 441.000 WienerInnen, die zwar im Wahlalter, aber nicht wahlberechtigt sind. Zur Illustration: Das ist mehr als die Gesamtbevölkerung von Graz und Salzburg und ungefähr so viel wie die Bevölkerung der zwei größten und der zwei kleinsten Wiener Bezirke zusammen. Das Wahlrecht ist in einer Demokratie die wichtigste Arti­kulationsmöglichkeit. Wer vom Wahlrecht ausgeschlossen ist, kann seiner Meinung durch Stimmabgabe keinen Ausdruck ver­leihen und wird politisch nicht gehört – mit weitreichenden Folgen für Demokratie und Gesellschaft. Die enge Bindung des Wahl­rechts an die schwer zu erlangende Staats­bürgerschaft und der dadurch verursachte steigende Wahlrechtsausschluss führen dazu, dass ein großer – und immer größer werdender – Teil der Bevölkerung politisch nicht repräsentiert ist. Er hat keinen Ein­fluss auf die Zusammensetzung des Parla­ments und kann einer dem Parlament ver­antwortlichen Regierung keine Legitima­tion erteilen. Das heißt aber auch, dass kein Wahlkampf um die Stimmen dieser poli­tisch stimmlosen Menschen geführt wer­den muss. Parteien haben keinen Grund, sich ihrer Interessen anzunehmen, Politik für diese mehr als eine Million Menschen zu machen und um deren Gunst – wie um jede andere WählerInnengruppe – zu wer­ben.

Objekt, nicht Subjekt der Politik

Die Stimme bei einer Wahl ist die einzige Währung, die am politischen Markt Gewicht hat; wer über sie nicht verfügt, dem wird nach der politischen Marktlogik von den Parteien und KandidatInnen keine Aufmerksamkeit geschenkt. Umgekehrt heißt das aber auch, dass eine wahlwer­bende Partei keinen Stimmenverlust befürchten muss, wenn sie Politik gegen diese Bevölkerungsgruppe macht. Parteien gehen also kein Risiko ein, wenn sie nega­tive Politik auf Kosten dieser Menschen machen, da von ihrer Seite keine politischen Sanktionsmöglichkeiten bestehen. Wer kein Wahl- und Stimmrecht hat, ist kein politi­sches Subjekt, sondern allein Objekt der Poli­tik und der Auseinandersetzung. Das hat zur Folge, dass die Demokratie nicht nur an Inklusivität, sondern maßgeblich auch an Legitimation verliert. Deutlich erkennbar wird das, wenn man sich die Ergebnisse der letzten Wahlen in Österreich ansieht und dabei als Basis zur Berechnung der Stimman­teile nicht wie üblich die Summe der abgege­benen gültigen Stimmen heranzieht, sondern die Wohnbevölkerung im Wahlalter. So betrachtet war die stärkste »Partei« bei der Gemeinderats- und Landtagswahl in Wien 2015 die »Partei« der Nicht-Wahlberechtig­ten. Mit 25 Prozent war sie die große Gewin­nerin oder in dem Fall wohl besser: Verliere­rin dieser Wahl. Erst an zweiter Stelle ran­gierte die SPÖ mit 21,6 Prozent, gefolgt von der »Partei« der NichtwählerInnen (also jener, die zwar wahlberechtigt waren, der Wahl aber fernblieben) mit 18,9 Prozent. Auf den vierten Platz schaffte es schließlich die FPÖ mit 16,8 Prozent. Die Parteien der in Wien regierenden Koalition aus SPÖ und Grünen, nach offizieller Lesart mit einer absoluten Stimmenmehrheit von 51,4 Pro­zent ausgestattet, erreichten gemessen an der Wiener Wohnbevölkerung im Wahlalter zusammen gerade einmal 28,1 Prozent. Ihr steht eine Koalition aus Nicht-Wahlberech­tigten, Nicht- und Ungültig-WählerInnen von 45,3 Prozent gegenüber.

Ähnlich, wenngleich (noch) nicht so deut­lich, zeigt sich das Ergebnis der Nationalrats­wahl aus dem Jahr 2017: Hier lagen die politi­schen Parteien ÖVP (21,3 %) und SPÖ (18,2 %) noch vorne, an dritter Stelle und knapp vor der FPÖ (17,6 %) aber rangierten schon die NichtwählerInnen (17,7 %), gefolgt von den Nicht-Wahlberechtigten (13,9 %). Die Regie­rungsparteien, im amtlichen Wahlergebnis mit 57,5 Prozent verbucht, kommen so betrachtet gemeinsam auf lediglich 38,9 Pro­zent. Durch die wachsende Wahlrechtslücke verliert die Demokratie also deutlich an Inklusivität und das Herrschaftsgefüge maß­geblich an Legitimation. Aber das ist noch nicht alles. Der zunehmende Ausschluss vom Wahlrecht führt nicht nur zu einer fehlen­den Repräsentation eines Teils der Bevölke­rung im politischen System, sondern auch zu einer deutlichen Verzerrung der Repräsen­tation, von der noch viel mehr Menschen betroffen sind.

Überaltert und unterwienert

Der Ausschluss vom Wahlrecht zieht sich zwar quer durch die gesamte Wohnbevöl­kerung des Landes, unterschiedliche Teile der Bevölkerung – Alt und Jung, Arm und Reich, Stadt- und Landbevölkerung, etc. – sind dabei aber unterschiedlich stark betroffen. Weil der Anteil an Nicht-Staats­bürgerInnen in Österreich unter den Jünge­ren höher ist als unter Älteren, sind auch Jüngere deutlich stärker vom Wahlrechts­ausschluss betroffen. Das Elektorat ist also in puncto Altersverteilung nicht repräsen­tativ für Österreich. Im Vergleich zur tat­sächlichen Bevölkerung ist es überaltert; unter den potentiellen WählerInnen sind ältere Altersgruppen über- und jüngere unterrepräsentiert. Die Wahlbevölkerung ist aber nicht nur überaltert, sie ist auch »überniederösterreichert« und »unterwie­nert«. Wien ist das bevölkerungsstärkste der neun österreichischen Bundesländer; die meisten ÖsterreicherInnen also – und auch die meisten ÖsterreicherInnen im Wahlalter – leben in Wien. An zweiter Stelle liegt Niederösterreich. Anders bei den Wahlberechtigten: Hier kehrt sich die Reihenfolge um und Niederösterreich liegt vor Wien. Von 100 ÖsterreicherInnen über 16 Jahren sind 21,3 WienerInnen und 19 NiederösterreicherInnen, während von 100 Wahlberechtigten nur 18 WienerInnen und 20,1 NiederösterreicherInnen sind. Wiene­rInnen sind also als (potentielle) WählerIn­nen österreichweit unterrepräsentiert und haben damit weniger Einfluss auf das poli­tische Geschehen, als ihnen entsprechend ihres Anteils an der Bevölkerung eigentlich zustehen sollte.

Dasselbe gilt generell für die städtische Bevölkerung Österreichs und neben jünge­ren Altersgruppen auch für ArbeiterInnen, unter denen der Anteil an vom Wahlrecht ausgeschlossenen Nicht-StaatsbürgerInnen deutlich höher ist als unter Angestellten und öffentlich Bediensteten. Ebenfalls unterrepräsentiert sind niedrigere Einkom­mensschichten und Erwerbsarbeitslose – nicht zuletzt aufgrund des für eine Einbür­gerung erforderlichen Mindesteinkom­mens, durch das gezielt Menschen mit niedrigem Einkommen die Staatsbürger­schaft und damit das Wahlrecht vorenthal­ten werden soll. All diese Gruppen sind in der Wahlbevölkerung im Vergleich zur Wohnbevölkerung unterrepräsentiert und damit mit weniger Einfluss auf das politi­sche Geschehen in der indirekten Demokra­tie ausgestattet.

Als Betroffene der wachsenden Wahl­rechtslücke können damit nicht nur die unmittelbar selbst vom Wahlrecht Ausge­schlossenen und das politische System als Ganzes ausgemacht werden, das an Inklusi­vität und Legitimation verliert. Betroffen sind auch weitere Teile der Gesellschaft, die entgegen ihres zahlenmäßigen Anteils an der Bevölkerung in der Wählerschaft mit­unter stark unterrepräsentiert sind. Diese Erkenntnis ist zentral in der Debatte um den Wahlrechtsausschluss, gibt sie doch einen Hinweis darauf, wer aus machtpoliti­schen Gründen eventuell gegen eine Aus­weitung des Wahlrechts auftritt und wer eigentlich ein Interesse an einer Auswei­tung haben sollte.

Denn klar ist auch: Die Wahlrechtslücke, die sich in Österreich in den letzten Jahren geöffnet hat, wird sich von selbst nicht wie­der schließen. Die österreichische Bevölke­rung ist eine wachsende, die Gesellschaft eine mobile geworden; die demokratische Infrastruktur muss an diese sich verän­dernde Gesellschaft angepasst werden. Das demokratische Ideal besagt, dass Menschen die Möglichkeit haben sollen, an den Ent­scheidungen, von denen sie selbst betroffen sind, auch selbst mitzuwirken. Gemäß die­sem Ideal sollen jene, die dem Recht dauer­haft unterworfen sind, dieses auch selbst erzeugen und mitformulieren können, das heißt, die AutorInnen dieses Rechts und Politik also Sache der Allgemeinheit sein. Das ist es, was der Demokratie ihren hohen Grad an Legitimation und Akzeptanz ver­leiht. Österreich hat sich von diesem demo­kratischen Ideal zusehends entfernt und die wachsende Wahlrechtslücke hat in den letzten Jahren und Jahrzehnten ein strukturelles Demokratiedefizit entstehen lassen. Hundert Jahre nach seiner Einfüh­rung muss festgehalten werden, dass das allgemeine Wahlrecht kein allgemeines mehr ist.

Gerd Valchars ist Poli­tikwissenschafter mit den Schwerpunkten österreichische Regimelehre, Citizen­ship und Migration und Länderexperte Öster­reich des Global Citi­zenship Observatory (globalcit.eu) am Euro­päischen Hochschulin­stitut (EUI) in Florenz.

Der Text wurde zuerst in der »Stimme – Zeit­schrift der Initiative Minderheiten« publi­ziert.

Dass im niederösterreichischen Drasenhofen Jugendliche hinter Stacheldraht weggesperrt wurden, sorgte landesweit für einen Sturm der Entrüstung. Wenngleich sich der verantwortliche Landesrat Gottfried Waldhäusl immer noch im Amt befindet; die lautstarken Proteste zeigten Wirkung. Hingegen schaffen es die schockierenden Zustände in den Flüchtlingslagern an den europäischen Außengrenzen kaum mehr in die Öffentlichkeit. CHRISTOPH RIEDL, Asylexperte der Diakonie, berichtet über seinen Besuch des grie­chischen Lagers Vial auf der Insel Chios. Ein wichtiger Zwischenruf in Zeiten des Stillschweigens.

