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Neben dem belgischen Gewerkschafter Nico Cue ist Violeta Tomić die Spitzenkandidatin der Europäischen Linken (EL) für die Europawahl, genauer gesagt, für die Kommisionspräsidentschaft. Diese Funktion wird nach der EU-Wahl vom Europäischen Rat nominiert und letztlich durch das Parlament mit einfacher Mehrheit gewählt. Die Entscheidung der EL, Tomić und Cue aufzustellen, ist in erster Linie Ausdruck des gemeinsamen Bemühens der in der Europäischen Linken kooperierenden Parteien, eine Alternative zu den vom herrschenden Block in der EU bestellten »Regierungschef« sichtbar zu machen.
Violeta Tomić ist stellvertretende Koordinatorin der slowenischen Partei »Levica« (Linke). Geboren 1963 in Sarajevo, aufgewachsen in der Bela krajina im Südosten Sloweniens, lebt sie seit langem in Ljubljana. Neben Luka Mesec ist sie die in der slowenischen Bevölkerung bekannteste Levica-Repräsentantin; das hat auch mit ihrem – mittlerweile nicht mehr ausgeübten – Beruf als Schauspielerin zu tun. Nach der Absolvierung der Akademie für Theater, Radio, Film und Fernsehen in Ljubljana im Jahre 1985 wurde sie 1987 vom Stadttheater Ljubljana engagiert, übernahm viele TV-Rollen und arbeitete ab 2002 als Selbständige mit allen slowenischen institutionellen und unabhängigen Theatern. Sie ist Trägerin einer Reihe von Schauspielpreisen. 2014 und erneut 2018 wurde sie als eine von neun Parlamentsabgeordneten auf der Liste der »Levica« in das slowenische Nationalparlament gewählt und bekleidet dort die Funktion der Vorsitzenden des parlamentarischen Kulturausschusses. Zudem ist sie Mitglied des parlamentarischen Landwirtschafts-Ausschusses und des Ausschusses für SlowenInnen im Ausland. Heuer wurde sie im Europarat zur Chef-Berichterstatterin für die Rechte der LGBTI-Bevölkerung ernannt.
Violeta Tomić hat auf bilateraler Ebene ebenso wie auf der Ebene des Interregionalen Forums der Europäischen Linkspartei in der Region Alpen-Adria immer wieder auch mit Österreich bzw. vor allem mit der KPÖ Kärnten/Koroška zu tun (die Volksstimme hat mehrmals darüber berichtet).
Warum heute so viele an der Zukunft Europas zweifeln? Ihre Antwort auf diese Frage: »Weil die Bevölkerungen Europas keinen Einfluss haben auf Schlüsselbereiche, die ihr Leben unmittelbar betreffen. Weil Europa undemokratisch ist. Sogar die MandatarInnen im Europäischen Parlament haben nur wenig mitzureden. Die EU wird derzeit von nicht gewählten BürokratInnen der Europäischen Kommission regiert, und das Tempo geben 80.000 LobbyistInnen vor, die sich in Brüssel festgesetzt haben. Wir glauben allerdings an ein anderes Europa. An eines, in dem die Interessen der Bevölkerungen ganz oben stehen. Ein solidarisches, soziales und umweltbewusstes Europa. Der Brexit beweist, dass die Rechte keinerlei Antworten auf die Krise in Europa hat. Die neoliberale Mitte hat die Verantwortung für den Aufschwung der extremen Rechten, die den sozialen Frust vieler Menschen auf ihre Mühlen lenkt.«
Österreichs erfolgreiche Politik-Orientierungshilfe wahlkabine.at will auch zur EU-Wahl online gehen. Doch dafür braucht es die Unterstützung der »Crowd«. Die Volksstimme sprach mit Redaktionsmitglied Dorian Sauper.
40 Mal stand die Wahlkabine den Wählern und Wählerinnen bereits zur Verfügung. Nun sammelt ihr über die Onlineplattform www.respekt. net erstmals Spenden, um auch zur kommenden EU-Wahl eine Orientierungshilfe anzubieten. Was hat euch zu diesem Schritt veranlasst?
DORIAN SAUPER: Wahlkabine.at war immer ein Projekt, mit dem wir Fakten und Sachpolitik statt Polarisierung und Personenwahlkampf in den Mittelpunkt stellen wollten. Das ist 2019 noch wichtiger als 2002, wo wir zum ersten Mal online gegangen sind. Wir haben uns deshalb dazu entschlossen, bei der Finanzierung auf die vielen NutzerInnen der Wahlkabine zu setzen, die das Tool als einen wichtigen Beitrag einer informierten Öffentlichkeit sehen. Crowdfunding ist auch ein demokratiepolitisches Mittel, das gut zum Selbstverständnis von Wahlkabine passt, genauso wie zum Selbstverständnis von unseren UnterstützerInnen als informierte WählerInnen.
Bei der letzten Nationalratswahl nutzten 1,2 Millionen Menschen die Wahlkabine zur zusätzlichen Orientierung. Offenbar gibt es also einen Informationsbedarf, den die klassische Medienlandschaft nicht abdeckt. Welche Lücken in der politischen Informationsvermittlung füllt ihr?
DORIAN SAUPER: Wahlkabine.at und klassische Medien übernehmen einfach unterschiedliche Aufgaben. Ich sehe uns da nicht die Zeitungen ablösen, sondern eher die Parteien selber in der Pflicht, die ihre Inhalte zunehmend hinter Kampagnen und Personenwahlkämpfen verschwinden lassen. Gleichzeitig decken wir ein breites Feld politischer Themen ab. Da gibt es wenig Raum für Schwammigkeit. Wir beziehen dabei viele Informationen aus den klassischen Medien ein, mit denen wir die Parteienantworten auf Richtigkeit überprüfen, und die InnenpolitikredakteurInnen wichtiger Zeitungen sitzen bei uns in der Redaktion. Das ist also eher eine Symbiose, würde ich sagen.
Auf eurer Homepage schreibt ihr, dass es schon immer schwierig war, öffentliche Unterstützung für das Projekt zu sichern. Welche öffentlichen Stellen haben euch bisher unterstützt?
DORIAN SAUPER: Es war immer ein schwieriges Unterfangen, die Finanzierung unseres Projekts zu gewährleisten, da wir auf einer Seite, wo so sensible, politische Daten eingegeben werden, keine personalisierte Werbung schalten werden. Wir waren also immer auf Unterstützung angewiesen. Wir konnten in den letzten Jahren schon immer wieder auch öffentliche Stellen für unser Vorhaben gewinnen, beispielsweise das Bundeskanzleramt oder auch Universitäten oder Forschungseinrichtungen; Diesmal aber müssen wir ohne diese öffentlichen Gelder auskommen.
Hat es auch einen gewissen Reiz, gänzlich unabhängig von öffentlicher Finanzierung zu sein? Quasi einen Service von WählerInnen für WählerInnen anbieten zu können.
DORIAN SAUPER: An sich wäre es uns lieber, wahlkabine.at immer und ohne breite Unterstützung anbieten zu können, als selbstverständlichen Teil jeder Wahl. Und das ist schon eine öffentliche Aufgabe, bei der die öffentliche Hand ein Interesse an der Finanzierung haben sollte. Dazu kommt, dass so eine Crowdfunding-Kampagne auch eine Menge Arbeit und für uns ganz etwas Neues ist. Spannend natürlich, aber auch anstrengend.
Das Crowdfunding läuft über die zivilgesellschaftliche Plattform www.respekt.net. Eine Umsetzung der Wahlkabine ist ab 5.000 Euro angesetzt. Wenn die Grenze überschritten wird, werden zusätzliche Informationsmaterialen und Unterrichtsmaterial für Erstwähler Innen produziert.
