WALTER BAIER über die Friedensbewegung der 1980er Jahre
Ich kann mich nicht daran erinnern, wie ich den 3. Juni 1980 verbracht habe. Von der Dramatik der Ereignisse dieses Tages hatte ich – wie die meisten Menschen auf der Welt – keine Ahnung. Im nordamerikanischen Luftverteidigungskommando hatte an diesem Dienstag um zwei Uhr früh ein Computer den Anflug mehrerer hundert sowjetischer Raketen angezeigt. Als sich der Irrtum herausstellte, war bereits ein Drittel der strategischen Atomstreitkräfte im Einsatzmodus und konnte gerade noch gestoppt werden. Die Welt war am nuklearen Desaster vorbeigeschrammt.
Dabei schien es, als hätte sich das Verhältnis zwischen der USA und der Sowjetunion entspannt. Nach jahrelangen Verhandlungen hatte man 1972 vereinbart, die Potentiale, die zur mehrfachen gegenseitigen Vernichtung ausreichten, auf ein niedrigeres Niveau zu senken. Europa blieb aber
ausgeklammert, weil die USA ihre hier stationierten Waffen nicht als »strategisch« mitzählen lassen wollten. Außerdem waren die Arsenale von Frankreich und Großbritannien im Abkommen nicht erfasst. Die Sowjets nahmen dies zum Anlass einer Modernisierung ihrer Mittelstreckenraketen in Europa.
1981 war Ronald Reagan zum 40. Präsidenten der USA gewählt worden. Für ihn war die Sowjetunion ein »Reich des Bösen«, gegen das er zum weltweiten Kreuzzug aufrief. 108 Pershing-2-Raketen, die man in der BRD aufstellen wollte, von wo sie in vier Minuten Moskau erreichen konnten, und neue treffgenaue Marschflugkörper sollten einen »Enthauptungsschlag« und den auf Europa begrenzten Atomkrieg möglich machen.
In Österreich protestierten die Friedensbewegten zu dieser Zeit vor allem gegen die florierenden Waffengeschäfte der verstaatlichten Industrie. Im Sommer 1981 aber veröffentlichte eine Gruppe friedensbewegter Persönlichkeiten einen Aufruf für die UN-Abrüstungswoche im Oktober. Der Erfolg war überraschend: Innerhalb weniger Wochen wuchs die Zahl der Unterstützer_innen auf mehrere tausend an. Unter den prominentesten: Friedrich Cerha, Johanna Dohnal, Michael Köhlmeier, Friederike Mayröcker, Erika Pluhar, Margarete Schütte-Lihotzky, Peter Fleissner, Michael Häupl und Erwin Steinhauer. Zum Abschluss der Aktionswoche fanden zeitgleich in Wien und Linz die ersten größeren Friedensdemonstrationen statt, während unabhängig davon, landauf-landab, in ganz Österreich örtliche Initiativen gebildet wurden.
Parteijugend und Bewegung
Am 10. Dezember 1981 versammelten sich 150 Personen in Wien zum ersten Plenum der österreichischen Friedensbewegung, unter ihnen auch die Spitzen der Parteijungend von SPÖ und ÖVP, des Bundesjugendrings, der Gewerkschaftsjugend und der katholischen Jugendorganisationen. Einmütig beschlossen wurde, für den 15. Mai, der auch Jahrestag der Unterzeichnung des Österreichischen Staatsvertrags ist, zu einer Großdemonstration aufzurufen.
Das Mitte Dezember unter sowjetischem Druck in Polen ausgerufene Kriegsrecht und das Verbot der Gewerkschaft Solidarność prägte die Debatte auf dem nächsten Plenum. Eine kleine Arbeitsgruppe, in der ich den »kommunistischen Zugang« zu vertreten hatte, einigte sich schließlich darauf, eine »demokratische Lösung der gesellschaftlichen Konflikte in Polen unter Einschluss einer unabhängigen Gewerkschaftsbewegung« zu fordern. Ein kleiner Schritt für die Menschheit, aber ein großer für die KPÖ.
Das Problem der Jusos, dass ihnen per Parteibeschluss eine Zusammenarbeit mit den Kommunist_innen untersagt war, blieb aber bestehen. Um die Mes alliance für die Parteioberen erträglich zu machen, setzte Josef Cap durch, den Bundesjugendring, dessen Überparteilichkeit hauptsächlich in der Ausgrenzung der kommunistischen Jugendorganisationen bestand, zu einem der offiziellen Träger der Veranstaltung zu machen. Beim letzten Vorbereitungsplenum, sechs Wochen vor dem Friedensmarsch, überraschte er die Anwesenden, indem er namens eben dieses Bundesjugendrings darauf bestand, dass bei der Abschlusskundgebung auf dem Rathausplatz ein Sprecher der Jungen ÖVP, aber kein Kommunist das Wort ergreifen sollte.