Der traurigste Ort Europas hat fünf Gesichter: Die vor der türkischen Küste gelegenen Inseln Lesbos, Chios, Samos, Leros und Kos. Auf diesen Inseln befinden sich die von der EU ins Leben gerufenen »Hotspot-Lager« mit den Namen Moria, Vial, Vathi, Lepida und Pyli. Mitte Oktober 2018 lebten in diesen Lagern 17.600 Men­schen, während die Unterbringungskapazi­tät gerade einmal für 6.400 Personen geplant wurde. Am schlimmsten ist die Überbelegung im Lager Vathi auf Samos. Dort sind mit fast 4.000 Personen sechs Mal so viele Asylsuchende »untergebracht« als eigentlich Platz hätten.

IMG 20181016 175007 scDie Menschen haben Angst, verrückt zu werden

»Die Menschen, die über Monate, manche viel länger als ein Jahr, in diesen Lagern leben müssen, haben Angst verrückt zu werden. Manche werden es tatsächlich oder sind es schon«, hat mir Apostol Veizis von Ärzte ohne Grenzen-Griechenland erzählt. »Viele Flüchtlinge sind schon mit schweren Erkrankungen angekommen. Eine ausreichende Versorgung mit Essen und Trinkwasser funktioniert nicht. Die Zustände machen krank«, betont Veizis, und kritisiert die völlig unzureichende medizinische Versorgung scharf.

Ja. Wir wissen, diese Menschen haben im Heimatland Krieg, Folter und Vergewalti­gung überlebt und sind schwer traumati­siert. Die Polizei bewacht die Lager nur sehr unzureichend. Für Frauen und Kinder gibt es keine Sicherheit vor Übergriffen und sexueller Gewalt.

Auch im Lager Vial auf Chios gibt es nur für die Hälfte der Menschen Platz. Die Situation im Lager, auf dem Gelände der Müllaufbereitungsanlage untergebracht, ist kaum in Worte zu fassen. Viele der über 2.000 »BewohnerInnen« schlafen in Zelten und unter aufgespannten Planen. 110 von ihnen sind schwangere Frauen. In den Hot­spot-Lagern kommt es immer wieder zu Selbstmordversuchen. Sogar Kinder ver­suchen sich das Leben zu nehmen.

Ich schäme mich in Grund und Boden für dieses Europa.

Ich treffe eine verzweifelte junge Afgha­nin, die mit ihrem chronisch kranken Kind im Lager Vial leben muss. Sie erzählt mir von ihrem Kind, das so dringend eine geeignetere Umgebung und Zugang zu medizinischer Versorgung brauchen würde. Ich frage sie nach den Lebensbe­dingungen im Lager. Sie berichtet von unbeschreiblichen Zuständen und oft unbenützbaren Sanitäranlagen. Oft werde während der Nacht in den Klos sogar das Wasser abgestellt. Ich fühle mich hilflos, ich kann der Frau kaum in die Augen schauen. Ich schäme mich in Grund und Boden für dieses Europa. All das geschieht unter strengster Beobachtung der EU-Agenturen Frontex und EASO. Es geschieht in Europa im Jahr 2018. Und: Dieses Konzept wird im Kontext des EU-Türkei-Deals als Pilotprojekt umgesetzt und ist wohl das Exportmodell für die Lagerphantasien außerhalb Europas, wovon die rechtspopulistischen Politike­rInnen träumen.

Ganz offensichtlich sind die Zustände gewollt. Der Vizepräsident der EU-Kom­mission Frans Timmermans sagte dazu im Oktober 2017: »Die Migranten müssen trotz der Schwierigkeiten auf den Inseln bleiben, weil ihre Übersiedlung auf das Festland eine falsche Nachricht aussenden und eine neue Ankunftswelle auslösen würde.« Die Zustände in den Lagern sind Teil eines europäischen Abschottungs- und Abschreckungskonzepts. Der politische Druck auf die griechische Regierung und Behörden ist immens. Es ist nicht gewollt, dass Schutzsuchende, denen es noch gelingt, mit Booten bis zu den griechischen Inseln zu kommen, Zugang zu einem Asyl­verfahren in der EU erhalten. Ihre Asyl-Anträge werden ohne Prüfung der Flucht­gründe abgelehnt. Ziel ist es, möglichst viele in die keineswegs sichere Türkei ab ­zuschieben. So wurden seit März 2016 rund 1.750 Personen in die Türkei zurück ­geschoben.

Versuchslabor schließen

Diese Versuchslabore für eine unmenschli­che europäische Asylpolitik müssen sofort geschlossen werden! Europa muss zu einer Flüchtlingspolitik zurückfinden, die ver­folgten Menschen solidarisch Schutz und Aufnahme gewährt. Dazu gehören insbe­sondere ein effektiver Zugang zu einem fairen Asylverfahren innerhalb der Euro­päischen Union und eine gerechte Vertei­lung und menschenwürdige Lebensbedin­gungen während des Verfahrens.

Die griechischen Inseln und Griechenland dürfen bei der Flüchtlingsaufnahme nicht allein gelassen werden. Denn die europäi­schen Werte, wie sie in der Europäischen Grundrechtecharta verankert sind, können nur durch Solidarität bewahrt werden.

Christoph Riedl ist Asylexperte der Diakonie Öster­reich und war im Oktober 2018 im Rahmen der Europäischen Asylkonferenz in mehreren grie­chischen Flüchtlingslagern und im Lager Vial auf Chios unterwegs. Diesen Erfahrungsbericht und mehr lesenswerte Geschichten findet ihr auch unter https://blog.diakonie.at/autorin/christoph-riedl

Selbst in der »stillsten Nacht des Jahreskalender« ist dem Staat Ruhestörung zuzutrauen.

Essay von ROBERT SOMMER

»Es gibt keine freie Gesellschaft ohne Stille«, hat Herbert Marcuse im berühmten Jahr 1968 geschrieben. Er meinte einen Bereich der Einsamkeit, in dem sich individuelle Freiheit entfalten könne. Als Empfehlung für die Verdamm­ten dieser Erde funktioniert der Spruch des Philosophen nicht. Die müssen endlich laut werden – vor allem in den Tagen vor der Stillen Nacht.

Die »stillste Zeit des Jahres« klingt, chro­nologisch betrachtet, mit der Stillen Nacht aus. Es ist die Zeit des Advent, in der Begriffe wie Ruhe, Stille, Schweigen Hoch­konjunktur haben, freilich nur in den christlichen Märchen, mit denen die Abris­skalender fürs Folgejahr gefüllt sind. Das sind die wahren – vom Volk freilich nicht allzusehr beliebten – Antiwitze. Kennen Sie den? Das BMW-Management hat sich der »Revolution der Stille« angeschlossen.

Kennen Sie auch den? Die Firma Denzel ist beim Aufstand dabei. Und auch den? Was unterscheidet die Revolution eines zornigen Volkes von der Revolution in der europäischen Kfz-Branche? Erstere blieb noch nirgends siegreich, zweitere hat schon verloren. Unter »leiser bzw. stiller Revolution« verstand Denzel das Projekt, mithilfe einer Kollaboration mit der chine­sischen Automarke BYD Österreich mit Stromern zu überschwemmen, die fünfmal billiger sind als die E-Autos westlicher Pro­duzenten. Österreich sollte demnach heute schon das Elektroautoparadies sein. Aber was ist die Realität? Fast niemand kennt den Namen BYD. Und der BMW-Konzern ist mit seiner »stillen Revolution« noch bla­mabler gescheitert. Die Autozukunft findet ohne BMW statt, wie eine Zeitung sarkas­tisch meldete.

Die Großbourgeoisie war schon immer genial darin, die schönsten Begriffe der deutschen Sprache in ihr PR-Esperanto ein­zuverleiben. Revolutionärinnen und Revo­lutionäre sind gut beraten, wenn sie sich das schönste aller Wörter, Revolution, wie­der zurückholen und auch mit Kategorien der Stille, der Ruhe, des Schweigens und, umgekehrt, auch des Lärms, des Lautseins, des Aufschreies, der Unruhe und der Hör­barkeit aktiver umgehen, weil sie die spezi­fische Qualität revolutionärer Politiken charakterisieren können.

Es gibt keine freie Gesellschaft ohne Stille

Das Schweigen kann ein Akt des Wider­standes sein, wenn es demonstrativ, ver­blüffend, konsequent, kompromisslos und massenhaft organisiert geschieht. Ich komme gleich zu einem Beispiel aus der zapatistischen Resistance. Umgekehrt wäre es für die Menschen aus dem sozia­len Rand, stumm gemacht durch eine autoritäre Erziehung, die man besser Dressur nennen müsste, später durch die Abwesenheit entsprechender Lobbys und durch das Fehlen von Plattformen der Interessensvertretung, kontraproduktiv, die Ruhe zu heiligen. So schnell, wie sie am Praterstern, selbstredend in angehei­tertem Zustand, wegen Ruhestörung oder Lärmerregung amtsbehandelt werden, so schnell sind sie später unter einem Fried­hofskreuz verscharrt, auf dem »Ruhe in Frieden« steht.

Herbert Marcuse, Kult-Philosoph der 68er Bewegung, hat die Linken gelehrt, Begriffe wie Langsamkeit, Stille und Schweigen kritisch zu besetzen und für sich zu reklamieren. Er hielt den Lärm für die akustische Begleitung eines im Prinzip gewaltförmigen und destruktiven kapita­listischen Fortschritts, das Bedürfnis nach Ruhe für ein revolutionäres Ferment und Stille für eine wesentliche Qualität einer befreiten Gesellschaft. In einem am Höhe­punkt der StudentInnenbewegung geführ­ten Gespräch »Über Revolte, Anarchismus und Einsamkeit« sagte er: »Es gibt keine freie Gesellschaft ohne Stille, ohne einen inneren und äußeren Bereich der Einsam­keit, in dem sich die individuelle Freiheit entfalten kann.« Oskar Maria Graf, der bayrische Schriftsteller, kann aus kalen­darischen Gründen diesen Satz Marcuses nicht gekannt haben, aber er hat vier Jahrzehnte vor Marcuse ebenfalls den Zusammenhang zwischen Lärm und Kapi­talismus wahrgenommen, und seine bay­rische Conclusio lautete: »Mach ma a Revolution, damit a Ruah is!«

Die Mächtigen, obwohl sie uns »Ruhe und Ordnung« befehlen, sind irritiert durch die ironischen Arten der Ruhe, gegen die es noch keine in den autoritä­ren Verordnungen festgelegten Sanktio­nen gibt. Unter welchem Titel hätten sie – nach der Zerschlagung des türkischen Frühlings auf dem Taksim-Platz – jenen bald weltberühmt gewordenen Aktivisten ins Gefängnis bringen können, der nichts anderes tat als zu stehen und zu schwei­gen? Mitten im Herzen Istanbuls versenkte er die Hände in den Hosentaschen und starrte stumm auf die riesigen türkischen Fahnen und das Atatürk-Bild am Atatürk-Kulturzentrum, das der Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan abreißen möchte. Videodokumentationen machten den Nicht-Handelnden zum weltweiten Popstar. Die Bereitschaftspolizei hat vom Istanbuler Gouverneur Hüsyein Ali Mutlu Order bekommen, keine weiteren Demonstratio­nen auf dem Taksim-Platz zuzulassen. Man kann ahnen, wie es in den Beamten und ihren Vorgesetzten innerlich brodelte: Ist das eine Demonstration? Darf einer einfach da stehen und in die Luft starren? Sollte man so einen nicht für vogelfrei erklären?