In der Kernzone von Graz liegt der sogenannte »Pfauengarten«. Ein Areal, das lange im Besitz der Stadt war und vor Jahren an einen privaten Investor verkauft wurde. Nach dem Bau von Luxuswohnungen will dieser nun auch Einfluss auf den öffentlichen Park vor dem Gebäude – den Grazer Stadtpark – nehmen, wie TRISTAN AMMERER, Bezirksvorsteher von Gries, für die Volksstimme berichtet.
Die Privatisierung öffentlicher Räume und das immer stärkere Auftreten von Investor*innen in Fragen städtischer Entwicklung werfen überall dort, wo sie stattfinden, eine zentrale Frage auf: Wem gehört die Stadt? Meist wird diese Frage von jenen gestellt, die den genannten Entwicklungen etwas entgegenzusetzen versuchen. Von jenen, die oft vergeblich gegen Gentrifizierungsdruck kämpfen oder erleben müssen, wie in Städten sämtliche Spielregeln außer Kraft gesetzt werden, wenn Investor*innen ihre Projekte umsetzen.
In Graz haben wir eine solche Entwicklung an dem besonders anschaulichen Beispiel »Pfauengarten« erlebt. Der sogenannte »Pfauengarten« bildete eine eigenständige Grünfläche zwischen Karmeliterplatz und dem Grazer Stadtpark. Bei Bauarbeiten für eine Tiefgarage stellte sich heraus, dass der »Pfauengarten« über einer archäologischen Fundstätte ungeahnten Ausmaßes lag. Siedlungsreste, bis in die späte Hallstattzeit datiert, wurden dort entdeckt. Manch eine*r sprach vom entdeckten »Ur-Graz«.
Sittenbild einer Privatisierung
Der »Pfauengarten« befand sich schon lange in städtischem Besitz. Geraume Zeit stand die Frage im Raum, was mit dieser Grünfläche geschehen soll. So wurden Anstrengungen unternommen, das Gelände in ein mehrstöckiges Museum zu verwandeln, um die wahrscheinlich wichtigste archäologische Fundstätte in Graz öffentlich zugänglich zu machen. Diesen und anderen Bemühungen wurde vor mehr als zehn Jahren durch den überraschenden Verkauf des ganzen Geländes an einen Großinvestor ein jähes Ende gesetzt. Als wäre dies nicht genug, wurden dem Investor auch beinahe 200 Meter der historischen Stadtmauer, um den Symbolpreis von 1 Euro und das Versprechen, sie in Stand zu halten, verkauft.
Ganz entgegen den Auflagen von Stadt und Land kam es ganz anders. Gewinner eines Architekturwettbewerbs wurde 2008 ein Entwurf, der die Auflagen nicht frecher missachten kann. Weder bekam der Karmeliterplatz seinen städteplanerischen Abschluss, noch wurde die maximal zulässige Bebauungsdichte eingehalten. Auch vom ursprünglichen Grünraum soll nichts erhalten bleiben. Um die Missachtung der ursprünglich erteilen Auflagen zu legitimieren, mussten Ausnahmegenehmigungen her, die von der Stadt auch flugs erteilt wurden.
Schockierten Denkmalschützer*innen und Öffentlichkeit wurde derweil verlautbart, dass im »Pfauengarten« Luxus-Wohnungen und Luxushotels errichtet werden sollen. Dies alles in einem monumentalen Beton-Bau mit einer rostbraunen Metall-Außenverkleidung und dem Anschein, eine möglichst katastrophale Klimabilanz zu erzielen.
Vom »Pfauengarten« zum Stadtpark
Doch es blieb nicht beim »Pfauengarten«, mit dem Stadtpark war in Folge auch das Wohnzimmer der Grazer*innen selbst bedroht. Wer sich eine Weile in Graz aufgehalten hat weiß, dass der Grazer Stadtpark von nahezu der ganzen Stadt genutzt wird. An lauen Sommerabenden machen es sich auf den Wiesen, die rund um den Pfauengarten liegen, oft mehrere Tausend Menschen gemütlich.
Aus Befürchtung, dass Eigentümer*innen von Luxuswohnungen sich von den bis dato ungestört feiernden Grazer*innen vor ihrer Haustüre gestört fühlen könnten, begann eine breite Mobilisierung. Unter Parolen wie »Der Stadtpark ist nicht Vorgarten der Reichen!« wurde gegen das Projekt mobilisiert. Umgesetzt wurde es dennoch ohne Rücksicht auf die Proteste.
Viele Grazer*innen zogen daraus eine bittere Lehre: Die Stadt gehört den Bürger*innen nicht, sondern jenen, die fähig sind, sich diese zu kaufen. Das Projekt »Pfauengarten« wurde schließlich über einen Zeitraum von mehr als zehn Jahren durchgesetzt, ohne dass auf Bedenken der Bevölkerung oder Proteste Rücksicht genommen worden wäre.
Größenwahn von Investor*innen gegen den Widerstand der Bevölkerung
Doch auch heute, 2019, ist das Projekt »Pfauengarten« noch nicht zur Ruhe gekommen. Die von Aktivist*innen geäußerten Befürchtungen, die Bezieher*innen der Luxuswohnungen würden gegen die Parkkultur vorgehen, haben sich als Prophezeiungen entpuppt. Mehrere Wohnungseigentümer*innen im »Pfauengarten« decken das gesamte nahe Umfeld mit Klagen und Anzeigen ein. Das betrifft zum einen die Event- und Clubkultur, reicht aber sogar bis zur Betreibergesellschaft der Tiefgarage am »Pfauengarten« selbst.
Die Lehre aus dem Projekt »Pfauengarten« ist, dass sich in Graz Investor*innen aufführen können, wie auch immer sie wollen, und dies mit Rückendeckung der Stadt. Blickt man in Berichte zur Grazer Stadtentwicklung, meint man sich in einen Themenpark verirrt zu haben: Murgondeln, Plabutschgondeln, Schlossberggondeln – keine noch so kleine Erhebung, für die die Stadt nicht schon Pläne für ein Gondelsystem verlautbart hätte. Sogar eine Schifffahrtsgesellschaft entlang der in Graz extrem schnell fließenden Mur ist im Gespräch. Dazu gesellen sich Projekte wie das Murkraftwerk, die sich gerade in Bau befindliche Augarten-Bucht, ein Verkehrskonzept, dass an den Grenzen des ersten Bezirks einfach aufhört, oder die zuletzt verlautbarte Idee einer gigantischen Bienenstock-Autogarage unter dem historischen Eisernen Tor in der Altstadt. Diesen Projekten gemein ist, dass sie gegen den hartnäckigen Widerstand der Bevölkerung durchgesetzt werden. Das ewige Lied in einer Stadt, die dem Größenwahn von Investor*innen und einem dafür nur allzu empfänglichen Bürgermeister verfallen ist.
Wachstum für wen und in welche Richtung?
Graz hat soeben Hamburg als am stärksten wachsende Stadt des deutschsprachigen Raums überholt. Die wirklich dringenden Fragen aber bleiben in Graz völlig unbeantwortet. Wie bewältigt die städtische Infrastruktur, deren Ausbau seit Jahrzehnten stagniert, den massiven Bevölkerungszuwachs? Wie gehen wir mit den mehr und gefährlicher werdenden Hitzetagen um? Und natürlich: Was wollen wir gegen die Luftverschmutzung unternehmen, die inzwischen weit im gesundheitsschädigenden Bereich liegt?
