Kein Land auf der Welt hat mehr Gefangene als die USA. Ein überdurchschnittlich großer Teil von ihnen sind Schwarze Menschen.
VON LEA SUSEMICHEL
2.121.600 Menschen sitzen in den USA derzeit im Gefängnis. Mit über zwei Millionen Inhaftierten sind die USA damit weltweit das Land mit den meisten Gefangenen. Das gilt nicht nur relational (nur die Seychellen haben eine noch höhere lnhaftierungsrate, also einen noch größeren Anteil der Bevölkerung in Haft), sondern sogar in absoluten Zahlen: Obwohl sie nur fünf Prozent der Weltbevölkerung stellen, haben die USA 25 Prozent aller Inhaftierten global zu verantworten. Allerdings ist diese lnhaftierungsquote nicht für alle Bevölkerungsgruppen gleich hoch. Was die US-amerikanische Bürgerrechtlerin Angela Davis, die sich zeit ihres Lebens auch für politische Gefangene einsetzt, schon vor Jahrzehnten als »Die Farbe der Gefangenschaft« angeklagt hat, ist bis heute Realität: US-Gefangene sind unverhältnismäßig oft Schwarz bzw. hispanischer Herkunft. Die Wahrscheinlichkeit, zumindest einmal im Leben im Gefängnis zu landen, beträgt bei weißen US-amerikanischen Männern eins zu 17, bei Schwarzen liegt sie hingegen bei eins zu drei. Bei Schwarzen Frauen ist die Inhaftierungsrate immerhin noch fast doppelt so hoch wie bei weißen Frauen.
»Mass Incarceration«
Das Phänomen der sogenannten »Mass Incarceration« macht es für viele Kinder und Jugendliche der Black Community alltäglich, dass Elternteile oder Menschen aus dem nahen sozialen Umfeld im Gefängnis sitzen – was wiederum die Zukunftsperspektiven dieser Kinder bestimmt. Es hat seinen Ursprung in der Law-&-Order-Politik, die mit Richard Nixons Präsidentschaftskandidatur 1968 begann. Um damals die Widerstandsbewegungen gegen den Vietnamkrieg und die Black-Liberation-Bewegung zu kriminalisieren, wurden Hippies gezielt mit Marihuana und Afroamerikanerlnnen mit Heroin in Verbindung gebracht. Unter Ronald Reagan wurde dieser zuvor vor allem rhetorische Krieg gegen Drogen ab 1982 zu einem tatsächlichen: Drogenabhängigkeit wurde nicht als gesellschaftspolitisches, therapeutisches oder sozialpädagogisches Problem betrachtet, sondern als Verbrechen. Seit den 1980ern steigen die Inhaftierungsraten als unmittelbare Folge dieser Politik rasant an. Mittlerweile sitzt fast die Hälfte (47 Prozent, Stand 2016) aller Insassinnen in Bundesgefängnissen wegen Drogendelikten ein.
Auch der Demokrat Bill Clinton verabschiedete 1994 den »Violent Crime Control and Law Enforcement Act«, die mit einem Dreißig-Milliarden-Dollar-Budget ausgestattete, größte Strafrechtsreform der US-Geschichte (er wurde dabei übrigens aktiv von Hillary Clinton unterstützt, wofür sie sich in ihrem Wahlkampf 2016 allerdings entschuldigte). Dazu gehörte auch das berüchtigte Three-Strikes-Law (»Drei-Verstöße-Gesetz«), das bei der dritten Verurteilung wegen einer Straftat automatisch eine lebenslange Haftstrafe vorsieht – in manchen Bundesstaaten fallen darunter sogar Delikte wie Einbrüche oder Autodiebstahl.