Keine Parolen, keine Rufe, keine Gesänge

Zur oben erwähnten Schweige-Perfor­mance in den Bergen von Chiapas, Mexiko, am 21. Dezember 2012, jenem Tag, der für hunderttausende europäische EsoterikerIn­nen aufgrund ihrer Auslegung des alten Maya-Kalenders das Datum des Weltunter­gangs sein sollte: Wer das im Internet zir­kulierende Video sah, war wohl genauso fasziniert und erstaunt über die 50.000 unbewaffneten, aber in ihren Wollmützen vermummten männlichen und weiblichen AnhängerInnen der Guerilla-Organisation EZLN, wie die neutrale, feindliche oder sympathisierende städtische Bevölkerung, als sie der plötzlich kolonnenweise, parallel in fünf Bezirkshauptstädten auftauchenden Indigenas gewahr wurde.

Der Polizei war die Mobilisierung für diese Dramaturgie des Schweigens – auch Transparente fehlten absolut – nicht gemeldet worden, sie war komplett ver­blüfft und fühlte sich wie ein unfreiwillig als Statistenheer verwendetes Publikum. Die dramatische Regie dieses größten Per­formance der Geschichte Mexikos hatte dafür gesorgt, dass im Zentrum aller fünf heimgesuchten Bezirkshauptstädte höl­zerne Bühnen errichtet worden waren, sodass sowohl Armee und Polizei, aber auch die jeweilige Stadtbevölkerung annehmen mussten, dass es zu Anspra­chen der EZLN-Führer kommen werde. Nichts dergleichen geschah. 50.000 Indios betraten in kilometerlangen Schlangen die potemkinschen Rednerbühnen und waren in diesem Moment der Erhöhung noch schweigsamer als bei ihrem Anmarsch auf die Städte. Keine Parolen, keine Rufe, keine Gesänge wurden ange­stimmt, keine politische Selbstdarstellung klärte die verblüfften Augenzeugen auf (Ohrenzeugen gab es nicht). Lediglich die Flaggen der mexikanischen Nation und die der Guerilla wurden vorneweg herge­tragen. So abrupt das Spektakel anfing, so rasch war es vorbei.

Die Vermummten verschwanden, wie sie gekommen waren, in Richtung heimat­licher Berge und im Bewusstsein, ein herrliches Theater der Stille aufgeführt zu haben, das die von den Eliten abhängigen Medien ganz schlecht aussehen ließ, hat­ten sie doch in den Wochen vorher die Nachricht verbreitet, die Bewegung der Zapatisten hätte sich aufgelöst. In einem Kommuniqué der zapatistischen Kom­mandantInnen hieß es später bloß, an die Repräsentanten der neoliberalen Medien adressiert: »Konntet ihr das hören? Es ist der Klang ihrer Welt, die zusammen­bricht. Es ist der Klang unserer Welt, die wiederkehrt.«

Eine Peinlichkeit im Bierzelt

Der Schreiber dieser Zeilen gesteht, dass er bei Ansicht dieses Videos seine Tränen nicht unterdrücken konnte; ähnliche Emotionen stellten sich später vor dem Tanzboden eines Südostkärntner Feuer­wehrfestes ein. Ein junger Mann mit Down-Syndrom betrat, wie die Indios die Rednerbühne, den noch leeren Tanz ­boden, der bereits von den wie Zillertal-Klone aussehenden generalalpenländi­schen Klischeemusikanten mordsmäßig beschallt war. Der Mann tanzte die ganze Zeit allein, seine Choreografie entfaltete sich in der ganzen Weite und Tiefe der Tanzfläche, auf die sich niemand traute – vielleicht in der Ahnung, dass jeder andere Tänzer (und wohl auch die meisten der Tänzerinnen) neben dem »Mongoloiden«, wie die Dörfler heute noch sagen, sehr höl­zern und sehr akademisch gewirkt hätte. Der Mann stahl jedenfalls den Zillertal- Klonen die Show, was dem Autor dieser Zeilen, aber nicht nur ihm, Freude berei­tete, denn diese Klone hatten sich vor der Soloperformance des Dorf-Outsiders bereits mit dem Publikum mittels diverser Schwie­germütterwitze, die es schon seit ewigen Zeiten gibt, auf kärntnerisch-tirolerische Art verbrüdert.

Die geschilderten Vorfälle in Chiapas und in Kärnten hatten auf den ersten Blick nichts miteinander gemein. Was der Bur­sche mit Down-Syndrom unternahm, war der Versuch, ein paar Minuten er selbst zu sein, abseits vom Alltag des Dorfes, in dem er verstummt, weil die Voraussetzungen der Kommunikation fehlen: die Bereit­schaft der Normalos, mit dem Stigmatisier­ten »auf Augenhöhe« zu leben. Bei seinem Auftritt fiel auf, wie wenig Empathie ihm von den Heurigenbänken her entgegen­schlug, als ob dem Dorf diese nicht geplante und nicht konzessionierte Sonder-Show über und über peinlich wäre: Was sagen die (nicht vorhandenen) TouristInnen zu die­ser Regelwidrigkeit? Man kann als Dorf­fremder nicht wissen, ob der junge Mann die Freiheit seines Körpers genoss oder die Subversivität der Aktion. Auch in diesem Punkt eine Ähnlichkeit mit der zapatisti­schen Störung des guten Benehmens.

Der junge Mann tanzte unbewusst für seine zehntausenden Leidensgenossen stumm vor sich hin und borgte sich das Dröhnen des Schlagzeugs der Alpenrocker aus, denen man ansah, dass sie ihren Sound lieber dem »normalen« Publikum gewidmet hätten. Die durchschnittlichen Marginali­sierten können sich die Katzenmusik, die sie bräuchten, um in ihrem Existenzkampf wahrgenommen zu werden, von nieman­dem ausborgen.

Dass das Verstummen der Unerwünsch­ten zum Thema gemacht wird und dass immer wieder Bilder vom Alltag der Ent­würdigung, die die Betroffenen als »Selbst­verständlichkeit« gar nicht mehr als erwähnenswert empfinden, in die Öffent­lichkeit gelangen, ist NGO’s wie der »Bettel-Lobby« und parteiischen Projekten wie der Straßenzeitung Augustin (an deren Grün­dung der Verfasser dieser Zeilen nicht unbeteiligt war – die Red.) zu verdanken. Jede/jeder, die/der in Wien bettelt und weder weiß genug noch abendländisch genug aussieht, könnte Bücher mit demüti­genden Erlebnissen füllen. Dokumentiert werden sie kaum (weil: siehe oben), wäh­rend die MacherInnen der Schlagzeilen an ihren selbstfabrizierten Stereotypen picken: etwa am Klischee der Ost-»Krüp­pel«, die von verschlagenen östlichen Hin­termännern zur mitleidsgenerierenden Handikap-Inszenierungen gezwungen werden.

Täglich die Polizei im Wohnzimmer

Sollte einmal die Geschichte des Augustin geschrieben werden, müssten die Gerech­ten unter den LeserInnen, die laut auf­schreien, wo die Armen wegen der vielen Abhängigkeitsverhältnisse zum Kuschen gezwungen sind, zum Preis der Stadt Wien für zivilen Ungehorsam (den es erst zu schaffen gilt) nominiert werden. »Liebe Leute vom Augustin. Ich war heute zwi­schen 12:30 und 12:50 zufällig Zeuge einer Amtshandlung der Polizei gegen einen Bettler auf der Mariahilfer Straße in Wien«, schrieb Christian W., an die Redaktion. »Ich weiß, dass es solche Szenen in diesem Land täglich zuhauf gibt, trotzdem möchte ich euch eine kurze Schilderung und zugehö­rige Fotos schicken. Ich sehe einen Bettler, der zusammengekauert vor einem Geschäft in der Mariahilfer Straße sitzt. Zwei junge Polizisten steuern auf ihn zu und nehmen ihm sein Geld, das er in einem Becher gesammelt hat, weg. Ich mische mich ein und frage, was los sei. Ein Polizist antwor­tet, dass der Mann gegen das Bettelverbot verstoßen habe und daher weggebracht werden wird. Auf meinen Einwand, dass es in Österreich kein Bettelverbot gebe, präzi­sierte er auf gewerbsmäßiges Betteln.«

Wir bleiben bei diesem exemplarischen Fall, weil der zivilcouragierte Augenzeuge Christian W. seine Intervention als nicht erschöpfend empfand. Er bat die Beamten, dem Mann doch einfach das Geld zurückzu­geben und ihn gehen zu lassen. Zur Überra­schung der aufmerksam gewordenen Pas­santInnen tauchten plötzlich drei Polizei­autos auf. Versuche des Bettlers, langsam wegzugehen (schnell konnte er aufgrund seiner körperlichen Behinderung sowieso nicht verduften), wurden von den beiden ersthandelnden Polizisten vereitelt, indem sie sich breitbeinig vor den Bettler stellten und ihm in der deutschen Kinder- und Hundeabrichtungssprache den Befehl gaben, stehen zu bleiben.

Christian W. behauptet schließlich, er sei von einem Teil der Einsatzgruppe verhöhnt worden, als sie von ihm fotografiert wurde. »Auch mit dem Wissen, dass das mittler­weile rassistischer und menschenverach­tender Alltag in Österreich ist«, so endet das Mail des Dokumentaristen, »empfinde ich größte Empörung darüber, wie hier mit Menschen umgegangen wird, es kotzt mich an.« Der diesbezügliche Bericht im Augus­tin erschien nicht ohne Ermunterung der LeserInnen, zu genau beobachtenden »StraßenkorrespondentInnen« nach dem Vorbild des Christan W. zu werden.

Weil die Zeit der Weihnachtsgeschenke ausgebrochen ist: Den Habenichtsen dieser Stadt ist Stille UND Lärm zu wünschen. Der von ihnen (mithilfe der HelferInnen aus der Mitte der Gesellschaft) produzierte Lärm muss laut genug sein, um die Empathischen zu sammeln; die Stille muss so still sein wie das Wohnzimmer eines Großbürgers in einem Haus in guter Lage. In das derzeit größte Wohnzimmer der Unbehausten Wiens, den Praterstern, verschafft sich die Polizei jeden Tag Zutritt, ohne Wohnzim­merdurchsuchungsgenehmigung. Das ist Ruhestörung, die vom Staat ausgeht. Dagegen hilft nur die bekanntere Art von Ruhestörung: Lärm, der nicht vom Staat ausgeht …

Mit dem »Sozialversicherungsorganisationsgesetz« plant die Regierung einen dramatischen Einschnitt in die Grundlagen und Strukturen der österreichischen Sozialversicherung.

