Bei der letzten Nationalratswahl im Oktober vor knapp einem Jahr waren genau 6.340.231 Personen mit Wohnsitz in Österreich wahlberechtigt. Gegenüber der Bundespräsidentschaftswahl im Jahr zuvor waren das um 2.837 Wahlberechtigte weniger. Klingt nicht viel. Tatsächlich lagen aber zwischen den Stich tagen für die jeweilige Wahl nur zehn Monate, in denen gleichzeitig die Gesamtbevölkerung Österreichs um circa 35.000 BewohnerInnen wuchs. Einem Anstieg der Bevölkerung steht also ein Rückgang an Wahlberechtigten gegenüber.
Text von GERD VALCHARS
Österreichs Bevölkerung wächst, die Zahl der Wahlberechtigten aber schrumpft. Dieses Auseinanderdriften von Wohn- und Wahlbevölkerung kann seit einigen Jahren beobachtet werden. 2012 lebten in Österreich erstmals mehr als eine Million Menschen ohne österreichische Staatsbürgerschaft. Seitdem ist diese Zahl auf circa 1,4 Millionen und ihr Anteil an der Bevölkerung auf 15,8 Prozent angestiegen. Mehr als die Hälfte (56 Prozent) dieser Nicht-StaatsbürgerInnen lebt bereits seit mehr als fünf Jahren in Österreich, 39 Prozent gar seit mehr als zehn Jahren. Und 14 Prozent sind als Nicht-StaatsbürgerInnen in Österreich geboren, haben also immer schon in Österreich gelebt. Gleichzeitig ist die Zahl der jährlichen Einbürgerungen in Österreich nach 2003 stark zurückgegangen. Das im internationalen Vergleich stark ausschließende Staatsbürgerschaftsrecht mit einer Reihe von außergewöhnlich hohen Hürden für die Einbürgerung beschert Österreich seit geraumer Zeit eine der niedrigsten Einbürgerungsquoten innerhalb der Europäischen Union. Diese Entwicklungen spiegeln sich natürlich unmittelbar im Elektorat wider. In Österreich ist das Wahlrecht streng an die Staatsangehörigkeit gebunden. Bei der Nationalratswahl, bei den Landtagswahlen und bei der Wahl der BundespräsidentInnen gilt: Wahlberechtigt sind ausschließlich österreichische StaatsbürgerInnen. Nur bei den Wahlen zum Europäischen Parlament und bei den Gemeinderatswahlen sind seit 1995 auch UnionsbürgerInnen wahlberechtigt. Eine Ausnahme ist Wien, das gleichzeitig Bundesland und Gemeinde ist: Hier dürfen UnionsbürgerInnen nur auf Bezirksebene wählen. Drittstaatsangehörige jedoch, also StaatsbürgerInnen von Nicht-EU-Staaten, sind in Österreich auf keiner politischen Ebene wahlberechtigt.
Mehr WienerInnen, weniger WählerInnen
Damit sinkt die sogenannte Wahlrechts inklusivität parallel zum Anstieg des Anteils an Nicht-StaatsbürgerInnen an der österreichischen Bevölkerung. Noch deut licher als auf Bundesebene zeigt sich das in Wien: Bei der Nationalratswahl 2017 waren 7.000 WienerInnen weniger wahlberechtigt als 2008. Gleichzeitig ist Wien eine wachsende Stadt, die Bevölkerung im Wahlalter (16 Jahre und älter) ist im selben Zeitraum um 163.000 EinwohnerInnen gewachsen. Prozentuell hat sich der Wahlrechtsausschluss damit innerhalb von nur 18 Jahren von 14,4 (1999) auf 27,9 Prozent (2017) nahezu verdoppelt. In absoluten Zahlen sind das 441.000 WienerInnen, die zwar im Wahlalter, aber nicht wahlberechtigt sind. Zur Illustration: Das ist mehr als die Gesamtbevölkerung von Graz und Salzburg und ungefähr so viel wie die Bevölkerung der zwei größten und der zwei kleinsten Wiener Bezirke zusammen. Das Wahlrecht ist in einer Demokratie die wichtigste Artikulationsmöglichkeit. Wer vom Wahlrecht ausgeschlossen ist, kann seiner Meinung durch Stimmabgabe keinen Ausdruck verleihen und wird politisch nicht gehört – mit weitreichenden Folgen für Demokratie und Gesellschaft. Die enge Bindung des Wahlrechts an die schwer zu erlangende Staatsbürgerschaft und der dadurch verursachte steigende Wahlrechtsausschluss führen dazu, dass ein großer – und immer größer werdender – Teil der Bevölkerung politisch nicht repräsentiert ist. Er hat keinen Einfluss auf die Zusammensetzung des Parlaments und kann einer dem Parlament verantwortlichen Regierung keine Legitimation erteilen. Das heißt aber auch, dass kein Wahlkampf um die Stimmen dieser politisch stimmlosen Menschen geführt werden muss. Parteien haben keinen Grund, sich ihrer Interessen anzunehmen, Politik für diese mehr als eine Million Menschen zu machen und um deren Gunst – wie um jede andere WählerInnengruppe – zu werben.