Kontinuität der Sklaverei
Ava DuVernays sehenswerter Dokumentarfilm »Der 13.« bewertet diese rassistische Mass Incarceration als Kontinuität der Sklaverei. Denn obwohl Sklaverei seit 1865 durch den 13. Zusatzartikel der US-Verfassung abgeschafft ist, enthält das Sklavereiverbot eine entscheidende Ausnahme: Die Arbeitskraft von Kriminellen darf bis heute ausgebeutet werden. DuVernays beim New York Film Festival 2016 gefeierte und inzwischen auf Netflix verfügbare Dokumentation führt in zahlreichen Interviews mit Wissenschaftlerinnen, Expertlnnen und AktivistInnen historische Zusammenhänge dieses »Gefängnis-Industrie-Komplexes« vor Augen. Eine von ihnen ist die Bürgerrechtlerin Michelle Alexander, die in ihrem Bestseller »The New Jim Crow« den »War on Drugs« als politisches Mittel für die soziale Stigmatisierung und Segregation von Schwarzen identifiziert.
Lobbyarbeit und der politische Einfluss der Gefängnisindustrie haben zu lukrativen Privatisierungen im Strafvollzugssystem geführt, womit nun nicht nur Dienstleistungen und Güter wie Überwachungstechnologie verkauft werden können, sondern auch die Ressource billiger Gefangenenarbeit geschaffen wurde, von der heute Konzerne wie McDonalds, Starbucks, Microsoft oder Bayer profitieren. »Viele Unternehmen, deren Produkte wir täglich konsumieren, haben erkannt, dass die Arbeitskraft in den Gefängnissen genauso profitabel sein kann wie die Arbeitskraft aus der Dritten Welt«, schrieb Angela Davis schon 1998 im Magazin »Colorlines«.
»Schwarzes Verbrechen«
Dieser Ausbeutung wiederum liegt die Kriminalisierung von Schwarzen Menschen insbesondere Männern zugrunde. Und diese beginnt nicht erst bei der alltäglichen rassistischen Polizeigewalt, gegen die »Black Lives Matter« aufbegehrt. Einer Gewalt, die jedes Jahr aberhunderten Menschen in den USA das Leben kostet, erneut ist ein überproportional großer Teil von ihnen Schwarz. Der Ursprung für diese Polizeibrutalität, für Racial Profiling und Racial Persecution, die Afroamerikanerlnnen von Verkehrskontrollen über Drogenfahndung bis hin zu den darauffolgenden rassistischen Verurteilungen massiv diskriminiert, liegt tiefer. Schließlich wird das Bild des »Schwarzen Verbrechers« seit der Kolonialgeschichte kultiviert und tradiert, weshalb sich das Motiv des »Schwarzen Vergewaltigers«, vor dem die Weiße Frau geschützt werden muss, tief eingebrannt hat – völlig unbeeindruckt von der Tatsache, dass es historisch vor allem weiße Männer waren, die Schwarzen Frauen schlimmste, auch sexuelle, Gewalt angetan haben. Selbst Schwarze Kinder und Jugendliche werden im Zuge dieser generellen Kriminalisierung als seelenlose »Superpredators« gebrandmarkt und das US-amerikanische Strafrecht verfolgt sie bereits als Minderjährige und wirft sie ins Gefängnis.
Crimmigration
Auch das sogenannte »Crimmigration Law«, also die zunehmende Ineinssetzung von Strafrecht und Immigration, kriminalisiert allein die Herkunft von Menschen. Das Auseinanderreißen von illegal in die USA eingereisten Familien im vergangenen Sommer durch Präsident Trump sowie das Einsperren kleiner Kinder in Lager, die sich nur dem Namen nach von Gefängnissen unterscheiden, geschah ebenfalls auf dieser Grundlage. Doch skandalös sind nicht nur die Umstände, die Menschen in den USA massenhaft ins Gefängnis bringen, schlimm sind auch die Zustände in den zunehmend privatisierten Gefängnissen selbst, in denen es beispielsweise auch weiterhin die längst als Folter klassifizierte Isolationshaft gibt. Angela Davis hat bereits vor zwanzig Jahren konstatiert, dass in den USA das Gefängnis als wichtigste Antwort auf soziale Probleme gilt. Doch »Gefängnisse lassen nicht die Probleme verschwinden, sie lassen Menschen verschwinden«, ist Davis' Erwiderung. Daran hat sich bis heute nichts geändert.
Dieser Beitrag von Lea Susemichel ist erstmals im Schwerpunkt »Geschlecht und Gefängnis« in »an.schläge – Das feministische Magazin« Ausgabe VI/2018 erschienen.