Von MICHAEL GRABER

Der österreichische Sozialstaat beruht auf mehreren Säulen. Eine der wesentlichen ist das System der Sozialver­sicherung. Jährlich werden derzeit etwa 60 Milliarden Euro über die Kassen der Sozialversicherung umgesetzt. Davon stammen etwa 50 Mrd. Euro aus den Bei­trägen der Versicherten und 7 Mrd. aus der Ausfallhaftung des Bundes. In die Krankenversicherung gehen 17 Mrd., in die Pensionsversicherung 40 Mrd. und in die Unfallversicherung 1,5 Mrd. Euro. Letztere wird durch eine Senkung der Dienstgeberabgaben um 500 Millionen Euro bereits ausgeräumt.

Im Vergleich dazu beträgt das gesamte Budget des Bundes knapp 80 Mrd. Euro, d. h. die Mittel der Sozialversicherung machen drei Viertel des Bundesbudgets aus. Kein Wunder, dass da Begehrlichkei­ten bestehen, sowohl die der Regierung, hinein zu regieren, als auch die Begehr­lichkeiten privater Versicherungen, sich daraus den einen oder anderen Happen anzueignen. Immerhin hat die größte österreichische private Versicherung einen Vertrauensmann in der Regierung.

Was ist konkret geplant?

Hinter dem Vorhang der Reduzierung der Sozialversicherungsträger von 21 auf fünf will die Regierung die Kräfteverhältnisse in der neu zu bildenden Österreichischen Gesundheitskasse und in der Pensionsver­sicherung nachhaltig zu Gunsten der UnternehmerInnenverbände verändern. Nach außen wird das Argument verbreitet, dass damit zahlreiche »FunktionärInnen« und damit Kosten von einer Milliarde Euro eingespart würden. Das Gegenteil ist der Fall, wie bereits in zahlreichen Stellung­nahmen nachgewiesen wurde. Die Reform könnte in den nächsten Jahren bis zu einer Milliarde Euro kosten, was wiederum zu Lasten der Versicherten gehen würde.

Entscheidend ist, dass in Zukunft in den Gremien der Gesundheitskasse und der Pensionsversicherungsanstalt »Parität« herrschen soll, das heißt zu gleichen Teilen zwischen ArbeitnehmerInnen- und Arbeit­gebervertreterInnen besetzt und damit der bestimmenden Einflussnahme der Vertre­tungen der ArbeiterInnen und Angestell­ten, also der Versicherten, entzogen wer­den soll. Denn bisher hatten die Stimmen der von Arbeiterkammer und Gewerkschaft nominierten VertreterInnen eine klare Mehrheit. Damit wird die verfassungsmä­ßig verbriefte Selbstverwaltung der Versi­cherten und ihrer Beiträge ausgehöhlt, ja faktisch abgeschafft.

Die Sozialversicherungsbeiträge, egal, ob vom Bruttogehalt abgezogen, oder als soge­nannte Lohnnebenkosten vom Dienstgeber eingezahlt, stammen ausschließlich aus der Wertschöpfung und damit der Arbeitsleis­tung der unselbstständig Beschäftigten. Nur sie haben also das verfassungsmäßig verbriefte Recht, auf die Sozialversicherung Einfluss zu nehmen. Bemerkenswert ist, dass im leitenden Gremium der Versiche­rung der öffentlich Bediensteten keine Ver­tretung der UnternehmerInnen und eine Mehrheit der DienstnehmerInnen gegen­über den VertreterInnen der Regierung als DienstgeberInnen vorgesehen sind. Offen­bar ein Zugeständnis an die »schwarze« Gewerkschaft.

Klassendünkel in der Sozialversicherung

Zusätzlich will sich die Regierung direkte Eingriffsrechte dadurch verschaffen, dass die Aufsichtsfunktion des Sozialministeri­ums und des Finanzministeriums extensiv ausgelegt wird, z. B. durch Eingriffe in die Tagesordnung der leitenden Gremien oder durch Genehmigung von Personalentschei­dungen in Führungsfunktionen oder durch das Entscheidungsrecht bei Gleichstand der Stimmen in den leitenden Gremien. Als diskriminierend für die VertreterIn­nen der ArbeitnehmerInnen müssen die Voraussetzungen zur Entsendung in die Vertretungskörperschaften der Sozialver­sicherung angesehen werden. Während AkademikerInnen und GeschäftsführerIn­nen irgendeiner Firma automatisch eine Qualifikation zur Entsendung in die Ver­tretungskörperschaften zugesprochen wird, müssen andere – z. B. BetriebsrätIn­nen oder GewerkschafterInnen – erst eine entsprechende Fachausbildung und eine Eignungsprüfung durch die beiden Minis­terien absolvieren.

Der zukünftige Dachverband der Sozial­versicherungsträger wird wesentlicher Kompetenzen beraubt, so z. B. die Wahr­nehmung der allgemeinen und gesamt­wirtschaftlichen Interessen, die Vertre­tung der Sozialversicherungsträger in all­gemeinen Angelegenheiten, die Erstellung von Gutachten, die Ausrichtung von Tagungen und die Vertragsabschlusskom­petenz, kurz das »politische Mandat«, die milliardenschweren jährlichen Beitrags­leistungen gegenüber den staatlichen Instanzen geltend zu machen. Dies wird noch dadurch unterstrichen, dass die Vor­sitzführung halbjährlich wechseln soll.

Eine weitere Weichenstellung zuguns­ten der Unternehmen erfolgt durch die geplante Verlagerung der Kontrollfunk­tion von den Krankenkassen zum Finanz­ministerium. Während die Krankenkassen nicht nur die ordnungsgemäße Einhebung der Sozialversicherungsbeiträge, sondern auch die kollektivvertraglich korrekte Auszahlung der Löhne und Gehälter prüft, würde diese für die Unternehmen »läs­tige« Prüfung damit wegfallen.

Regierung stellt die Weichen zugunsten der Unternehmer

Die Verfassungswidrigkeit all dieser Maß­nahmen ergibt sich schon allein aus § 120c der Bundesverfassung, in dem es heißt: »Die Organe der Selbstverwaltungs­körper sind aus dem Kreis ihrer Mitglie­der nach demokratischen Grundsätzen zu bilden.« Das sind die 7,1 Millionen Versi­cherten und nicht die Unternehmen, und schon gar nicht die Regierung. »Nach demokratischen Grundsätzen« würde auch bedeuten, dass die Versicherten alle ihre VertreterInnen selbst wählen können, eine Forderung, die der Gewerkschaftliche Linksblock und die KPÖ seit Jahrzehnten vertreten.

Vor kurzem hat der Vorsitzende des Hauptverbandes der Sozialversicherungs­träger Biach (ÖVP), ebenfalls diese Forde­rung erhoben. Dies würde zwar das Bewusstsein und die Beziehung der Versi­cherten zu ihrer Versicherung erhöhen, dies allein würde allerdings an den Kräfte­verhältnissen in der Sozialversicherung auf der Basis der »Parität« nichts ändern. Würde die Sozialversicherung entspre­chend den Intentionen der Regierung umgebaut, hieße das freie Hand für die UnternehmerInnenvertreter mit Hilfe der Regierung. Diese könnten jede Verbesse­rung der Leistungen für die Versicherten verhindern und jede Verschlechterung von Leistungen durchsetzen. So besteht die Gefahr neuer Selbstbehalte, höhere Rezept- und Spitalsgebühren und verringerte Leis­tungen, vor allem aber die Öffnung von Töpfen der Sozialversicherung oder bishe­riger Leistungen für private, profitorien­tierte Versicherungs- und Spitalskonzerne. Der Anfang ist bereits durch das Geschenk an die Unternehmer gemacht, die 500 Mil­lionen Euro weniger in die Allgemeine Unfallversicherung einzahlen sollen.

Enteignung verhindern

Ungeachtet früherer Kritik an der Geba­rung und den oft ungenügenden Leistun­gen der Krankenkassen, für die überwie­gend die Sozialdemokratie verantwortlich ist, geht es jetzt darum, die Vernichtung der Selbstverwaltung zu blockieren. Die im Parlament und im Bundesrat vertreten Oppositionsparteien hätten die Möglichkeit dazu. Die Arbeiterkammer und der ÖGB müssten, falls das Gesetz doch beschlossen wird, den Verfassungsgerichtshof anrufen. Entscheidend ist aber der Widerstand in den Betrieben, den Kommunen, den Dienst­stellen und auf der Straße. Es geht darum, die Enteignung der Millionen Versicherten und ihrer Beiträge zu verhindern.

An Jubelmeldungen fehlte es nicht. Die Trendwende am Arbeitsmarkt sei erreicht, behauptete das Leitungsduo des AMS Johannes Kopf (ÖVP) und Herbert Buchinger (SPÖ) zu Jahresbeginn unisono. Von nun an, so wurde suggeriert, würde die Erwerbsarbeitslosigkeit nach und nach sinken. Die Mainstream-Medien griffen diese Aus­sagen unkritisch und ungeprüft auf. Die Kehrseite die­ser Erfolgsmeldungen ist klar: wer jetzt noch länger­fristig arbeitslos ist, ist offenbar selber schuld…

Von KARL REITTER

Welche existenzbedrohenden Maß­nahmen die Regierung tatsächlich gegen die Erwerbsarbeitslosen ausheckt, ist bis dato ungewiss, vor allem, ob und in welchem Ausmaß die Notstandshilfe abgeschafft wird. Unsicherheit, Ungewiss­heit und Existenzängste sind seit jeher ein probates Mittel, Menschen einzuschüch­tern und in Passivität verharren zu lassen. Es wäre naiv zu glauben, unsere Bundes­regierung wüsste das nicht. Auch so kann Widerstand geschwächt werden.

In diesem Beitrag soll, gestützt auf die offiziellen Daten des AMS und der Statis­tik Austria, gezeigt werden, dass von einer Trendwende keine Rede sein kann. Werfen wir erstmals einen Blick auf die angeblich so beeindruckend gesunkenen Zahlen (siehe Grafik unten).

Diagramm Erwerbsarbeitslose ohne SchulungZu diesen Zahlen sind noch die Schu­lungsteilnehmerInnen hinzuzurechnen, die von Statistik Austria nicht berücksich­tigt werden. Laut AMS-Daten stieg die Zahl der permanent in Schulung befindli­chen Personen kontinuierlich von 32.000 im Jahre 2001 auf 72.000 im Jahre 2017. Wohl ist die Zahl der Erwerbslosen (inklu­sive SchulungsteilnehmerInnen) von 424.523 im Jahre 2016 auf 412.075 im Jahre 2017 gesunken.12.448 Personen weniger beim AMS gemeldet, welch Trendwende durch Zahlenzauber; Schulungen werden nicht berücksichtigt, oftmals wird von der nationalen, realistischen Berechnung der Arbeitslosigkeit auf die Eurostat-Defini­tion gewechselt, die Personen als beschäf­tigt definiert, wenn sie zumindest eine Stunde pro Woche Erwerbsarbeit verrich­teten. Aus 412.075 Arbeitslosen im Jahre 2017 werden so nach der Eurostat-Defini­tion nur noch 247.900.