Objekt, nicht Subjekt der Politik
Die Stimme bei einer Wahl ist die einzige Währung, die am politischen Markt Gewicht hat; wer über sie nicht verfügt, dem wird nach der politischen Marktlogik von den Parteien und KandidatInnen keine Aufmerksamkeit geschenkt. Umgekehrt heißt das aber auch, dass eine wahlwerbende Partei keinen Stimmenverlust befürchten muss, wenn sie Politik gegen diese Bevölkerungsgruppe macht. Parteien gehen also kein Risiko ein, wenn sie negative Politik auf Kosten dieser Menschen machen, da von ihrer Seite keine politischen Sanktionsmöglichkeiten bestehen. Wer kein Wahl- und Stimmrecht hat, ist kein politisches Subjekt, sondern allein Objekt der Politik und der Auseinandersetzung. Das hat zur Folge, dass die Demokratie nicht nur an Inklusivität, sondern maßgeblich auch an Legitimation verliert. Deutlich erkennbar wird das, wenn man sich die Ergebnisse der letzten Wahlen in Österreich ansieht und dabei als Basis zur Berechnung der Stimmanteile nicht wie üblich die Summe der abgegebenen gültigen Stimmen heranzieht, sondern die Wohnbevölkerung im Wahlalter. So betrachtet war die stärkste »Partei« bei der Gemeinderats- und Landtagswahl in Wien 2015 die »Partei« der Nicht-Wahlberechtigten. Mit 25 Prozent war sie die große Gewinnerin oder in dem Fall wohl besser: Verliererin dieser Wahl. Erst an zweiter Stelle rangierte die SPÖ mit 21,6 Prozent, gefolgt von der »Partei« der NichtwählerInnen (also jener, die zwar wahlberechtigt waren, der Wahl aber fernblieben) mit 18,9 Prozent. Auf den vierten Platz schaffte es schließlich die FPÖ mit 16,8 Prozent. Die Parteien der in Wien regierenden Koalition aus SPÖ und Grünen, nach offizieller Lesart mit einer absoluten Stimmenmehrheit von 51,4 Prozent ausgestattet, erreichten gemessen an der Wiener Wohnbevölkerung im Wahlalter zusammen gerade einmal 28,1 Prozent. Ihr steht eine Koalition aus Nicht-Wahlberechtigten, Nicht- und Ungültig-WählerInnen von 45,3 Prozent gegenüber.
Ähnlich, wenngleich (noch) nicht so deutlich, zeigt sich das Ergebnis der Nationalratswahl aus dem Jahr 2017: Hier lagen die politischen Parteien ÖVP (21,3 %) und SPÖ (18,2 %) noch vorne, an dritter Stelle und knapp vor der FPÖ (17,6 %) aber rangierten schon die NichtwählerInnen (17,7 %), gefolgt von den Nicht-Wahlberechtigten (13,9 %). Die Regierungsparteien, im amtlichen Wahlergebnis mit 57,5 Prozent verbucht, kommen so betrachtet gemeinsam auf lediglich 38,9 Prozent. Durch die wachsende Wahlrechtslücke verliert die Demokratie also deutlich an Inklusivität und das Herrschaftsgefüge maßgeblich an Legitimation. Aber das ist noch nicht alles. Der zunehmende Ausschluss vom Wahlrecht führt nicht nur zu einer fehlenden Repräsentation eines Teils der Bevölkerung im politischen System, sondern auch zu einer deutlichen Verzerrung der Repräsentation, von der noch viel mehr Menschen betroffen sind.
