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Die Geschichte einer Bankidee und der Schaden für die Bewegung alternativer Ökonomien, aufgezeichnet von KARL REITTER.
Im Zuge der Finanzkrise von 2008 entstand im ATTAC-Umfeld die Idee, auch in Österreich die Gründung einer Bank anzustreben, die sich ethischen Kriterien verpflichtet fühlt und bewusst auf Spekulationsgeschäfte verzichtet. Derartige Banken gibt es in einigen europäischen Staaten. In der Schweiz ist Alternative Bank Schweiz (ABS) aktiv, in Deutschland die GLS Bank (Gemeinschaftsbank für Leihen und Schenken) mit ursprünglich anthroposophischen Wurzeln.
Das Projekt startete in Österreich unter dem Namen Demokratische Bank. Ab 2010 wurden die ersten Vorgespräche geführt, 2013 das Projekt, damals noch ein Verein, in Bank für Gemeinwohl unbenannt. Kennt man die Hintergründe, so zeigt sich die Problematik dieser Umbenennung. Christian Felber, führend bei der Entwicklung der Bankidee beteiligt, ist auch der Erfinder der sogenannten Gemeinwohlökonomie und Mentor der gleichnamigen Organisation Gemeinwohlökonomie, abgekürzt GWÖ. Seine Idee ist einfach: Alle kapitalistischen Unternehmungen sollen per Gesetz zu einer wiederkehrenden Gemeinwohlprüfung verpflichtet werden, die die bisherige Bilanzlegung ersetzt. Das Ergebnis dieser komplexen, mehrdimensionalen Prüfung soll je nach Resultat entweder zu steuerlichen Begünstigungen und rechtlich-finanziellen Besserstellungen führen, oder eben umgekehrt zu mehr steuerlicher Belastung und logistischen Nachteilen. Auf diesem Weg soll nach und nach ein grüner, sozial verträglicher und gezähmter Kapitalismus entstehen. Da die tatsächliche gesetzliche Einführung wohl etwas auf sich warten lässt, wenn ich das etwas ironisch ausdrücken darf, wirbt die GWÖ massiv für diese Ideen und Spenden, bietet eine Ausbildung zur GemeinwohlprüferIn an und präsentiert eine Liste von Unternehmungen, die sich bisher freiwillig dieser Prüfung unterzogen haben. Objektiv und ohne jede Polemik ist allerdings festzuhalten, dass die GWÖ seit Jahren auf gleichbleibendem Niveau dahindümpelt.
Genossenschaftsgründung und FMA
Die Umbenennung der Demokratischen Bank in Bank für Gemeinwohl rückte das Bankprojekt in die Nähe der GWÖ. Im Bankprojekt selbst führte dies zu Spannungen zwischen der Pro-GWÖ-Felber Gruppe und jenen AktivistInnen, die diesen Ideen fernstanden.
2014 wurde eine Genossenschaft gegründet und aktiv um Mitglieder geworben. Mit Hilfe des eingehobenen Genossenschaftsanteils, Minimum 200,– Euro, sollten die finanziellen Mittel für die Bankgründung aufgebracht werden. Die Genossenschaftsgründung startete vielversprechend, insgesamt konnten über 5.000 Mitglieder gewonnen und fast 4 Millionen Euro an Genossenschaftskapital angesammelt werden. 2017 geriet dieses Projekt allerdings in die Krise. Das Reservoir jener, die bereit waren, Geld in die Genossenschaft einzuzahlen und Mitglied zu werden, war offenbar ausgeschöpft. Das vorhandene Genossenschaftskapital reichte für ein Ansuchen um eine Banklizenz nicht aus. Daher wurde bei der Finanzmarktaufsicht (FMA) um eine Lizenz für ein Zahlungsinstitut angesucht. Ein Zahlungsinstitut darf zwar keine Kredite vergeben, ist aber berechtigt, Konten zu führen. Dieser Antrag wurde von der FMA abgelehnt. Offiziell lautete die Begründung: unvollständige und mangelhafte Unterlagen. Worin diese Mängel tatsächlich bestanden, wurde vom Vorstand des Bankprojekts nicht transparent gemacht. Die unter der Hand verbreitete Meinung, die FMA hätte im Interesse der großen Banken einen unliebsamen Konkurrenten aus dem Feld geschlagen, erscheint mir wenig glaubhaft. Nur um etwa die Dimensionen zu skizzieren: Die Bank für Gemeinwohl wollte mit 15 Millionen starten, die Bilanzsumme allein der BAWAG PSK beträgt 46.070 Millionen. Auch der Versuch, mit der deutschen GLS Bank zu kooperieren, scheiterte. Soweit, so schlecht.
Ein weiteres Problem bestand in den inzwischen ausgegeben Summen für Miete, Werbung und vor allem Gehälter, insbesondere für jene des nicht gerade schlecht dotierten Vorstands. Von den etwa vier Millionen einbezahlten Genossenschaftsbeiträgen waren 2,8 Millionen bereits wieder verbraucht. Alternative ökonomische Projekte können scheitern, das ist keine Schande und die Suche nach Sündenböcken ist keine Lösung. Skandalös war jedoch das Verhalten des Vorstands, nachdem klar geworden war: das Projekt ist gescheitert und kann nicht weitergeführt werden.