In diesen Fragen bleibt die Stadtregierung, insbesondere der Grazer Langzeit-Herrscher Siegfried Nagl bis heute jede Antwort schuldig. Die Investor*innen freuen sich zwischenzeitlich schon, mit dem Nord-Gries einen weiteren Bezirk als Spielwiese zur Gentrifizierung vorzufinden. Hauptsache der Rubel rollt. Der »Pfauengarten« lässt grüßen.
Die Regierung setzt auf »Othering« (Anders-Machung) und Fremdzuschreibungen statt auf Dialog und Respekt vor Diversität
Sattsam bekannt ist, dass die Bundesregierung Themen, die die Gesellschaft spalten, dazu benutzt, um von den wirklichen Sorgen, die sie uns tagtäglich mit ihrer Sozial- und Wirtschaftspolitik beschert, abzulenken. Auch ist es kein Geheimnis, dass es »der Islam« ist, an dem sie ihre Spaltungs- und Entsolidarisierungspolitik festmacht, auf dass muslimische Menschen ungeniert diskriminiert und ihre Lebenspraxis abgewertet werden darf.
Aktuell geht es wieder einmal um das Kopftuch. Soeben in Begutachtung befindet sich nämlich ein von FPÖ-Rosenkranz, Mölzer jr. u. a. eingebrachter Initiativantrag zur Änderung des §43a SchUG (Schulunterrichtsgesetzes). Dieser sieht ein Verbot des Tragens »weltanschaulich und religiös geprägter Kleidung« bis zum 10. Lebensjahr vor, was zur »sozialen Integration von Kindern gemäß den lokalen Bräuchen« führen soll.
Bei Verstoß sind die Schulleiter*innen dazu verpflichtet, die betreffenden Eltern bei der Bildungsdirektion zu denunzieren. Die Eltern werden danach zu einem Gespräch in die Bildungsdirektion vorgeladen und »über ihre Verantwortung aufgeklärt«. Kommen sie dieser »Einladung« nicht nach oder wird neuerlich gegen die Regelung verstoßen, ist eine Strafe von 440 Euro bzw., bei Uneinbringlichkeit, eine Ersatzfreiheitsstrafe von bis zu vier Wochen fällig. In der Begründung heißt Es zählt, wie eine Bekleidung »von Abgesehen von der ungustiösen Bestrafungspolitik, der offenen Missachtung der Rechte muslimischer Eltern und der ungenierten Abwertung dessen, was als »fremd« wahrgenommen werden soll, basiert derlei Gesetzgebung auf plattesten Zuschreibungen. So gälte es, für Gleichberechtigung und Selbstbestimmung muslimischer Mädchen zu sorgen, die als grundsätzlich von Unterdrückung bedroht imaginiert werden.
Aus meiner langjährigen Berufspraxis an öffentlichen Schulen weiß ich, dass es für das Selbstbewusstsein eines Mädchens egal ist, ob es Kopftuch trägt oder nicht bzw., ob sie Muslima ist oder nicht. Faktoren wie soziale Herkunft, Gewalt gegen Frauen, (finanzielle) Abhängigkeit der Mütter usw. spielen eine Rolle, wenn es darum geht, wie ein Mädchen in der Welt steht. Unterstellungen und Pauschalisierungen, wie sie mit dieser geplanten Gesetzesänderung in Stein gemeißelt werden sollen, ziehen Grenzen zwischen Menschen und errichten Mauern im Denken und in der Wahrnehmung. Viel sinnvoller wäre es, unsere Regierung würde sich um soziale Gerechtigkeit, antirassistische Gesetzgebung und Frauenrechte kümmern.
Es muss jeder Frau selbst überlassen sein, wieviel von ihrem Körper sie öffentlich zur Schau stellen will. Die Autonomie ihrer Entscheidung gilt es zu sichern und zu respektieren. Es kann nämlich durchaus sein, dass eine Frau die Verhüllung als Selbstschutz (vor männlichen Blicken und Übergriffen) empfindet. Auch dies muss (denk-)möglich sein. Wo steht geschrieben, dass die in der westlichen Kultur übliche frühzeitige Sexualisierung und Zurschaustellung des Frauenkörpers der beste Weg ist, für ein Mädchen in der Welt zu sein? y einem objektiven Betrachter« gesehen wird; dabei kommt es nicht auf die Absicht des Trägers an, sondern ist es entscheidend, wie diese »von Dritten rezipiert« wird. Deutlicher kann man einen monokulturellen Hegemonieanspruch kaum mehr festschreiben. Es zählt nur, was ich sehe und denke, deine Sicht bedeutet nichts, gar nichts.
»Inseeel, Donauinseeel«. Szenen wie diese sind dank Elizabeth T. Spira vielen Österreicher_innen ins Gedächtnis geschrieben. Mir ihren tiefgehenden Reportagen sowie ihren berührenden und aufrüttelnden Geschichten über den Alltag und die Liebe hat Spira Österreich nachhaltig geprägt. Es gehe ihr nicht ums Verändern, sondern darum zu verstehen, hat sie einmal gesagt. Ihr Vater kämpfte für einen politischen Wechsel in Spanien bei den Internationalen Brigaden, aus Österreich musste er als Jude und Kommunist vor den Nazis fliehen. Durch Glück bekam er, der als Decknamen »Toni« nutzte, ein Visum nach England. Dort lernte er die Mutter von Elizabeth kennen, die mit einem Kindertransport aus Österreich auf die britische Insel in Sicherheit gebracht worden war.
So kam Elizabeth Toni Spira in Glasgow auf die Welt. Die ersten Jahre ihres Lebens verbrachte sie in England, bevor sie mit ihren Eltern und ihrer Schwester nach Österreich kam – in jenes Land, welches einen großen Teil ihrer Familie ermordet hatte. Von Geburt an umgeben von Personen, die in der Illegalität gekämpft haben, habe sie gewusst, sie könne keine Heldin werden. Sie sei dazu auserkoren, diese Geschichten zu erzählen. Spira wollte verstehen: Die Menschen und die Erlebnisse, die sie geformt haben – die guten sowie die schwierigen.
Denkmal des Alltags
Ihre journalistische Karriere startete Spira beim Nachrichtenmagazin »Profil«, wechselte dann aber schnell zum ORF. Dort konnte sie sich zu Beginn noch politischen Themen widmen: Über die Ortstafeldiskussion in Kärnten berichtete sie ebenso wie über das Bergwerk Fohnsdorf, sie widmete sich aber auch gesellschaftlich noch heißer umkämpften Themen wie Antisemitismus und Abtreibung. Nach einem Beitrag über die SPÖ im Burgenland, der heftige Kontroversen auslöste, wurde sie von der politischen Berichterstattung abgezogen und in die Kulturredaktion versetzt. Dort entwickelte Spira gemeinsam mit anderen die Idee zu den »Alltagsgeschichten«, die sie fortan gestaltete. Ihre lebenslange Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus und dem Umgang der Österreicher_innen damit kratzte ebenso am »rot-weiß-roten-Lack« wie die »Alltagsgeschichten« per se, die Menschen porträtierten, die nicht in das vom offiziellen Österreich gerne gezeichnete Bild der glücklichen Alpenrepublik passten. Sie verschaffte so jenen ein Erbe, welche in der Geschichtsschreibung sonst meist nur als Fälle in Statistiken festgehalten werden und schenkte ihnen ihre und unsere Aufmerksamkeit. Mit der Nähe zu den Menschen, einem großen Herz und scharfem Verstand hob sie das Alltägliche aus dem Verborgenen und konzentrierte sich auf das Wesentliche im Menschen, ohne Standesdünkel und ungefiltert. Als Chronistin Österreichs trug Elizabeth T. Spira maßgeblich zur Verständigung und Aufklärung in einem Land bei, das gerne den schönen Schein wahrt. Damit hat sie nicht nur diesen Menschen, sondern auch sich selbst ein immerwährendes Denkmal gesetzt.