Die Entwicklung der Arbeitslosenquote zeigt ein sehr ähnliches Bild wie das abge­bildete Diagramm. 1994 betrug sie 6,5 %, um 2014 das erste Mal die 8 % Marke zu überschreiten. 2015 und 2016 betrug sie 9,1 % um 2017 auf 8,5 % zu sinken. Aber erst der historische Rückblick offenbart das dramatische Ausmaß der steigenden Erwerbsarbeitslosigkeit (siehe Grafik unten):

QualifikationSank die Arbeitslosenrate in den 70er- Jahren bis fast auf 1 %, so folgte in den 80ern ein rasanter Anstieg, der seitdem zwar langsamer, aber umso stetiger ver­läuft. In den 2010er-Jahren kam es noch­mals zu einer Erhöhung. Wie die Statistik zeigt, kam es immer wieder zu leichten Rückgängen, so auch von 2016 auf 2018. Dies aber als großen Durchbruch zu ver­kaufen, dazu bedarf es schon einiges an Unverfrorenheit.

Ein genauerer Blick auf die Ursachen des Rückgangs

Wie ist dieser Rückgang überhaupt zustande gekommen? Wer profitiert davon und in welchem Ausmaß? Die Analyse zeigt Verblüffendes. Üblicherweise wird die Qua­lifikation als Schlüssel zum Job gepriesen. Zweifellos ist die Arbeitslosenrate bei Hochgebildeten am niedrigsten, bei Unqua­lifizierten am höchsten. Daran hat sich kaum etwas geändert, aber es ist schon bemerkenswert, dass der Rückgang der Erwerbsarbeitslosenrate auf das Konto der wenig Gebildeten geht. Dies zeigen die hochoffiziellen Statistiken des AMS. Dies lässt die Vermutung zu, dass es sich bei den zusätzlichen Arbeitsplätzen eher um schlecht bezahlte, prekäre handelt (siehe Tabelle oben).

Arbeitslosenquote 1950 2016Aber nicht nur das. Das eigentliche Kernproblem liegt in den permanent sinkenden Wochenarbeitsstunden, die tatsächlich geleistet werden. Das heißt, das nachgefragte Arbeitsvolumen teilt sich auf immer mehr Beschäftigte auf. Oder anders gesagt, die steigende Zahl der Beschäftigungsverhältnisse ist durch den Rückgang der tatsächlich geleisteten und daher auch bezahlten Arbeitsstun­den pro Erwerbstätige erkauft. Diese Ent­wicklung betrifft sowohl Männer als auch Frauen.

Durchschnittliche, tatsächlich geleis­tete Wochenarbeitszeit inklusive Über­stunden laut Statistik Austria:

Die durchschnittlich, tatsächlich geleis­tete Wochenarbeitszeit ist von 36,2 Stun­den im Jahre 2004 auf 31,9 Stunden im Jahre 2017 gesunken. Die Schere zwi­schen der Anzahl der Beschäftigten und den von ihnen geleisteten Arbeitsstun­den öffnet sich. Die Zahl der Beschäfti­gungsverhältnisse ist von 2004 bis 2017 von 3.676.700 auf 4.260.500 gestiegen. Bei den insgesamt pro Jahr geleisteten Arbeitsstunden gab es hingegen nur einen Zuwachs von 6.775 Millionen auf 6.927 Millionen. Stiegen die Beschäfti­gungen um 15,8 %, so die Arbeitsstunden nur um 3,3 %. Diese Zahlen sollten auch all jenen zu denken geben, die in der Arbeitszeitverkürzung einen entschei­denden sozialpolitischen Hebel erkennen möchten. Eine Arbeitszeitverkürzung auf 35 Stunden soll, so informieren gewerk­schaftlich orientierte Webseiten, 40.000 bis 50.000 neue Arbeitsplätze bringen. Selbstverständlich ist diese Forderung unbedingt zu unterstützen, aber die Frage bleibt offen, welche Perspektive all jene haben, denen eine mögliche Arbeitszeit ­verkürzung keinen Job verschaffen würde, und das ist die überwiegende Mehrheit.

durchschnttliche ArbeitszeitFazit

Halten wir fest: Die nachgefragte Arbeit teil sich auf immer mehr Menschen auf. Aller­dings erfolgt die Verteilung der vorhande­nen Arbeit keineswegs gleichmäßig. Im Gegenteil. Männer haben nach wie vor mehr entlohnte Beschäftigung als Frauen. Aber für alle gilt: ein Teil ist überbeschäf­tigt, der andere nur gering beschäftigt, wenn überhaupt. Viele, insbesondere in besseren Jobs, sind permanent zu Über­stunden gezwungen, andere sind froh, wenn sie überhaupt bezahlte Beschäftigung finden. Marx hat diese Entwicklung ganz klar antizipiert. »Die Überarbeit des beschäftigten Teils der Arbeiterklasse schwellt die Reihen ihrer Reserve, während umgekehrt der vermehrte Druck, den die letztere durch ihre Konkurrenz auf die erstere ausübt, diese zur Überarbeit und Unterwerfung unter die Diktate des Kapi­tals zwingt. Die Verdammung eines Teils der Arbeiterklasse zu erzwungenem Müßig­gang durch Überarbeit des andren Teils und umgekehrt, wird Bereicherungsmittel des einzelnen Kapitalisten und beschleu­nigt zugleich die Produktion der industriel­len Reservearmee auf einem dem Fort­schritt der gesellschaftlichen Akkumula­tion entsprechenden Maßstab.« (Marx, Kapital Bd. I, 665 f.) Diese Situation ist ein­getreten. Welche linken Antworten gibt es auf diese Probleme? Ich denke grundsätz­lich zwei: Eine sozialdemokratische und eine kommunistische, die sich wohl in manchen Punkten berühren, letztlich aber doch in völlig unterschiedliche Richtungen weisen. Die sozialdemokratische setzt auf keynesianische Wirtschafts- und Finanz ­politik und hofft dadurch, wieder Verhält­nisse wie in den 70er Jahren bewirken zu können. Die kommunistische Antwort hingegen setzt auf mehr Rechte und Kompetenzen der Menschen, nicht zuletzt gegenüber dem AMS, und plädiert für bedingungslose Existenzsicherung für alle. Diese Alternativen wären zu diskutieren.

Der 12-Stunden-Tag ist in vielen Bereichen schon Realität – Österreichische Gewerk­schaften scheinen dem nichts entgegen­setzen zu können. Aber warum ist das so? RAINER HACKAUF begibt sich für die Volksstimme auf Motivforschung.

Seit dem schwarz-blauen Regierungsan­tritt im Dezember 2017 folgt auf Gewerkschaften und Arbeiterkammer (AK) ein Angriff dem anderen. Ziel des schwarz­blauen Regierungsprojektes ist es, deren Einfluss zu Gunsten von FPÖ-Vertreter_ innen und vor allem Vertreter_ innen aus dem Umfeld der Industriellenvereinigung (IV) zurückzudrängen. Auf der Wunschliste der Unternehmer_innenverbände ganz oben steht jedoch die Schwächung flächen­deckender Kollektivverträge zu Gunsten von Verhandlungen auf betrieblicher Ebene. Doch warum kommen Gewerkschaf­ten und AK trotz dieser massiven Angriffe bisher nicht mehr in die Offensive?

Das österreichische Modell der Sozialpartnerschaft

Deutlich sichtbar wird, dass diese schlicht verlernt haben, auf Angriffe zu reagieren. Das seit 1945 in Österreich stark ausge­prägte System der Sozialpartnerschaft setzt auf starke Zurückhaltung bei der Austra­gung von Konflikten zwischen Gewerk­schaften und Arbeiterkammer auf der einen, Wirtschaftskammer (WKO) und IV als Unternehmer_innenverbände auf der anderen Seite. Dieses System wurde durch die Unternehmer_innenseite während der letzten fünfzehn Jahre Schritt für Schritt in Frage gestellt.

Enge Verzahnung mit der SPÖ

Trotz der schrittweisen Aufkündigung durch die Unternehmer_innen konnten sozialpartnerschaftliche Prozesse vermit­telt durch die Regierungsbeteiligung der SPÖ weiterhin erzwungen werden. Wichtig dabei war, dass der/die Sozialminister_in in den letzten Jahren traditionell durch eine_n rote_n Gewerkschafter_in gestellt wurde. Damit konnte der Einfluss in den Institutio­nen abgesichert werden. Kein Wunder also, dass es vor allem rote Gewerkschafter_ innen waren, die die Parteiführung nach den Wahlen dazu gedrängt haben, mit der FPÖ Koalitionsgespräche zu führen. Die Absicherung des Einflusses via Regierungs­beteiligung ist nun jedoch abgeschnitten. Alternative Strategien scheint es in der Führungsspitze von AK und ÖGB schlicht nicht zu geben.

Angespannte finanzielle Situation der Gewerkschaften

Die finanziellen Turbulenzen in Folge der BAWAG-Affäre vor über zehn Jahren wirken bis heute nach. So wurde ein Großteil des milliardenschweren Streikfonds des ÖGB durch die hauseigene Bank in der Karibik verspekuliert. Geheim gehalten wird, ob und in welcher Höhe mittlerweile wieder so ein Fonds existiert. Dies hat den ÖGB in Folge der Pleite zu einem massiven Spar­programm auf Kosten der eigenen Mitarbei­ter_innen gezwungen. Auch einzelne Teil­gewerkschaften stehen finanziell mit dem Rücken zur Wand. Sind doch Mitgliederzah­len in wesentlichen Branchen mittlerweile seit Jahrzehnten rückläufig. Zusätzlicher Effekt: Aufgrund dieser finanziellen Situa­tion, hat die ÖGB-Zentrale an Einfluss auf Teilgewerkschaften verloren.