Die Empörung über diesen »groß-koalitionären« Coup war ziemlich einhellig, doch offenbarte sich in den Reaktionen auch die Ambivalenz, mit der die Kommunist_innen in der Friedensbewegung wahrgenommen wurden. Die Intensität ihres Engagements wurde zwar geschätzt, aber ideologisch bestand Misstrauen, zum Teil selbst verschuldet, weil die Partei jede Kritik an der sowjetischen Rüstungspolitik abwehrte, geradeso als wollte sie den Verdacht bestätigen, dass sie tatsächlich nur für eine einseitige Abrüstung des Westens eintrat, was nicht zutraf.
Die Demonstration am 15. Mai 1982, ein Sternmarsch von den vier großen Wiener Bahnhöfen auf den Rathausplatz, an dem 70.000 Menschen teilnahmen, wurde trotzdem zum überragenden Erfolg. ÖVP und SPÖ, die die Plattform der Friedensbewegung als »naiv«, »moskaugesteuert« und »einäugig« verketzert hatten, gratulierten sich nun gegenseitig zu dem wundervollen Ereignis, zudem sie außer Störmanöver nichts beigetragen hatten.
Der Meinungsstreit
Inzwischen rückte der November des kommenden Jahres, an dem die entscheidende Abstimmung im deutschen Bundestag stattfinden sollte, näher. Die Vertreter_innen der Oberösterreichischen Friedensbewegung drängten darauf, die Aktionen gerade darauf zu fokussieren. Im Dezember legten sie den »Linzer Appell« vor, der auf einer Konferenz in der Linzer Arbeiterkammer von Hunderten Friedensaktivist_innen aus ganz Österreich beschlossen wurde. Darin wurde von der österreichischen Regierung gefordert, »sich gegen die Stationierung von Pershing-2 und Cruise-Missiles in Europa« auszusprechen. Innerhalb von sechs Monaten wurden für den Appell 140.000 Unterschriften gesammelt, darunter auch die Bruno Kreiskys, der damit eine Forderung an die von ihm geführte Regierung unterschrieb. Österreich!
Kurz zuvor hatte ein in Graz ausgerichtetes Friedensplenum zu einer neuerlichen Großdemonstration im Herbst in Wien aufgerufen.
Zu diesem Zeitpunkt wurde die von Margit Niederhuber und Annemarie Türk koordinierte, unabhängige Initiative »Künstler für den Frieden« für den Zusammenhalt der Bewegung besonders wichtig. Am 6. November 1982 veranstaltete sie in der Wiener Stadthalle ein Großkonzert. Vor 15.000 Menschen sangen, lasen, performten und sprachen unter anderen: Dietmar Schönherr und Peter Turrini, die eine von den Künstler_innen angenommene Resolution verlasen, Erwin Steinhauer, Esther Bejerano, Konstantin Wecker, Erika Pluhar, Ludwig Hirsch, Sigi Maron, Reinhardt Sellner, André Heller und Harry Belafonte. Friedensreich Hundertwasser steuerte das Plakat bei. Im Mai 1983 fuhr ein »Zug für den Frieden« quer durch Österreich.
Indessen entwickelte sich eine interessante inhaltliche Debatte in den Kirchen. Der Weltkirchenrat hatte die Atomrüstung als unmoralisch gebrandmarkt. Die Bischöfe der USA forderten vom Präsidenten den Verzicht auf den Ersteinsatz von Atomwaffen, und die anglikanische Kirche verlangte von Premierministerin Thatcher eine einseitige Abrüstung der britischen Nukleararsenale.
In Österreich waren es die katholischen Jugendorganisationen, die die Debatte vorantrieben. Ihre Grundhaltung war pazifistisch, ihre Vertreter_innen, die keine Parteikarrieren vor Augen hatten, konnten zur Verteidigung der Aktionsgemeinschaft mit den Kommunist_innen ein im wahrsten Sinn entwaffnendes Argument anführen: die im Evangelium geforderte »Feindesliebe«.