Denise Beer lebt in Europa und arbeitet in Vorarlberg
Energiearmut ist ein Missstand, der immer mehr Bewohner_innen der EU-Staaten betrifft. Ein Verbot der üblichen Praxis, Menschen von der Strom- und Gasversorgung abzukoppeln, wurde sowohl vom Europaparlament als auch vom Europäischen Rat verhindert. Die ineffiziente und marktkonforme Energieversorgung gefährdet nicht nur das Leben der Armen, sondern letztlich von uns allen.
Von CORNELIA ERNST UND MANUELA KROPP
Immer mehr Menschen in der EU können ihre Rechnungen für Strom und Wärme nicht bezahlen und geraten in Gefahr, dass die Versorger ihnen die Lieferung von Strom und Wärme abstellen. Das heißt, sie müssen mit kaltem Wasser duschen, die Kälte kriecht durch die Wände, Elektrogeräte laufen nicht – kein Internet, kein Telefon, kein Licht, kein Bügeleisen. Und während einer Hitzewelle im Sommer: keine Klimaanlage. Dann geht der Kreislauf der Kosten erst richtig los: Es fallen zusätzliche Gebühren für die Menschen an, wenn der Strom bzw. die Wärmeversorgung wieder angestellt werden soll. Die Versorgung mit Strom und Wärme ist ein soziales Grundrecht und darf nicht aufgrund von unbezahlten Rechnungen angetastet werden. Die linke Fraktion GUE/NGL, die Sozialist_innen und die Grünen im Europaparlament haben sich bei den jüngsten Verhandlungen zum europäischen Strombinnenmarkt dafür eingesetzt, das Abklemmen von Strom- und Wärmeversorgung schlicht zu verbieten. Das wäre in der Richtlinie zum Strombinnenmarkt möglich gewesen. Außerdem hat die GUE/NGL gefordert, ein kostenloses Kontingent an Strom und Wärme anzubieten – egal wie stark die Menschen mit ihren Rechnungen im Rückstand sind. Leider haben die konservativ-liberale Mehrheit des Europaparlaments und große Teile des Rats, also der Mitgliedsstaaten, diese beiden Forderungen abgelehnt. Die Sozialist_innen unterstützten die Forderungen der linken Fraktion GUE/NGL zuerst, haben dann aber im Laufe der Verhandlungen mit dem Rat nachgegeben.
Die jüngsten Daten zeigen, dass es zwischen den Mitgliedsstaaten große Unterschiede gibt und die Menschen unterschiedlich stark von sogenannter »Energiearmut« betroffen sind. Energiearmut liegt vor, wenn Menschen Probleme haben, die Rechnungen für Strom und Wärme zu bezahlen.1 Im Jahr 2016 konnten 8,7 Prozent der Menschen in der EU ihren Wohnraum nicht angemessen beheizen. Ein Fünftel der Menschen in Portugal und Zypern, und mehr als ein Viertel der Menschen in Griechenland und Litauen sind von diesem Problem betroffen; die absolute Höchstzahl wird mit fast vierzig Prozent in Bulgarien erreicht.2 Zwischen 2006 und 2012 konnte ein Viertel der Haushalte in Spanien (7 Millionen Menschen) ihre Wohnungen in der Sommerhitze nicht ausreichend kühlen. In Spanien überstieg 2010 die Zahl der vorzeitigen Todesfälle aufgrund von Energiearmut jene aufgrund von Autounfällen.3 In einigen Mitgliedsstaaten ist die Lage besonders schwierig: in Bulgarien, wo die Winter sehr kalt und die Sommer sehr heiß sind, können viele Menschen ihre Wohnungen weder ausreichend heizen noch angemessen kühlen. In Portugal ist die Witterung zwar milder, aber da dort der Gebäudebestand schlechter isoliert ist, sieht die Lage ähnlich problematisch wie in Bulgarien aus.4
Strom abgedreht
Die europäische Linkspartei European Left hat im Rahmen ihres Europawahlkampfs eine Kampagne zu »Recht auf Energie« gestartet5, denn das Problem ist europaweit virulent. Auch in reicheren Mitgliedsstaaten geraten Menschen in diese Situation: In Österreich wird jedes Jahr ca. 28.000 Menschen der Strom abgedreht.6 In Deutschland wird jedes Jahr ca. 300.000 Haushalten der Strom, und ca. 60.000 Haushalten das Gas abgestellt.7 Als die Richtlinie zum Strombinnenmarkt verhandelt wurde, hat die linke Fraktion GUE/NGL im Europaparlament auch
1 Power to the people: Upholding the right to clean, affordable energy for all in the EU, Briefing von righttoenergy, March 2019 http://foeeurope.org/Majority-EU-countries-unable-keep-citizens-warm-this-winter-200219
2 Siehe: Flyer »Right to Energy« der European Left https://www.european-left.org/campaigns/right-to-energy/
3 Power to the people: Upholding the right to clean, affordable energy for all in the EU, Briefing von righttoenergy, March 2019 http://foeeurope.org/Majority-EU-countries-unable-keep-citizens-warm-this-winter-200219
4 Power to the people: Upholding the right to clean, affordable energy for all in the EU, Briefing von righttoenergy, March 2019 http://foeeurope.org/Majority-EU-countries-unable-keep-citizens-warm-this-winter-200219
5 https://www.european-left.org/campaigns/right-to-energy/
6 J. Pallinger, Wenn das Licht zu Hause ausgeht, Der Standard, 25. Januar 2018 https://derstandard.at/2000072951741/Energiearmut-Wenn-zu-Hause-das-Licht-ausgeht (abgerufen am 21.03.2019)
7 Stefan Schultz, Deutschland lehnt Messungen zu Energiearmut ab, Der Spiegel, http://www.spiegel.de/wirtschaft/soziales/strom-deutschland-blockiert-messung-von-energiearmut-in-eu-energieunion-a-1209705.html (abgerufen am 21.03.2019)
»Bitte zieht das Trojanische Pferd nicht in unser Waldviertel«, appellieren RegionalvertreterInnen des Verkehrs- und Regionalforums Waldviertel an die Vernunft der Politik.
VON BÄRBEL DANNEBERG
SYSTEMWANDEL
Die Vernunft ist enden wollend. Landeshauptfrau Johanna Mikl-Leitner präsentierte Mitte Jänner anlässlich einer VPNÖ-Arbeitstagung in Liebnitz/Gemeinde Raabs an der Thaya ihre Pläne für 1919: »Das Verkehrsprojekt Europaspange steht für eine bessere Anbindung des Wald- und Weinviertels an Ballungszentren und internationale Wirtschaftsräume. Der erste Schritt wurde bereits gesetzt, indem sich die Vertreter der Region bereits für die Europaspange ausgesprochen haben«, so Mikl-Leitner. Alle – bis auf die Grünen, sie haben im Landtag dagegen gestimmt. Mit Unterstützung des Nachbarn Tschechien möchte die Landeshauptfrau nun die zweijährige Prüfungsdauer des Projekts dafür nützen, auf EU-Ebene intensiv Werbung zu machen, »um die Europaspange auch in europäische Infrastruktur-Netze und -Projekte einzubinden«.