Fehlende Konflikterfahrung auf Grund von Stellvertreter_innenpolitik

In weiten Bereichen gibt es kaum mehr Erfahrungen im Umgang mit Arbeitskämp­fen. Das ist freilich nicht in allen Branchen so. Ausnahmen stellen die gewerkschaftlich gut organisierten Bereiche der Bahn, Teile der Produktion und im meist wenig beach­teten Sozial- und Gesundheitsbereich in Oberösterreich dar. Jenseits davon gibt es aber auch unter den Kolleg_innen kaum mehr eine Vorstellung davon, was Gewerk­schaft als Bewegung sein kann. Stellvertre­ter_innenpolitik ist auf allen Ebenen das vorherrschende Modell. Dies wurde auch beim Streik im Sozialbereich vor knapp einem Jahr sichtbar. Hier haben sich die involvierten Teilgewerkschaften schlicht als unfähig erwiesen, die konfliktbereiten Kolleg_innen adäquat zu unterstützen. Daraus folgt auch: Der Angriff auf die gesetzlich verankerte »Selbstverwaltung« der Krankenkassen erzeugt so kaum einen Aufschrei. Die Co-Leitung der Kassen durch Gewerkschaftsfunktionär_innen oder Hauptamtliche wurde im Alltag schlicht nicht als »Selbstverwaltung« empfunden.

Unterschiedliche Realitäten

Für viele unselbständig Erwerbstätige sind Maßnahmen wie der 12-Stunden-Tag schon längst Realität. Vor allem in den gut orga­nisierten Branchen wie bei der Bahn oder in der Produktion haben sich Gewerkschaf­ten flexiblere Arbeitszeiten im Zuge von Kollektivvertragsverhandlungen durch höhere Löhne auch schon längst »abkau­fen« lassen. In Krankenhäusern oder unter prekär Beschäftigten beispielsweise sind längere Arbeitszeiten aus anderen Gründen normal. Das sind zudem oftmals Branchen, in denen Gewerkschaften kaum positiv prä­sent sind. Der Organisationsgrad ist hier zumeist auch an den Kollektivverträgen ablesbar. Diese gelten zwar flächende­ckend, beginnen aber mitunter bei Ein­stiegsgehältern von weit unter 7 Euro pro Stunde. Hie wie da führt das zum Gefühl, dass Neuregelungen der Arbeitszeiten schlichte Legalisierung des Ist-Zustands sind. Damit einhergehende Verschlechte­rungen werden hingegen oft kaum wahrge­nommen.

Zwei Logiken der Organisierung

Hier treffen eigentlich unterschiedliche Organisierungslogiken aufeinander, wie am Beispiel der Gewerkschaft vida sichtbar wird. Als gut organisierte Eisenbahnerge­werkschaft macht es Sinn auf die jährlichen Kollektivvertragsverhandlungen zu setzen. Als schlecht organisierte Dienstleistungsge­werkschaft – die vida ist u. a. für den Bereich Reinigung, Gastro und Hotel zuständig – müsste es darum gehen, gemeinsam mit den Kolleg_innen vor Ort auf vermehrte Konfliktbereitschaft zu set­zen. Das um in Bereichen in denen meist Migrant_innen und Frauen arbeiten, Ver­trauen aufzubauen und mittelfristig Mit­glieder zu gewinnen. Zwei konträre Logi­ken, die innerhalb einer Gewerkschaft schwer zu handhaben sind.

Blick über den Tellerrand

Gewerkschaften anderswo standen in der Vergangenheit vor durchaus ähnlichen Herausforderungen. Vor dem Hintergrund massiver Mitgliederverluste – u. a. eine Folge des schrumpfenden Produktionssek­tors – mussten Gewerkschaften in den 1980er-Jahren in den USA neue Organisie­rungsmodelle erfinden. Dies um in den schlecht bezahlten aber boomenden Dienst­leistungsbranchen Fuß zu fassen, wo meist Frauen oder Migrant_innen mit oder ohne Aufenthaltsstatus arbeiten. Ken Loach greift diese Wende in seinem bekannten Film »Bread and Roses« auf. Aber auch in Nach­barländern wie der Schweiz oder Deutsch­land kam es vor mehr als zehn Jahren zu einem Umdenken. Statt auf Kontrolle des Zugangs zum Arbeitsmarkt, setzen Gewerk­schaften hier auf konsequente Organisie­rung durch erhöhte Konfliktbereitschaft.

Linke Rituale

So wie ritualisierte Kollektivvertragsver­handlungen von links mitunter zurecht kri­tisiert werden, werden uns die ebenfalls zum Ritual gewordenen Appelle von Links in Richtung Gewerkschaften nach »5 % mehr Lohnerhöhung statt 3 %« oder »Streik« auch nicht weiter bringen. Diese sind nämlich mindestens so strategielos wie das Agieren der Gewerkschaftsführung unter Schwarz-Blau.

Rainer Hackauf hat die gewerkschaftliche Anlaufstelle für undo­kumentiert Arbeitende (UNDOK) mitinitiiert.

Klimawandel, Luftverschmutzung, Wasser­knappheit, Versagen großtechnischer Sys­teme, radioaktive Verseuchung, Artensterben und andere Katastrophen werden für uns immer mehr zum Alltag. Die Erde, auf der sich die Menschheit entwickelt und die uns von Anfang an getragen und ernährt hat, zeigt sich in den letzten Jahrzehnten immer mehr von ihrer bedrohlichen Seite. Rächt sie sich an uns?

VON PETER FLEISSNER

Holozän

Um zu überleben und ihre Lage zu verbes­sern, haben die Menschen schon vor 2,6 Millionen Jahren, seit der Altsteinzeit (Paläo­lithikum) auf die Erde Einfluss genommen. Als Nomaden jagten sie Tiere, später zähm­ten sie diese und wohnten in Dörfern. Vor rund 12.000 Jahren begannen sich die öko­logischen Bedingungen zu verbessern: Auf der Erde wurde es wärmer. Diese neue erd­geschichtliche Phase, das Holozän (auch Nacheiszeitalter genannt), brachte uns ein relativ stabiles Klima. Die Menschen wur­den sesshaft, entwickelten die Landwirt­schaft, formten Metalle, bauten Städte und schufen Hochkulturen. Wie frühe Kulte und Naturgottheiten bezeugen, waren die Men­schen weitgehend von ihrer natürlichen Umwelt abhängig und fühlten sich auch als Teil von ihr.

Anthropozän

Anders im Anthropozän, der jüngsten erdge­schichtlichen Periode. Bedingt durch eine Zunahme der Weltbevölkerung und durch ausgedehnte Produktions-, Handels- und Konsumaktivitäten sind die Menschen zum wichtigsten globalen Einflussfaktor auf die Natur, auf Tiere und Pflanzen, auf das Meer, auf den Erdboden, auf die Luft und auf das Klima geworden. Noch im Holozän waren die Auswirkungen menschlichen Handelns auf die lokale oder maximal regionale Ebene beschränkt und reversibel. Nun, im Anthropozän, erstreckt sich der Einfluss der Menschen auf den ganzen Pla­neten. Wie weit die Folgen ihres Handelns reversibel sind, wissen wir nicht.

Die ExpertInnen streiten darüber, wann diese neue geologische Periode begonnen hat. Manche sehen den Anfang des Anthro­pozäns im Abholzen der Wälder in Südost­europa für den römischen Schiffsbau, andere verlegen den Beginn ins 17. Jahr­hundert, als durch die Kolonisierung Ame­rikas dort bisher unbekannte Krankheiten eingeschleppt wurden. Eine dritte Position lässt das Anthropozän nach dem Zweiten Weltkrieg beginnen, mit der weltweiten radioaktiven Verseuchung durch die Atom­waffentests.

Wie dem auch sei, sicher ist jedenfalls, dass seit der Mitte des 19. Jahrhunderts die Kohlendioxidkonzentration, ein wichtiger Indikator für den Treibhauseffekt, kontinu­ierlich zugenommen hat. Sie lag 2017 bei etwa 405 ppm, und damit um 40 Prozent oberhalb des vorindustriellen Werts von 280 ppm und um 33 Prozent über dem höchsten in den vergangenen 800.000 Jah­ren jemals erreichten.1 Hauptursachen für den Anstieg sind die Verbrennung fossiler Energieträger wie Kohle und Erdöl, aber auch die zunehmende Abholzung der Regenwälder. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ist der Einfluss der Menschen unübersehbar und global geworden. Die »Störungen« der Erde durch menschliches Zutun sind nicht mehr lokal, sondern zei­gen sich auf der ganzen Erdoberfläche. Damit löst das Anthropozän die Epoche des Holozäns ab, die fast ausschließlich von natürlichen Kreisläufen und Ressourcen bestimmte geologische Entwicklungsperi­ode unseres Planeten.

Biosphäre und Noosphäre

Der Begriff Anthropozän wurde in den 1920er Jahren vom sowjetischen Geologen Aleksei Pavlov geprägt. Er arbeitete mit dem Geochemiker Vladimir I. Vernadskij2, dem Autor des Buches »Die Biosphäre« eng zusammen. Letzterer sah die »lebende Materie« als integralen Bestandteil der Oberfläche unseres Planeten. Unter dem Einfluss des Theologen und Naturforschers Teilhard de Chardin und des katholischen französischen Philosophen Le Roy 1937/38 entwickelte Vernadskij seine Ideen weiter, indem er meinte, dass es bereits einen »Übergang der Biosphäre in die Noo­sphäre«3 gibt. Er folgte damit dem Vorbild des objektiven Idealismus. Analog zu Hegel, der annahm, dass sich der Weltgeist in der Geschichte materialisiere, sah Vernadskij die Natur zu einer Sphäre der menschli­chen Vernunft werden. Er drückte damit das Richtige im Falschen aus, denn richtig ist, dass sich die Stellung der Gesellschaft gegenüber der Natur verändert hat, jedoch lässt leider die Vergegenständlichung der menschlichen Vernunft in der Natur– wie wir angesichts immer zahlreicher werden­den Umweltkatastrophen sehen können – auf sich warten. Anfangs wurde der Begriff »Biosphäre« im Westen völlig übergangen, aber schließlich erreichte er doch die angel­sächsische Welt und verbreitete sich so sehr, dass er im Jahr 1970 Gegenstand einer Sonderausgabe des Scientific American4 wurde.

Das Verdienst des neuen geologischen Begriffs Anthropozän liegt darin, dass er über den Begriff der UmweltschützerInnen hinausweist, die vor allem »Nachhaltigkeit« erreichen wollen. Dies würde aber bedeuten, dass es ein Zurück zu früheren Verhältnis­sen geben könnte, was aber bei der zu erwartenden Beeinflussung der Natur durch die Menschen unmöglich geworden ist.

Die Menschen sind nun für ihre eigene Zukunft verantwortlich, nicht nur für das Leben in der von ihnen aufgebauten Gesell­schaft, sondern auch für den Stoffwechsel mit ihrer natürlichen Umwelt. Es ist nicht mehr allein die ursprüngliche Natur, die den Menschen die ökologischen Rahmenbedin­gungen ihres Lebens diktiert. Die Bedingun­gen sind immer mehr hausgemacht. Ande­rerseits leistet der Begriff Anthropozän der unscharfen Vorstellung Vorschub, dass »Anthropos«, der abstrakte Mensch, die Veränderungen in der Natur hervorbringen würde, oder – anders ausgedrückt, dass alle Menschen gleichermaßen für die Schäden an der Natur verantwortlich wären.