Allerdings testeten auch sie die Bündnisfähigkeit der Kommunist_innen, indem sie eine Solidarisierung der Friedensbewegung mit der von den Behörden unterdrückten, unabhängigen, von Christ_innen getragenen Friedensbewegung der DDR verlangten. Eine dementsprechende Resolution wurde auf dem Friedensplenum durch eine Stimmenthaltung der meisten kommunistischen Teilnehmer_innen möglich.
Innerhalb der Kirchenhierarchie waren die Meinungen geteilt. Während der Linzer Bischof Aichern den Linzer Appell unterzeichnet hatte, sah sich der Klagenfurter Bischof Kapellari veranlasst, öffentlich zu erklären, dass eine »Volksfront mit den Kommunisten« niemals geduldet würde.
Anfang September, sechs Wochen vor der für 22. Oktober anberaumten Großdemonstration kam es zum Showdown mit der ÖVP. Wochenlang hatten die Medien einen Untergang des Abendlands für den Fall prophezeit, dass ein Kommunist bei der Abschlusskundgebung das Wort ergreifen würde. Der Koordinationsausschuss hatte mich aber gerade dafür vorgeschlagen. Othmar Karas, dem Chef der Jungen ÖVP fiel zu, das Abendland zu retten und sich selbst als Redner zu empfehlen. Er wurde mit 177 Stimmen der 200 Anwesenden abgelehnt und ich mit derselben Stimmenzahl gewählt. Mediale Schelte gab es nach dieser Entscheidung vor allem für die Katholische Jugend, deren Bundessekretärin, Elisabeth Aichberger, in der rechten Presse als unwürdig bezeichnet wurde, dem drei Tage später zu einem Besuch in Österreich eintreffenden Papst Johannes Paul II einen Strauß Blumen zu überreichen.
Trotz oder vielleicht sogar wegen dieser Dauererregung wurde der Friedensmarsch am 22. Oktober 1983 mit seinen 100.000 Teilnehmer_innen zu einem politischen Großereignis.
Schlussbemerkung
Am selben Tag demonstrierten in Europas Hauptstädten Millionen Menschen. Nach einer Gallup-Umfrage waren im November 1983 67 Prozent aller wahlberechtigten Bundesbürger_innen, 68 Prozent der Niederländer_innen, 58 Prozent der Brit_innen und 54 Prozent der Italiener_innen gegen die Raketen. Trotzdem beschloss der Deutsche Bundestag die Aufstellung. Damit war der Höhepunkt der Bewegung überschritten, auch in Österreich. Daran vermochten auch teilnehmer_innenstarke und bemerkenswerte Aktionen in den folgenden beiden Jahren nichts zu ändern.
Eigentlich waren wir uns alle nicht bewusst, wie tief der Einschnitt war, den das Jahr 1983 markierte. In Afghanistan hatte sich die Sowjetunion in einen aussichtslosen, unpopulären Krieg verwickelt, der Aufstand der polnischen Arbeiter_ innen ließ sich nicht mehr unterdrücken und signalisierte das Ende der kommunistischen Regierungen Osteuropas. Reagans Plan, die Sowjetunion durch eine neue kostspielige Runde des Wettrüstens »totzurüsten«, war aufgegangen.
Die Friedensbewegung im Westen war zu schwach, um den Ereignissen eine andere Richtung zu geben. Ob die von Gorbatschow 1988 in seiner Rede vor der UNO vorgestellte Wende in der sowjetischen Außenpolitik etwas ändern hätte können, wäre sie früher erfolgt, muss hypothetisch bleiben. Österreich hätte in einem solchen internationalen Ringen um eine neue Friedenspolitik sicher keine Hauptrolle gespielt. Seine Friedensbewegung hätte trotzdem eine gute Figur gemacht.
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Der Atomtod wird nicht nach dem Parteibuch fragen
»Es ist nicht einfach die Angst um das eigene bisschen Leben, das uns heute auf die Straße treibt, sondern es ist die tief empfundene Verantwortlichkeit für das Schicksal unserer Gemeinschaft und des Planeten, auf dem wir leben.
Die Friedensbewegung ist ebenso wenig einseitig wie die Stationierung der neuen Raketen eine Nachrüstung ist. Die Friedensbewegung tritt für die Abrüstung in West und Ost ein.
Aber, so möchte ich fragen: Kann man die von der atomaren Gefahr Bedrohten, die Beunruhigten und Besorgten in Glaubwürdige und Unglaubwürdige einteilen? Ist die Angst, die ein Konservativer um sein Leben empfindet, glaubhafter und berücksichtigungswürdiger als die Angst eines Sozialisten oder Kommunisten?«
Aus der Rede von Walter Baier (links) am 22. Oktober 1983
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