Das macht klar, dass die Planung einer Waldviertelautobahn nicht der Verbesserung des Wirtschafts- und Lebensraums im Waldviertel dient. Vielmehr geht es um eine Transitschneise Richtung großer Ballungszentren in Europa quer durch naturbelassenes und abwanderungsbedingt dünnbesiedeltes Gebiet, das zu den schönsten, aber ärmsten in Österreich gehört. Mit dieser wirtschafts- und regionalbedingten Hypothek wird Hoffnung gestreut. Durch eine Betonpiste quer durch die Äcker des Waldviertels würde »das regionale Wirtschaftsprodukt der Region mit den Verkehrsprojekten laut einer neuen Studie um eine Milliarde Euro steigen«, schrieben die »Bezirksblätter Zwettl« im Jänner.
Verrückter Luxus
Ich lebe teilzeitig im Waldviertel. Mein kleiner Ort nahe Horn ist ohne Auto nicht erreichbar, der Bahnhof ist zehn Kilometer entfernt. Insbesondere an den Wochenenden gibt es keine regionale Verkehrsanbindung. Mein Dorf hat weder einen Einkaufsladen noch ein Wirtshaus. Manche erhoffen sich, dass eine Autobahn Leben in die Region bringen würde. Wahrscheinlicher aber sind Lärm, Dreck, Gestank und, wie der Verkehrsexperte Herbert Knoflacher meinte, am ehesten bringe eine Autobahn noch Kriminalität: »Wenn man das Waldviertel massiv schädigen will, dann muss man sie bauen.«
Ich Freizeit-Waldviertlerin entkomme am Land der großstädtischen dicken Luft. Ich würde gerne auf mein Auto verzichten, das eine Geldvernichtungsmaschine ist. Es verstellt tagelang wie auch viele andere Autos unbenutzt den öffentlichen Raum in Wien, zusammen mit allen Autogebührenpflichten und Sprit ein teures Vergnügen, ein Parkplatz ist trotz Parkpickerl schwer zu haben. In Wien fahre ich mit den Öffis. Was ist das für eine verrückte Welt? Plattgewalzte Autowracks würden zusammen mit allen versiegelten Betonflächen und Flughafenpisten weltweit mehr Bodenfläche als ackerbauliche Nutzflächen einnehmen. Das Wissen um diese verrückten Umweltsünden verhindert nicht, dass ich rausmöchte aus der städtischen Hektik. Ohne Auto ist das für mich nicht zu haben. Der Schlaf der Vernunft gebiert Ungeheuer und der Luxus der Möglichkeiten verschärft Ungleichheiten. Auf Kosten der Umwelt kann ich zwischen Wien und Waldviertel wählen. Die alten Leute in meinem Dorf aber sind angewiesen, dass ihnen jemand was aus der goldenen Supereinkaufsmeile bei Horn (einer anderen Umweltsünde) mitbringt.
Die Wirtschaft schafft – was?
Das Verkehrs- und Regionalforum widerlegt die scheinheiligen Argumente der BefürworterInnen: Eine Autobahn erspart den WaldviertlerInnen weder Geld noch Reisezeit, sondern bringt LKW-Transitverkehr, Lärm und Umweltbelastung und vernichtet dauerhaft 2.000 ha wertvoller Agrarfläche. Die Nordwesteinfahrt von Wien kann zusätzlichen Verkehr nicht mehr aufnehmen und die durch Schnellfahren gewonnene Zeit geht im Stau wieder verloren. Der Beschäftigungseffekt ist beim Autobahnbau niedriger als bei fast allen anderen Arten um dasselbe Steuergeld. Nach einem Autobahnbau gehen Arbeitsplätze verloren (untersucht in der Schweiz, im Südburgenland und dem Lungau). Viele kleine und mittlere heimische Handwerks- und Gewerbebetriebe werden dem steigenden Konkurrenzdruck von Konzernen zum Opfer fallen. Die Milliarden, die eine Autobahn kostet, können im Waldviertel für Bildung, Klimaschutz, Energieautarkie, schnelle Bahnanbindung, Datenautobahn und Förderung von Gewerbe und Landwirtschaft viel besser eingesetzt werden. (www.verkehrsforumw4.at)
Mir erscheinen diese Argumente logisch und die regionale Wirtschaftsbelebung fraglich. Schon allein die Umfahrungen von Seitzersdorf-Wolfpassing und Ziersdorf haben viele örtliche Geschäfte und Bauern in den Ruin getrieben, weil die von Wien ins Waldviertel Fahrenden die Umfahrungen nicht für den Einkauf verlassen. Studien bestätigen, dass Betonpisten den (Schwer-)Verkehr wie ein Magnet an- statt abziehen.
Asphaltcowboys
Trojanische Pferdestärken werden von FPÖ-Verkehrsminister Norbert Hofer unterstützt. Er hat die Erhöhung des Tempolimits auf Autobahnteststrecken damit argumentierte, dass man schließlich nicht Milliarden in den Autobahnausbau investiere, um dann die Möglichkeiten einer Verkehrsbeschleunigung durch Tempobeschränkungen einzuschränken. Die ASFINAG hat angekündigt, heuer 1,2 Milliarden Euro in Autobahnen zu investieren. Das freut die Beton- und Baulobby. Die mit medialem Politgetöse begleitete Tempobeschleunigung macht nichts schneller, weil beim Ein- und Ausfädeln schnellerer Abschnitte es sich erst wieder staut. Für die Strecke zwischen Vitis und Wien lautet die Berechnung des Verkehrs- und Regionalforums Waldviertel folgendermaßen:
»LKWs kostet die Autobahn geringfügig Zeit durch den Umweg, daher wird man auf der B2 ein LKW-Verbot brauchen, um Mautflucht zu vermeiden. PKWs bringt die Autobahn 12 min. nur dann, wenn man nicht bedenkt, dass eine Menge zusätzlichen Verkehrs (Deutschland-Rumänien) zu Stau vor allem auf der Donauuferautobahn, der Nordbrücke, dem Gürtel und der Südosttangente führt. Die Nordautobahn hat über 10.000 Fahrzeuge/Tag zusätzlich auf diese Strecke gebracht, jetzt ist sie am Limit – die Trassen können im Raum Wien nicht mehr verbreitert werden. Weitere ›Nadelöhre‹ und damit Folgekosten entstehen (z. B. Suchdol/Tschechien). Nimmt man an, dass bei noch mehr Verkehr auf der Donauuferautobahn und auf den Autobahnabschnitten bei Horn und Hollabrunn mittelfristig ein Feinstaubhunderter kommen muss (EU-Rechtsumsetzung), verliert der PKW 2 min Reisezeit, was erhebliche ›Mautflucht‹ zurück auf die B2 zwischen Horn und Stockerau (Abkürzen Hollabrunner Eck der Autobahn) auslösen wird.«
Das Verkehrs- und Regionalforum Waldviertel meint, dass »mit dem Geld, das eine Waldviertel-Spangenautobahn kostet, man 60 Jahre lang – also für ein Vielfaches der technischen Lebensdauer der Autobahnbauwerke – ein Jahresticket wie in Wien für den öffentlichen Verkehr anbieten könnte«. Aus sozialen und Klimagründen sollte der öffentliche Verkehr überhaupt weitgehend gratis oder sehr billig sein.
DER KAMPF UM JUST TRANSITION IN DER EU
Die Mehrheit der Bürgerinnen der EU-Mitgliedstaaten hat verstanden, dass wir unsere Gesellschaften umbauen müssen, damit die Menschheit innerhalb stabiler natürlicher Grenzen überleben kann. Noch nicht im öffentlichen Bewusstsein angekommen ist das Ausmaß der kommenden Umweltkatastrophen, wenn wir nicht jetzt, das heißt in den nächsten ein bis drei Jahren komplett umsteuern.