Anstatt die Genossenschaft in Würde aufzulösen und den Mitgliedern zumindest einen Teil der einbezahlten Genossenschaftsanteile zurückzuzahlen, wurde die Flucht nach vorn angetreten. Der Vorstand ließ in den von ihm formal korrekt einberufenen Generalversammlungen erstmals die einbezahlten Genossenschaftsanteile weitgehend entwerten und dafür als Draufgabe einen Mitgliedsbeitrag beschließen. So nach dem Motto: Wir können zwar keine Bank gründen, das Ziel der Genossenschaft ist verfehlt, aber wir machen trotzdem munter weiter. Nochmals, das Vorgehen dürfte formal juristisch korrekt gewesen sein. Aber sehr weitreichende Maßnahmen in ellenlangen Newslettern anzukündigen, wohl wissend, dass jene, die mit der Entwicklung nicht einverstanden sind, in der Regel mit den Füßen abstimmen, zu derartigen Generalsammlungen also gar nicht erscheinen, ist nicht als ein genossenschaftlichen Gepflogenheiten gemäßes Vorgehen zu qualifizieren.
Flucht nach vorn
Das Hemd des eigenen Arbeitsplatzes war näher als der Rock der Bankgründung, das ursprüngliche Ziel. In dieser Situation machte sich auch die Nähe zur GWÖ und die damit verbundene personelle Verquickung mit Felber-Fans im wahrsten Sinne des Wortes für den verbliebenen Vorstand bezahlt. Christian Felber höchstpersönlich verkündete in Videobotschaften neue Ziele und Horizonte. Auf der aktuellen Webseite wird nun das Weiterbestehen durch drei »Dienstleistungen« legitimiert: Es gebe weiter eine Crowdfunding Plattform, es würden Vorträge und Workshops zu ökonomischen Themen durchgeführt und man beteilige sich aktiv am politischen Diskurs, um »die gesetzlichen Rahmenbedingungen für die Geld- und Finanzwirtschaft am Gemeinwohl auszurichten«1, sprich die Ideen des Herrn Felber zu verbreiten. Und dafür waren über vier Millionen Euro und unzählige Arbeitsstunden nötig?
Den Schaden haben nicht nur die GenossenschaftlerInnen, den Schaden hat die Bewegung für alternative Ökonomien insgesamt. Wer wird nach dieser Erfahrung nochmals bereit sein, sich ideell und vor allem finanziell an einem alternativen Bankprojekt zu beteiligen?
Die institutionelle Krise Spaniens ist in ein neues Stadium getreten, am 10. November sind Neuwahlen. GERHARD STEINGRESS gibt einen Ein-und Überblick in den politischen Zerfallsprozess.
Die konservative Minderheitsregierung von Mariano Rajoy scheiterte im Juni 2018. Grund dafür war die langjährige institutionelle Krise im Gefolge der katalanischen Unabhängigkeitsbestrebungen, der zunehmend heftigeren Proteste gegen den Sozialabbau und der immer massiveren Korruptionsvorwürfe, die in einer Verurteilung der konservativen Partei (Partido Popular, PP) durch den obersten Gerichtshof gipfelten. Der in den letzten Jahren als Quereinsteiger bekannt gewordene und nach parteiinternen Querelen gestärkte Vorsitzende des Partido Socialista Obrero Español (PSOE, der spanischen sozialistischen Arbeiterpartei), Pedro Sánchez, übernahm nach einem von Podemos und anderen kleineren, regionalen Parteien unterstützten Misstrauensantrag die Regierungsgeschäfte. Rajoy schied aus der Politik aus, und der 37-jährige Pablo Casado folgte ihm als Parteivorsitzender. Eine für weite Bevölkerungskreise desaströse Ära war zu Ende gebracht, die politische Macht neu verteilt.
Neuformierung der Konservativen
Doch Sánchez stieß in weiterer Folge auf harten Widerstand. Dieser kam einerseits von jenen katalanischen Parteien, die auf ihrer Forderung nach Unabhängigkeit Kataloniens und der Freilassung der seit Oktober 2017 in U-Haft befindlichen Politiker der Region beharrten und die zwiespältige Haltung der Sozialisten zur katalanischen Frage kritisierten. Diese wagten keinerlei Zugeständnis für ein Referendum und vertraten eine nationalistisch-zentralistische Position, um der Propaganda von rechts entgegenzutreten, die ihnen Geheimgespräche mit den sogenannten Sezessionisten und damit Landesverrat vorwarfen. Während das linke Lager, bestehend aus PSOE und Unidos Podemos, nicht in der Lage war und ist, eine gemeinsame Linie zu finden, zerfiel das rechte Lager in drei größere Fraktionen, denen es nunmehr darum geht, aus machtpolitischen und wahltaktischen Überlegungen erneut zusammenzufinden. Es besteht seither insbesondere aus dem stark geschwächten Kern der rechtskonservativen PP unter der Führung von Pablo Casado und der 2006 in Barcelona gegründeten neoliberalen Partei Cuidadanos unter dem Vorsitz von Alberto Rivera, die als »saubere« Alternative im rechten Lager auftritt. Dazu kommt die aus dem zerfallenden PP entstandene erzreaktionäre Partei Vox unter Santiago Abascal, die den offen frankistisch orientierten Teil des PP repräsentiert. Sie wurde nun nach den Wahlen zum Zünglein an der Waage, das die beiden anderen konservativen Parteien zu einem verschärften nationalistischen, antifeministischen und migrantenfeindlichen Kurs drängt.