Marxistische Positionen

Was sagen MarxistInnen zum Anthropozän? Tatsächlich haben sich sozialistische Denker Innen von Anfang an mit dem Ver­hältnis Mensch-Natur auseinandergesetzt. Bereits in den vierziger Jahren des 19. Jahr­hunderts erklärte Karl Marx, dass der Naturbegriff einem Wandel unterliegt: »Übrigens ist diese der menschlichen Geschichte vorhergehende Natur ja nicht die Natur, in der Feuerbach lebt, nicht die Natur, die heutzutage, ausgenommen etwa auf einzelnen australischen Koralleninseln neueren Ursprungs, nirgends mehr exis­tiert, also auch für Feuerbach nicht exis­tiert.«5

Ähnlich wie Marx sah Engels das Verhält­nis der Menschen zur Natur nicht als zwei voneinander unabhängige Sphären. Er betonte, dass die Menschen Teil der Natur sind: »Schmeicheln wir uns indes nicht zu sehr mit unsern menschlichen Siegen über die Natur. Für jeden solchen Sieg rächt sie sich an uns. ... Und so werden wir bei jedem Schritt daran erinnert, daß wir keineswegs die Natur beherrschen, wie ein Eroberer ein fremdes Volk beherrscht, wie jemand, der außer der Natur steht – sondern daß wir mit Fleisch und Blut und Hirn ihr angehö­ren und mitten in ihr stehn, und daß unsre ganze Herrschaft über sie darin besteht, im Vorzug vor allen andern Geschöpfen ihre Gesetze erkennen und richtig anwenden zu können.«6 Damit wandte er sich als früher Grüner gegen einen instrumentellen Umgang mit der Natur, der die natürlichen Ressourcen der Erde als Reichtümer sieht, den sich die Menschen als Herrscher ein­fach aneignen könnten.

John Bellamy Foster7, einer der marxisti­scher Denker auf dem Gebiet des Öko-Sozialismus, spricht im Sinne des Anthro­pozän von einer »zweiten kopernikani­schen Revolution«. So wie sich die Planeten nach Kopernikus nicht mehr um die Erde, sondern um die Sonne drehen, würde die Menschheit nicht so sehr von der Natur beeinflusst, sondern selbst zur wesentli­chen Naturkraft werden. Er ist davon über­zeugt, dass die Menschen ihr Verhältnis zur Erde bereits grundlegend verändert haben.

Kapitalozän

Der marxistische Politikwissenschaftler Elmar Altvater8 wurde noch konkreter. Er sprach nicht von Anthropozän, sondern gab der gegenwärtigen geologischen Phase den Namen Kapitalozän. Damit betonte er, dass nicht »die Menschen« im Allgemeinen das Verhältnis zur Natur gestalten, sondern dass es bestimmte Regierungen und inter­nationale Organisationen, große Banken, Unternehmen, Investmentfonds, Ölkon­zerne usw. wären. Altvater kann sich auf die tatsächliche Lage stützen: »Nach Oxfams Berechnungen aus dem Jahr 2014 verfügen die reichsten 85 Menschen über denselben Reichtum wie die ärmere Hälfte der Erdbevölkerung zusammen.«9 Das Schicksal der Welt entscheiden nicht die Menschen gemeinsam, sondern eine Min­derheit, die sich auf das knechtende System der Ausbeutung anderer Menschen stützt. Diese Minderheit steigert zwar die mensch­lichen und technischen Produktivkräfte, aber eigennützig und auf sich bezogen. Sie bemächtigt sich der Natur, aber auch der Menschen, die ihr unterworfen sind, und gestaltet durch Werbung deren Konsum­verhalten. Es geht dem Kapital tatsächlich nicht um das gute Leben, das die Menschen anstreben, sondern um Extraktion und Aneignung von Profit.

System Change, not Climate Change!

Durch den Begriff Kapitalozän stellt Altvater die Systemfrage in den Mittelpunkt. Nicht bloß eine gesunde Umwelt ist anzustreben, sondern eine durchgängig humane Gestal­tung aller Lebens- und Arbeitsbedingun­gen. Das ist durch ökologische Forderungen allein nicht zu erreichen. Werden die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen als Ziel der Veränderung nicht einbezogen, besteht zusätzlich die Gefahr, dass der Wunsch nach einer menschenfreundliche­ren Umwelt zu einer unerfüllbaren, rein emotionalen Forderung wird, der keine Kraft zur Veränderung innewohnt.10

1) 1 ppm = 1 CO2-Molekül auf eine Million Teilchen der Atmo­sphäre = CO2-Dichte von 0,01 Prozent https://de.wikipedia.org/wiki/Kohlenstoffdioxid_in_der_Erd­atmosph%C3%A4re#Anthropogener_Anstieg_der_CO2-Kon­zentration

2) Vladimir I. Vernadskij, Der Mensch in der Biosphäre –Zur Naturgeschichte der Vernunft (Hg. Wolfgang Hofkirchner), Lang, Frankfurt 1997: 34.

3) The Begriff Noosphäre wurde schon 1927 von Le Roy verwen­det.

4) https://www.scientificamerican.com/magazine/sa/1970/09-01/

5) Karl Marx, Die Deutsche Ideologie, MEW 3, 1969: 44

6) http://www.mlwerke.de/me/me20/me20_444.htm: 452/453.

7) John Bellamy Foster, Marxism in the Anthropocene: Dialecti­cal Rifts on the Left, International Critical Thought, 2016, Vol. 6, No. 3: 393-421; 393

8) 1938-2018; https://jasminrevolution.wordpress.com/ 2018/03/08/altvater-kapitalozan-der-kapitalismus-schreibt-erdgeschichte/

9) https://de.wikipedia.org/wiki/Verm%C3%B6gensverteilung

10) Herbert Hörz, Ökologie, Klimawandel & Nachhaltigkeit – Herausforderungen im Überlebenskampf der Menschheit, trafo Verlag, Berlin 2018: 97.

Theoretische Seiten von KARL REITTER

Eine paradoxe Situation

Dass wir im Kapitalismus leben, ist weit über die Linke hinaus Konsens. Wie selbst­verständlich wird das Kapital als politischer Akteur erkannt. Attac etwa zeigt unermüd­lich das Bestreben der Konzerne auf, politi­sche und rechtliche Verhältnisse zu ihren Gunsten zu verändern und zu manipulie­ren. Und dass es die Profitinteressen der KapitaleignerInnen sind, die zu rücksichts­loser Naturzerstörung führen, ist in kriti­schen Kreisen Gemeinplatz. Aber wie steht es um den anderen Pol des Kapitalverhält­nisses, der ArbeiterInnenklasse? Diese scheint, wenn schon nicht verschwunden, doch weitgehend inaktiv zu sein. Während der eine Pol des Klassenverhältnisses, das Kapital, als mächtig und politisch präsent erkannt wird, erscheint der andere Pol, das Proletariat, als blasses Abziehbild früherer Zeiten. Als zentrales politisches Subjekt des um eine nachkapitalistische Gesellschaft scheint es verschwunden. Niemand kommt auf die Idee, die Donnerstagsdemos als Aufmärsche der österreichischen ArbeiterInnenklasse zu bezeichnen. An die Stelle des Proletariats tritt offensichtlich eine Vielzahl unterschiedlicher AkteurInnen; Frauen, MigrantInnen, Studierende, Scheinselbständige, Erwerbsarbeitslose und – eben auch – Beschäftigte. Aber vom Kapital zu reden und von der ArbeiterInnenklasse zu schweigen, das wäre so, als ob wir über Berge sprechen ohne die Täler zu erwähnen. Wenn wir das Kapital begreifen wollen, müssen wir an seinem Gegensatz, dem Proletariat, festhalten. Aber wie das scheinbare Rätsel des geschwundenen Proletariats lösen? ­­­­

Verschiedenste politische Reaktionen

Die Linke reagiert auf diese paradoxe Situation unterschiedlich. Manche igno­rieren diese Frage, andere sprechen von neuen Subjekten wie der Multitude, dem Multiversum der WeltarbeiterInnenklasse oder erklären umstandslos: »Wir sind die 99%«. Weitere bevorzugen Theorien der Politik, in denen der Bezug zu ökonomi­schen Verhältnissen gekappt ist. Zu erwähnen ist auch die Gruppe jener, die nach wie vor eine Art Zwiebeltheorie sozialer Verhältnisse bevorzugen, in deren Mitte sich sogenannte Kernschich­ten der ArbeiterInnenklasse befinden sol­len, ummantelt von anderen politischen AkteurInnen. Ich weiß nicht wie es euch, liebe LeserInnen, geht, aber mich über­zeugt keines dieser Angebote. Ich möchte euch alternativ meine Sichtweise vorstel­len.

Wie war es denn früher?

Historisch entstand das Proletariat als scharf abgegrenzte soziale Schicht. Obwohl es niemals homogen und einheit­lich war, war doch der Unterschied zu anderen sozialen Gruppen wie den Bauern und Bäuerinnen, den HonoratiorInnen und den BeamtInnen allen bewusst. Dass es eine ArbeiterInnenschaft gab, war eine unbestreitbare soziale Gewissheit. Jeder wusste, wo die ArbeiterInnen wohnen, wo sie verkehren, wo sie ihre Freizeit ver­bringen usw. Die Abgrenzung zu anderen Schichten war scharf und klar. Die Arbeite­rInnenschaft bildete ein eigenes soziales Universum, mit ArbeiterInnensiedlungen, einer ArbeiterInnenkultur, ArbeiterInnen-Sportvereinen, ArbeiterInnenliedern und ArbeiterInnenparteien. Diese Ausdrucks­formen wurden von der Linken bewusst gefördert und organisiert. Die soziale Tat­sache der ArbeiterInnenschaft wurde auch von der politischen Mitte und auch der Rechten nicht in Frage gestellt. So sollte die ArbeiterInnenschaft im österreichischen Austrofaschismus durchaus einen ange­stammten Platz im Ständestaat bekommen. Der Faschismus hofierte die ArbeiterInnen­schaft als notwendigen Teil des arischen Staats- und Volkskörpers. Nach 1945 wurde der Tatsache, dass es eben auch eine Arbei­terInnenschaft gibt, mit der Sozialpartner­schaft Rechnung getragen. Nicht dass es eine ArbeiterInnenschaft gab, war umstrit­ten. Der Konflikt drehe sich um ihre gesell­schaftliche Rolle. Wollte sie die Rechte als untergeordneter Teil einer als harmonisch phantasierten Ordnung eingliedern, so beharrte die Sozialdemokratie auf gegen­sätzlichen Interessen, die doch letztlich über Kompromisse und Sozialpolitik zum Ausgleich gebracht werden sollten. Allein der kommunistische Flügel erkannte die Unversöhnbarkeit der sozialen Widersprü­che und erblickte in der ArbeiterInnen­schaft das revolutionäre Proletariat. So unterschiedlich die jeweilige Haltung zur ArbeiterInnenschaft auch war, als soziale Tatsache wurde sie bis in die 50er-Jahre hinein von niemandem in Frage gestellt. Erst nach und nach wurde die soziale Exis­tenz einer einheitlichen ArbeiterInnen­klasse selbst in Frage gestellt.