ROLAND KULKE
Wissenschaftliche Reports der letzten Jahre geben uns noch eine Dekade, um unsere Gesellschaften abzubremsen. Das bedeutet, dass wir die Infrastrukturentscheidungen in den nächsten ein bis drei Jahren treffen müssen. Gelingt dies nicht, dann reicht vielleicht ein Beispiel, um zu zeigen was passieren wird. Ein Report, dessen Arbeit vom International Centre for Integrated Mountain Development (ICIMOD) in Kathmandu, Nepal, geleitet wurde, warnt davor, dass 250 Millionen Menschen alleine im Himalaya in den nächsten Jahrzehnten Zugang zu Wasser verlieren werden. Dies wird passieren, selbst wenn wir unterhalb (!) des 1,5 Grad-Ziels bleiben. Bis 2100 werden 36 Prozent der Gletscher im Himalaya schmelzen. Wenn wir nichts tun, werden zwei Drittel der Gletscher schmelzen, die für die Wasserversorgung von 1,65 Milliarden (!) Menschen nötig sind. Was glauben wir, wohin sich diese Menschen wenden werden, wenn sie vom Tod bedroht sein werden, weil ihre Lebensgrundlagen zerstört sind?
Die sog. »Flüchtlingswelle« von 2015 wird dagegen ein leichter Hauch gewesen sein. Unsere ethnozentrischen europäischen Gesellschaften haben schon ein Problem mit der Integration von einer Million Menschen! Es ist also klar – wir müssen unsere Ökonomie radikal umbauen. Und da hilft es nicht, auf bessere Technologien zu setzen. Wir müssen unseren Mensch-Natur Metabolismus, also den stofflichen Austausch mit der Natur umbauen. Und das geht nur, wenn wir das Problem nicht als ein technisches betrachten, sondern anerkennen, dass wir unsere sozialen Strukturen ändern müssen. Denn, nur nebenbei erwähnt, die Klimakrise ist nur eine von vielen Krisen. Von den sogenannten neun »planetarischen Grenzen«, die wir nicht überschreiten dürfen, um in einem sicheren Umweltbereich zu leben, haben wir bereits jetzt vier überschritten.
It’s time to act now
Ein Leitbild ist »Just Transition«. Es ist klar, dass der Energiesektor mit fossilen Brennstoffen eines der zentralen Probleme der Menschheit darstellt. Jahrelang wurde der Kampf der progressiven Zivilgesellschaft gebremst, da grün gesinnte soziale Bewegungen für die sofortige Stilllegung etwa von Kohleminen und -kraftwerke waren, egal was mit den Arbeiterinnen passiert, wohingegen Gewerkschaften in diesem Sektor, vor allem eingedenk neoliberaler, also gegnerischer Regierungen, nur eines im Sinne hatten: jeden Job retten, den es in der relativ gut bezahlten fossilistischen Industrie noch gab und gibt.
In den letzten Jahren haben aber beide Seiten gelernt. Gewerkschaften haben verstanden: »There are no jobs on a dead planet« (es gibt keine Jobs auf einem toten Planeten) und NGOs haben erkannt, dass sie von ihrem hohen Ross der Verteidiger von Mutter Erde herabsteigen müssen und normalen Arbeiterinnen zuhören müssen und ihre Jobs nicht einfach als »dirty« (dreckige) Jobs bezeichnen dürfen. 2006 schließlich erkannten internationale Gewerkschaftsverbände bei einer Konferenz in Nairobi, dass auch sie auf die NGOs zugehen müssten und adaptierten den Slogan »Just Transition« (»Gerechter Übergang«) für ihre Bewegung1. »Just Transition« verbindet die Anliegen von Umwelt und von Arbeiterinnen insofern, als anerkannt wird, dass wir aus der fossilen Energieproduktion aussteigen müssen, aber gleichzeitig die Interessen der Arbeiterinnen nach »decent work« (»Guter Arbeit«)
anerkennen müssen. Es geht also um die Transition von einer fossilbasierten Wirtschaft zu einer, die CO2-neutral ist, aber die Arbeiterinnen nicht in Arbeitslosigkeit schickt.
Energie-Demokratie
Wie sieht es nun aus mit den Bestrebungen, eben diesen gerechten Übergang zu sichern? Zum einen kann man konstatieren, dass die Idee der Verbindung von gewerkschaftlichen und grünen NGO-Interessen gewirkt hat. Die Kombination beider Interessen hat im öffentlichen Bewusstsein Wurzeln geschlagen. Andererseits gibt es aber auch Rückschläge, und hier sind noch nicht mal die rechten bis rechtsradikalen Parteien und Regierungen in Europa gemeint. Gemeint ist die inhaltliche Entleerung des Begriffs »Just Transition«. Er ist in gewisser Weise der progressiven Zivilgesellschaft von der Kapitalseite entwendet worden. Böse Zungen benutzen hier sarkastisch die Tatsache, dass das englische Wort »just« beides bedeuten kann: »gerecht«, aber auch »nur«. Just Transition kann also als »Gerechter Übergang« aber eben auch als »nur/Hauptsache Übergang« – hin zu einer CO2-neutralen Wirtschaft übersetzt werden. Bei der letzten UN-Klimakonferenz (COP24) in Katowice wurde »Just Transition« zunehmend so interpretiert, dass man maximal für die jetzt Beschäftigten Frühverrentung vorsieht, und das wäre es dann, mehr nicht. Der Präsident von Südafrika ist neulich so weit gegangen, die Zerschlagung und Privatisierung des großen staatlichen Energiekonzerns mit »Just Transition« zu rechtfertigen. Aufgrund solcher Aneignungen wird in der Zivilgesellschaft zunehmend der Begriff der »Energie Demokratie« benutzt. Dieser geht über »Just Transition« hinaus und stellt die Eigentumsfrage und letztlich die Frage nach der Demokratisierung unserer Gesellschaften. Dieser Argumentation folgend müssen wir dafür sorgen, dass Energie de-kommodifiziert wird, also die Verteilung nicht mehr über den anonymen Markt geschieht, sondern dass Energie zu einem sozialen Recht für alle Menschen wird, über dessen Verteilung politisch in unseren Gesellschaften entschieden wird. Ein weltweit agierendes Netzwerk, das sich für »Energie Demokratie« einsetzt, ist das Netzwerk: »Trade Unions for Energie Democracy« (TUED, dessen Newsletter und Publikationen sehr zu empfehlen sind). Transform Europe, die politische Stiftung der Europäischen Linkspartei, arbeitet mit TUED und anderen NGOs zusammen, um auf europäischer Ebene die Demokratisierung des Energiesystems voranzutreiben.
Energie-Kooperativen
Wir stehen hierbei vor einem ganzen Bündel von Herausforderung. Einerseits müssen wir schnell agieren, sehr schnell. Das geht nicht dezentral. Wir können nicht darauf warten, dass Bürgerinnen in ausreichender Anzahl als Individuen oder in Kooperativen in Photovoltaik und Windenergie investieren. Wir können auch nicht darauf warten, dass dezentral Stadtwerke stark genug in Erneuerbare Energien investieren. Immer mehr Städte gehen diesen Weg, aber noch viel zu wenige. Dies liegt vor allem an der europaweiten Sparpolitik der letzten zehn Jahre seit dem Ausbruch der Finanzkrise. Städte sind finanziell ausgeblutet. Was also nur hilft, sind Maßnahmen auf zentraler Ebene, dort angesiedelt, wo die Entscheidungen über staatliche Budgets und Steuereinnahmen und -ausgaben entschieden werden, also auf Ebene der Nationalstaaten (und der EU). Wir brauchen also Mut dazu, wieder groß zu denken, zu träumen davon, wie wir uns als Gesellschaften unser Wirtschaftssystem gestalten wollen. Das bedeutet kein Plädoyer für monopolistisches Staatseigentum bzw. nicht nur, sondern für eine Vielzahl von Eigentumsformen, die von der Öffentlichkeit kontrolliert werden.