Überaltert und unterwienert
Der Ausschluss vom Wahlrecht zieht sich zwar quer durch die gesamte Wohnbevölkerung des Landes, unterschiedliche Teile der Bevölkerung – Alt und Jung, Arm und Reich, Stadt- und Landbevölkerung, etc. – sind dabei aber unterschiedlich stark betroffen. Weil der Anteil an Nicht-StaatsbürgerInnen in Österreich unter den Jüngeren höher ist als unter Älteren, sind auch Jüngere deutlich stärker vom Wahlrechtsausschluss betroffen. Das Elektorat ist also in puncto Altersverteilung nicht repräsentativ für Österreich. Im Vergleich zur tatsächlichen Bevölkerung ist es überaltert; unter den potentiellen WählerInnen sind ältere Altersgruppen über- und jüngere unterrepräsentiert. Die Wahlbevölkerung ist aber nicht nur überaltert, sie ist auch »überniederösterreichert« und »unterwienert«. Wien ist das bevölkerungsstärkste der neun österreichischen Bundesländer; die meisten ÖsterreicherInnen also – und auch die meisten ÖsterreicherInnen im Wahlalter – leben in Wien. An zweiter Stelle liegt Niederösterreich. Anders bei den Wahlberechtigten: Hier kehrt sich die Reihenfolge um und Niederösterreich liegt vor Wien. Von 100 ÖsterreicherInnen über 16 Jahren sind 21,3 WienerInnen und 19 NiederösterreicherInnen, während von 100 Wahlberechtigten nur 18 WienerInnen und 20,1 NiederösterreicherInnen sind. WienerInnen sind also als (potentielle) WählerInnen österreichweit unterrepräsentiert und haben damit weniger Einfluss auf das politische Geschehen, als ihnen entsprechend ihres Anteils an der Bevölkerung eigentlich zustehen sollte.
Dasselbe gilt generell für die städtische Bevölkerung Österreichs und neben jüngeren Altersgruppen auch für ArbeiterInnen, unter denen der Anteil an vom Wahlrecht ausgeschlossenen Nicht-StaatsbürgerInnen deutlich höher ist als unter Angestellten und öffentlich Bediensteten. Ebenfalls unterrepräsentiert sind niedrigere Einkommensschichten und Erwerbsarbeitslose – nicht zuletzt aufgrund des für eine Einbürgerung erforderlichen Mindesteinkommens, durch das gezielt Menschen mit niedrigem Einkommen die Staatsbürgerschaft und damit das Wahlrecht vorenthalten werden soll. All diese Gruppen sind in der Wahlbevölkerung im Vergleich zur Wohnbevölkerung unterrepräsentiert und damit mit weniger Einfluss auf das politische Geschehen in der indirekten Demokratie ausgestattet.
Als Betroffene der wachsenden Wahlrechtslücke können damit nicht nur die unmittelbar selbst vom Wahlrecht Ausgeschlossenen und das politische System als Ganzes ausgemacht werden, das an Inklusivität und Legitimation verliert. Betroffen sind auch weitere Teile der Gesellschaft, die entgegen ihres zahlenmäßigen Anteils an der Bevölkerung in der Wählerschaft mitunter stark unterrepräsentiert sind. Diese Erkenntnis ist zentral in der Debatte um den Wahlrechtsausschluss, gibt sie doch einen Hinweis darauf, wer aus machtpolitischen Gründen eventuell gegen eine Ausweitung des Wahlrechts auftritt und wer eigentlich ein Interesse an einer Ausweitung haben sollte.
Denn klar ist auch: Die Wahlrechtslücke, die sich in Österreich in den letzten Jahren geöffnet hat, wird sich von selbst nicht wieder schließen. Die österreichische Bevölkerung ist eine wachsende, die Gesellschaft eine mobile geworden; die demokratische Infrastruktur muss an diese sich verändernde Gesellschaft angepasst werden. Das demokratische Ideal besagt, dass Menschen die Möglichkeit haben sollen, an den Entscheidungen, von denen sie selbst betroffen sind, auch selbst mitzuwirken. Gemäß diesem Ideal sollen jene, die dem Recht dauerhaft unterworfen sind, dieses auch selbst erzeugen und mitformulieren können, das heißt, die AutorInnen dieses Rechts und Politik also Sache der Allgemeinheit sein. Das ist es, was der Demokratie ihren hohen Grad an Legitimation und Akzeptanz verleiht. Österreich hat sich von diesem demokratischen Ideal zusehends entfernt und die wachsende Wahlrechtslücke hat in den letzten Jahren und Jahrzehnten ein strukturelles Demokratiedefizit entstehen lassen. Hundert Jahre nach seiner Einführung muss festgehalten werden, dass das allgemeine Wahlrecht kein allgemeines mehr ist.
Gerd Valchars ist Politikwissenschafter mit den Schwerpunkten österreichische Regimelehre, Citizenship und Migration und Länderexperte Österreich des Global Citizenship Observatory (globalcit.eu) am Europäischen Hochschulinstitut (EUI) in Florenz.
Der Text wurde zuerst in der »Stimme – Zeitschrift der Initiative Minderheiten« publiziert.