Vom ArbeiterInnenbewusstsein zum Klassenbewusstsein?

Solange die ArbeiterInnenschaft als klar abgegrenzte soziale Gruppe, noch dazu mit eigener Kultur, eigenen Organisationen und Vereinen existierte, solange war das ArbeiterInnenbewusstsein eine notwendige und logische Folge. Das Bewusstsein, eben Arbeiterin oder Arbeiter zu sein und des­wegen auch das Recht auf Anerkennung und ein würdiges Dasein zu haben, ist nicht unbedingt revolutionär. Dies war für Marx ebenso selbstverständlich wie für Engels und Lenin. Kurzum, wohl alle DenkerInnen und AktivistInnen der kommunistischen Bewegung konstatierten: ArbeiterInnenbe­wusstsein ist keineswegs gleichbedeutend mit Klassenbewusstsein, schon gar nicht mit revolutionärem. Aber, und das war sozusagen in Stein gemeißelt: Klassenbe­wusstsein könne nur aus dem ArbeiterIn­nenbewusstsein erwachsen. Das ArbeiterIn­nenbewusstsein wurde als die Basis, als Aus­gangspunkt für die Entwicklung eines revolutio­nären Klassenbewusstseins erachtet. Deswegen war (und ist) auch die Formel von der Ent­wicklung der »Klasse an sich« zur »Klasse für sich« so populär. Die Klasse an sich, das sei eben die gegebene ArbeiterInnenschaft, die wohl um ihren sozialen Status weiß – »Wir sind ArbeiterInnen« –, aber nur vage und verschwommene Vorstellungen über ihre emanzipatorischen Möglichkeiten hätte. Wie diese Weiterführung möglich sei, darüber gab und gibt es durchaus Kontro­versen. Aber dass am ArbeiterInnenbe­wusstsein anzuknüpfen sei, das schien unmittelbar evident. Es mag mache überra­schen, aber das Schema der »Klasse an sich« zur »Klasse für sich« existiert bei Marx nicht. Es gibt keine einzige Passage im Marxschen Werk, in dem er ein derarti­ges Schema entwickelt.1 Es ist tatsächlich ein genuin Leninistisches Konzept, wobei Lenin der Avantgardepartei die Rolle zuschreibt, diese Transformation zu bewir­ken. Solange aber eine klar erkennbare kul­turell und sozial bestimmte ArbeiterInnen­schaft existierte, solange war die Leninsche Formel vom gegebenen »trade-unisti­schen« Bewusstsein als Ausgangspunkt für tatsächliches Klassenbewusstsein so über­zeugend.

Klassentheorie in der Krise: Die schwindende ArbeiterInnenschaft

Nun ist die ArbeiterInnenschaft nicht völlig verschwunden. Aber als spezifische kultu­relle und soziale Schicht erscheint sie als ein Milieu unter vielen anderen. Die über­wiegende Mehrheit der Lohnabhängigen versteht sich kaum als der ArbeiterInnen­schaft zugehörig. Das bedeutet allerdings keineswegs, dass das Proletariat ver­schwunden ist, im Gegenteil. Im Schwinden begriffen ist bloß eine spezifische kultu­relle und lebensweltliche Ausprägung des Proletariats. Soziale Identitäten sind stets im Alltagsbewusstsein verankert. Sie sind unmittelbar sinnlich gewiss, wenn ich das etwas philosophisch formulieren darf. Die alte ArbeiterInnenschaft mit ihrer Kultur, ihren Organisationen und Vereinen ist ver­sunken und wird auch nicht wieder entste­hen. Um den Begriff des Proletariats ange­messen zu verstehen, gilt es ein weit ver­breitetes Missverständnis zu überwinden. Marx hat das Proletariat niemals mit einer ganz bestimmten kulturellen und sozialen Gestalt identifiziert, sondern als hoch abs­trakten Pol des Klassenverhältnisses bestimmt. »Träger der Arbeit als solcher, d. h. der Arbeit als Gebrauchswert für das Kapital zu sein, macht daher seinen ökono­mischen Charakter aus; er ist Arbeiter im Gegensatz zum Kapitalisten. Dies ist nicht der Charakter der Handwerker, Zunftge­nossen etc., deren ökonomischer Charakter grade in der Bestimmtheit ihrer Arbeit und dem Verhältnis zu einem bestimmten Meister liegt etc.« (MEW 42: 218f.) Mein Argument lautet also: Die klassische ArbeiterInnen­schaft hatte noch immer bestimmte kultu­relle und soziale Züge, ähnlich wie es die HandwerkerInnen oder ZunftgenossInnen hatten. Eine eindeutige Identifikation des Proletariats mit einer bestimmten sozialen Ausprägung funktionierte schon zu Mar­xens Zeiten kaum. Engels zeichnet in seiner Studie »Die Lage der arbeitenden Klasse in England« zwei weitgehend unterschiedli­che soziokulturelle Ausprägungen des Pro­letariats: die englische und die migranti­sche irische ArbeiterInnenklasse unter­schieden sich hinschlich Lebensweise, Ideo­logie und sozialer Position teilweise beträchtlich. Das alles gilt heute noch viel mehr. Identifizieren wir das Proletariat nicht mit bestimmten, deskriptiv zu erfas­senden ArbeiterInnenmilieus, so zeigt es sich, dass das Proletariat sich erst gegen­wärtig in jener Form verwirklicht, die Marx vor Augen hatte. ProletarierIn zu sein bedeutet, dem Kapital als abstraktes Arbeitsvermögen, das tendenziell zu jeder bestimmten Arbeit eingesetzt werden kann, gegenüberzustehen. Und so ist es auch für die überwiegende Mehrheit: das eigene Arbeitsvermögen muss unabdingbar am Arbeitsmarkt verkauft werden, in welcher Form dies auch immer geschehen mag. Kulturelle Gemeinsamkeiten gibt es zwi­schen den VerkäuferInnen der Arbeits­kraft inzwischen allerdings oft nur wenige. Zeichnet sich die vor- und früh­kapitalistische Arbeitskraft durch eine besondere Bestimmtheit aus (ich bin SchlosserIn, ich bin BuchdruckerIn usw.), eine Bestimmtheit, die notwendig ein ebenso bestimmtes Standes- und Schicht­bewusstsein ergibt (»wir BuchdruckerIn­nen«), tendieren kapitalistische Verhält­nisse dazu, die Arbeitskraft von allen bestimmten und identitätsprägenden Merkmalen abzulösen. Die Entwicklung der kapitalistischen Produktionsweise schafft ein Proletariat, das in zahlreiche Milieus und Szenen aufgesplittert ist. Diese Tendenzen widerlegen nicht, son­dern bestätigen umgekehrt den Marxschen Begriff des Proletariats: es ist ein hoch abstrakter analytischer, kein soziologisch deskriptiver Begriff. Es ist ein Pol des Klassenverhältnisses, das im Grunde immer schon unterschiedlichste Formen und Ausprägungen angenommen hat.

Hemmnis oder Vorteil?

Diese Überlegungen führen uns zu ent­scheidenden Fragen: Ist es ein Problem, dass das Proletariat kein einheitliches, kulturelles und soziales Gesicht mehr hat? Ist das Schwinden des ArbeiterInnenbe­wusstseins für die Herausbildung eines Klassenbewusstseins ein Hemmnis oder gar ein Vorteil? Ich tendiere zu Letzte­rem. Zwischen Klassenbewusstsein und ArbeiterInnenbewusstsein gab es nicht nur kontinuierliche Übergänge, sondern auch klare Gegensätze. ArbeiterInnenbe­wusstsein ohne Klassenbewusstsein trägt die Bejahung der Verhältnisse in sich. Wir sind ArbeiterInnen, wir sind stolz darauf, wir fordern, gerade weil wir fleißig und ehrlich arbeiten, auch unseren Platz in der Gesellschaft – so wie sie ist! Diese kon­servative Tendenz zeigt sich auch im Wahlverhalten traditioneller ArbeiterIn­nenschichten, die offenbar eine fatale Neigung haben, auch rechte und rechts­populistische Parteien zu wählen. Das Klas­senbewusstsein ist hingegen verneinend. Es besteht im Kern im Streben nach der Selbstaufhebung des Proletariats als Prole­tariat. Soziale Verhältnisse, in denen Men­schen gezwungen werden, ihre Arbeitskraft zu verkaufen, soll es nicht mehr geben. Klassenbewusstsein beinhaltet auch die von Marx immer wieder geforderte Kritik der herrschenden Formen der gesellschaftli­chen Arbeit. Das bedeutet: Arbeit darf nicht mehr Lohnarbeit sein, die Produktionsmit­tel nicht mehr Kapital und die Oberfläche der Erde nicht mehr Privatbesitz. Es ist evi­dent, dass das ArbeiterInnenbewusstsein, insbesondere in seiner konservativen Aus­prägung, meilenweit von solchen Haltun­gen entfernt war und ist.

Konsequenzen

Wenn die hier vertretene Auffassung akzeptiert und ernst genommen wird, so hat dies einige Konsequenzen. Eine strikt soziologische Orientierung auf die Arbeiter Innenschaft, eine Rhetorik, die stets das Wort Arbeiter und Arbeiterin in den Mund nimmt, ist obsolet. Wollten wir nur jene Menschen ansprechen, die sich subjektiv als ArbeiterInnen fühlen, würden wir eine hoffnungslose Orientierung auf eine Minderheit propagieren. Sogenannte orthodoxe Kreise werden jetzt wohl ver­blüfft sein, aber es ist so: Wir würden die überwiegende Mehrheit des gegenwärtigen Proletariats mit einer ArbeiterInnen-Rheto­rik nicht mehr ansprechen. Die Marxsche Aussage »Sowenig man das, was ein Indivi­duum ist, nach dem beurteilt, was es sich selbst dünkt« (MEW 13: 9) gilt selbstredend auch für das Proletariat. Die Orientierung auf das Proletariat darf nicht mit der Aus­richtung auf eine schwindende, sich subjek­tiv als ArbeiterInnenschaft verstehende Gruppe verwechselt werden. Klassenpolitik bedeutet gegenwärtig die Tatsache einer kulturell, sozial und lebensweltlich höchst unterschiedlichen ArbeiterInnenkasse zu Kenntnis zu nehmen. Einer ArbeiterInnen­klasse, die trotz aller sozialer Verschieden­heiten letztlich gemeinsam dem Kapital als Arbeitsvermögen »gleichgültig gegen ihre besondre Bestimmtheit, aber jeder Bestimmtheit fähig« (MEW 42; 218) gegen­übersteht.

1 Tatsächlich gibt es nur einen einzigen Satz, in dem Marx die Formel »Klasse für sich selbst« verwendet. (MEW 4; 181)

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