Die demokratische Mitbestimmung der Bürgerinnen ist besonders wichtig. Und damit sind wir dann eben doch bei den Kooperativen. Denn wir sind nicht nur in der Krise des Klimas, sondern auch in der Krise der Demokratie, und das bedeutet, dass wir die Demokratie stärken müssen. Eine wesentliche Möglichkeit, die Demokratie zu stärken, ist den Menschen Entscheidungshoheit über ihr Leben zu geben – und das geht eben auch durch und in Kooperativen. Energiekooperativen sind gerade durch die EU-Gesetzgebung gestärkt worden, und das müssen wir ausnutzen. Energiekooperativen und das durch sie gewonnene Einkommen stärkt die finanzielle Unabhängigkeit von Bürgerinnen. In Kooperativen lernen Menschen, zusammen zu arbeiten, anderen und vor allem sich selbst zu vertrauen. Sie kooperieren, wo sie früher auf den anonymen Markt angewiesen waren. Klar ist, dass Kooperativen Einkommen über diesen Markt generieren. Wir sehen also hier, dass es keine Schwarz-weiß-Antwort geben kann. Es kann also nur ein Kompromiss zwischen den Positionen der Gewerkschaften auf der einen Seite geben, die stärker für De-Kommodifizierung von Energie, öffentliches Eigentum und zentrale Planung plädieren, und den grünen Gewerkschaften, die auf dezentrale privat-wirtschaftliche Bürgerinnenenergie setzen.
Kontrolle über Produktionsmittel?
Kooperativen und Prosumer (der Ausdruck ist eine Mischung aus Produzentin und Konsumentin) entsprechen dem Zeitgeist einer von großen linken Narrativen enttäuschten Öffentlichkeit, die eher an »Small is beautiful« glaubt, anstatt an große Gesellschaftsplanung. Deswegen soll hier nun abschließend die Lanze für den Gewerkschaftsstandpunkt gebrochen werden2. Die EU ist neoliberal, und sie kann nicht reformiert werden. So heißt es seit kurzem sogar bei ATTAC Österreich. Das ist nett, aber tragisch, denn am Ende bleibt doch nur der Rückzug auf die als ungefährlich wahrgenommene Region oder Kommune übrig. Vor allem führt dieser Diskurs dazu, kritisches Verständnis von der EU zu verhindern, es macht blind für realen Handlungsspielraum. Man könne keine nationale Wirtschaftspolitik mehr betreiben, heißt es dann oft.
Drei Beispiele sollen zeigen, dass das Unsinn ist: Anfang 2019 wurde berichtet, dass der niederländische Staat 690 Millionen Euro aufgewendet hat, um sich Anteile an der Luftfahrtgesellschaft KLM/Air France zu sichern. Ziel war der Schutz von Arbeitsplätzen und des Verkehrskreuzes Schiphol. Das ist schlicht und einfach old school Industriepolitik. Das nächste Beispiel: »Its Owl!« ist das zentrale Projekt der BRD, um Industrie 4.0 zu fördern. Die öffentliche Hand allein investiert 100 Millionen Euro in den nächsten Jahren, um die fortschrittlichsten Industrien zu fördern. Das Budget für dieses Projekt ist höher als die vergleichbare Budgetlinie der EU Kommission für alle Staaten der EU zusammen. Das ist aktive, gestaltende Industriepolitik und zwar in der real existierenden EU. Das letzte Beispiel hat direkt mit unserer Diskussion von »Just Transition« und »Energie Demokratie« zu tun. Es geht um den Ausstieg aus der Kohle in der BRD. In der ostdeutschen Lausitz werden in den nächsten 20 Jahren 20 Milliarden (!) Euro investiert, um eine Industrie ab- und andere aufzubauen, die 16.000 Jobs schafft. Diese Politik kann man vielleicht unter den Begriff »Just Transition« subsumieren, denn eine CO2-produzierende Industrie wird ersetzt und es werden neue, umweltfreundlichere Jobs geschaffen. Aber dieser Übergang entspricht leider nicht den weitergehenden Forderungen der »Energie Demokratie«, denn der gesamte Prozess wird in atemberaubend arroganter Art und Weise aus dem Kanzleramt gesteuert. Lokale AkteurInnen werden kaum eingebunden, und die Wirtschaftsministerien können aus ihren Schubladen alte Pläne für sinnlose Projekte ziehen und vorlegen. Was gebraucht wird, ist die Übernahme des Planungsprozesses durch die Bürgerinnen der Lausitz. Die jetzt laufenden Entscheidungen werden die gesellschaftlichen Infrastrukturen der Lausitz für die nächsten hundert Jahre festlegen. Dies kann nur von den Bürgerinnen selbst geschehen. Das ist also der nächste Schritt, dem wir uns zuwenden müssen. Mit viel Druck von der Straße haben wir Fortschritte gemacht: Die grünen Bewegungen haben die Kohleproduktion gestoppt, die Gewerkschaften sorgen für Jobs auch in der Zukunft in der Lausitz. Aber bei der zentralen Frage des Kapitalismus: wer entscheidet über die Kontrolle der Produktionsmittel, müssen wir noch ran.
Roland Kulke ist Politikwissenschafter und Projektmanager der Arbeitsgruppe Produktive Transformation von transform! europe in Brüssel.
1 Beate Littig: Nachhaltige Arbeit ist mehr als green jobs. ArbeitnehmerInnenvertretungen und die sozial-ökologische Transformation der gegenwärtigen Arbeitsgesellschaft, WISO 41. Jg. (2018), Nr. 4
2 Für eine Diskussion der Vorteile von Kooperativen, gerade auch aus demokratietheoretischer Sicht siehe Kristian Krieger, Manuela Kropp, Roland Kulke: Fighting Populism with Energy Politics – Energy Cooperatives in Europe, Global Policy Journal, 5. Mai 2017
Es gibt einige Anzeichen dafür, dass die rechte Diskurshegemonie in den Vereinigten Staaten in der nächsten Zeit gewaltig in die Defensive geraten könnte: Dies ist unter anderem den politischen Vorstößen der Demokratischen Abgeordneten im Repräsentantenhaus, Alexandria Ocasio-Cortez, zu verdanken. Ihr Zehn-Jahres-Plan für eine grün-keynesianischen Wirtschaftspolitik beinhaltet zwar keine radikalen kapitalismuskritischen Positionen, dennoch kann er als parlamentarischer Arm einer dynamischen Bewegung für Klimagerechtigkeit sehr hilfreich sein.
Von ALEXANDER BEHR
Alexandria Ocasio-Cortez machte vor einigen Monaten von sich Reden, als sie öffentlich forderte, den Spitzensteuersatz in den USA auf 80 Prozent zu erhöhen und somit große Vermögen massiv zu besteuern. Eine Umfrage ergab, dass 70 Prozent der Amerikanerinnen und Amerikaner ihren Vorschlag unterstützen. Die Erhebung ist umso beeindruckender, da sie nicht von progressiven Akteur_innen durchgeführt wurde, sondern vom rechten Fernsehsender Fox News.
Anfang Februar sorgte Ocasio-Cortez dann mit einer Resolution für Aufruhr, die sie gemeinsam mit dem Demokratischen Senator Ed Markey veröffentlichte. Bei der Resolution handelt es sich um nicht weniger als um den Vorschlag für einen »Green New Deal« für die Vereinigten Staaten. Der Begriff ist an den New Deal angelehnt, der in den 1930er Jahren in den USA den fordistischen Klassenkompromiss einläutete. Der Green New Deal soll nun Elemente einer keynesianischen Wirtschafts- und Sozialpolitik mit einem ökologischen Umbau der Gesellschaft verbinden.
Am 7. Februar wurden die Hauptelemente des Green New Deal vorgestellt: Sie beinhalten einen Zehn-Jahres-Plan für eine »ökonomische Mobilisierung«, die den Einsatz von fossiler Energie schrittweise beenden soll und eine Generalüberholung der industriellen Infrastruktur des Landes vorsieht. Ocasio-Cortez tritt für den Umstieg in der Stromproduktion auf 100 % erneuerbare Energien bis zum Jahr 2031 ein. Geplant wären auch massive Investitionen in den Ausbau von erneuerbaren Energien und des Schienennetzes sowie eine staatliche Offensive zur Schaffung von »green jobs«. Bildungsprogramme für einkommensschwache Bevölkerungsgruppen sowie eine soziale Wohnbaupolitik und der Wiederaufbau staatlicher Gesundheitsversorgung gehören ebenfalls zu den Kernelementen des Green New Deal.
Nachdem bereits in der Ära Obama sehr viel über die Idee eines Green New Deal gesprochen wurde, meinen nun viele Kommentator_innen, dass mit der vorliegenden Resolution endlich eine Diskussionsgrundlage auf dem Tisch liege. Zwar ist das Konzept an vielen Stellen relativ vage, die Resolution stelle aber in erster Linie ein inhaltliches Bezugssystem dar, wie vielfach betont wird.
Gegen den Green New Deal
Präsident Trump hat sich bereits im Februar abfällig über die Vorschläge von Ocasio-Cortez geäußert und massive Angst geschürt. Der Plan würde »Millionen Amerikanern ihren Job kosten«, denen man noch dazu ihre Autos wegnehmen würde. Millionen von Häusern würden ihren Wert verlieren. Dazu kamen groteske, aber zu erwartende Agit-Prop-Einlagen von rechts: Der Republikaner Rob Bishop aus dem Bundesstaat Utah hielt eine Pressekonferenz ab, bei der er demonstrativ einen Hamburger verzehrte und kundtat, dass ihm dies bald untersagt werden könnte, wenn der Green New Deal umgesetzt wird.
Der Fraktionsvorsitzende der Republikaner und seit Januar 2015 Mehrheitsführer (»Majority Leader«) im Senat, Mitch McConnell, hat außerdem angekündigt, noch im März im Senat eine Abstimmung über den Green New Deal zu veranlassen. Dort haben die Republikaner eine Mehrheit von 53 Sitzen. McConnell gehört zu jenen 22 Republikanischen Senatoren, die President Trump in einem offenen Brief aufgefordert hatten, das Pariser Klimaabkommen zu verlassen. McConnell will mit seiner Strategie die Spaltungslinien in der Demokratischen Partei vertiefen und Ocasio-Cortez und andere fortschrittliche Demokrat_innen isolieren.
Die heftigen Reaktionen der Republikaner zeigen auch, dass die starke Position von Ocasio-Cortez nicht mehr ignoriert werden kann. Durch ihren Vorstoß ist einiges in Bewegung gekommen. Sie beweist, dass die Ohnmacht, nichts gegen Trump und sein System ausrichten zu können, überwunden werden kann. Nun können die Bewegungen für Klimagerechtigkeit, die in den USA mittlerweile stark gewachsen sind, das entstehende Momentum nutzen, sich öffentlichkeitswirksam in die Debatte einbringen und Druck aufbauen. Denn selbst wenn es gelänge, einen Green New Deal durchzusetzen, wären viele soziale und ökologische Probleme erst im Ansatz gelöst: Mit einer grün-keynesianischen Wirtschaftspolitik, die darauf angewiesen ist, dass der Wachstumsmotor weiter brummt, werden die drastischen Senkungen der CO2 Emissionen, die notwendig sind, auf keinen Fall erreicht werden können. Vieles spricht dafür, dass der Klimawandel in den nächsten Jahrzehnten noch weit stärker als heute als ein Brandbeschleuniger für alle anderen gesellschaftlichen Krisen wirken wird. Vielfach wird zurecht betont, dass junge Menschen heute zur ersten Generation gehören, die den Klimawandel effektiv spürt, aber gleichzeitig die letzte ist, die ihn mit realistischen Erfolgschancen bekämpfen kann. Fest steht, dass die Klimakrise bereits jetzt eine neue, äußerst dynamische Generation an Aktivist_innen hervorgebracht hat. Auch in Europa zeichnen sich mit Bewegungen wie Extinction Rebellion, Ende Gelände, System Change not Climate Change oder dem transnationalen Klimastreik die Konturen einer starken Klimagerechtigkeitsbewegung ab.
Radikale kapitalismuskritische Positionen beinhaltet der Vorschlag von Ocasio-Cortez natürlich nicht. Die vorliegende Resolution ist dennoch ein Schritt in die richtige Richtung. Der Vorstoß ist auch deshalb spannend, weil er von Ocasio-Cortez kommt, die sich selbst als Demokratische Sozialistin bezeichnet. Ihr gelingt es, die Forderung nach sozialer Gerechtigkeit glaubhaft mit der Forderung nach effektivem Klimaschutz zu verbinden. Darin unterscheidet sie sich radikal vom Demokratischen Parteiestablishment.
Gesellschaftlicher Aufbruch
Endlich tut sich etwas – und gerade weil die Inhalte des Vorschlags umkämpft sind, muss er nun von den Vielen mitentwickelt, verteidigt, korrigiert und vorangetrieben werden. Die verschiedenen politischen Ebenen, von direkten Aktionen gegen das klimaschädliche Fracking oder gegen Kohletransporte, über Massenproteste auf der Straße bis hin zum Ringen um fortschrittliche Positionen innerhalb der Demokratischen Partei müssen nun in einer klugen innerlinken Arbeitsteilung miteinander verknüpft werden. Über 600 Umweltgruppen und soziale Bewegungen haben sich bereits in einem offenen Brief geäußert und ihre Unterstützung sowie ihre solidarische Kritik am Green New Deal zum Ausdruck gebracht. Entscheidend wird nun sein, dass falsche Alternativen, wie Emissionshandel und Offsets, CO2-Abscheidung und -Speicherung oder im schlimmsten Fall die Aufwertung von Atomenergie in einem zukünftigen Green New Deal keinen Platz haben. Von der Stärke der sozialen Bewegungen wird es abhängen, ob außerdem wachstumskritische Positionen sowie die Positionen von indigenen Communities und Communities of Color ausreichend Gehör finden.
Es ist zu hoffen, dass die Resolution über den Green New Deal die weltweiten Klimabewegungen beflügelt und dass nun endlich ein breiter gesellschaftlicher Aufbruch beginnt, der über Fordismus und Wachstumsimperativ hinausweist und der den fossilen Kapitalismus letztendlich zu Grabe trägt.
Alexander Behr ist Politikwissenschafter, Übersetzer und Journalist. Neben der Lehrtätigkeit an Universitäten, an Schulen und bei Gewerkschaften ist er Aktivist im Netzwerk Afrique Europe Interact.