Die institutionelle Krise Spaniens trat damit in ein neues Stadium. Sánchez durfte den katalanischen Unabhängigkeitsbestrebungen nicht entgegenkommen, und aus Rücksicht auf den mächtigen rechten Flügel seiner Partei wahrt er Distanz zu Podemos, jener 2014 gegründeten und aus einer breiten sozialen Basisbewegung hervorgegangenen linken Partei unter Vorsitz von Pablo Iglesias, die zur massiven Konkurrenz für die Sozialisten wurde. In Koalition mit der kommunistischen Izquierda Unida hatte diese bei den Parlamentswahlen 2016 als Unidos Podemos mehr als 21 Prozent der Stimmen erhalten und war zur drittstärksten Fraktion geworden. Doch erhielt Sánchez nach seiner Regierungsübernahme im Juni 2018 wegen seiner zaghaften Reformpolitik weder von dieser noch von anderer Seite die erforderliche parlamentarische Unterstützung für das Budget 2019. Die Cortes Generales, bestehend aus dem Congreso de Diputados und dem Senat, wurden daher nach dem Scheitern der Budgetverhandlungen aufgelöst und vorgezogene Wahlen für den 28. April 2019 angesetzt.
Die Wahlbeteiligung war angesichts dieser zugespitzten Situation mit 75,75 Prozent sehr hoch und Pedro Sánchez wurde zum eindeutigen Sieger. Seine Partei erhielt 123 der 350 Sitze (28,68 % der abgegebenen gültigen Stimmen) im Parlament, gefolgt vom PP unter Pablo Casado mit 66 Sitzen (16,70 %), von Ciudadanos unter Alberto Rivera, 57 Sitze (15,86 %). Die als Unidas Podemos angetretene Formation unter Pablo Iglesias kam zusammen mit der verwandten lokalen Liste En Comú auf 42 Mandate (14,31 %). Die rechtsextreme Partei Vox zog mit 24 Sitzen (10,26 %) erstmals in das Parlament ein. Ebenfalls Sitze dazugewonnen haben Esquerra Republicana de Catalunya-Sobronanistas (ERC), eine der katalanischen Unabhängigkeitsformationen (+6), die linke baskische Koalition Bildu (+2) sowie die konservative nationalistische Partei des Baskenlands und Kleinparteien von den Kanaren, aus Navarra und Kantabrien mit jeweils ein bis zwei zusätzlichen Sitzen.
Statt linker Koalition unverbindliche »Kooperation«
Die Volkspartei verlor angesichts des Auftretens konkurrierender Rechtsparteien mehr als die Hälfte ihrer bisherigen Mandate. Deren Verluste ergaben den Stimmenzuwachs für Cuidadanos und die alarmierende Stärkung der rechtsextremen Formation Vox, die erstmals auf nationaler Ebene kandidierte. Zusammen verfügen diese drei Rechtsparteien also über 147 der 350 Sitze gegenüber den 173 Mandaten der linken Parteien (PSOE, Unidas Podemos, Esquerra Republicana und Bildu). Unidas Podemos verlor etwa ein Drittel der vorher erzielten Mandate an die Sozialisten, die angesichts des linken Konkurrenten für eine progressive Regierung geworben hatte. Das Ergebnis zeigt, dass die spanischen Wähler und Wählerinnen sich eindeutig für einen politischen Wechsel ausgesprochen hatten. Es lag daher an den Sozialisten und Podemos, eine linke Koalitionsregierung zu bilden, um die unter konservativer Herrschaft beschlossenen neoliberalen Maßnahmen zurückzunehmen und eine Politik im Interesse der Lohnabhängigen und Autonomen einzuleiten. Doch für eine stabile Regierung benötigt Sánchez nicht nur die parlamentarische Mehrheit von mindestens 176 Stimmen, also war er auf die Unterstützung von Unidas Podemos und der katalanischen sowie baskischen Nationalisten angewiesen, um im Rahmen der Investitur in einem zweiten Wahlgang die erforderliche einfache Mehrheit zu erreichen.
Der Möglichkeit, mit Unterstützung der ideologisch und programmatisch weit entfernten Cuidadanos zu regieren, erteilte Alberto Rivera eine entschiedene Absage. Der sozialistische Anwärter auf das Amt des Regierungschefs musste also versuchen, eine linke Koalition zu schmieden. Und genau an diesem Punkt setzte das momentane Katz-und-Maus Spiel an. Sánchez lavierte: Einerseits will er keine offene Koalition und damit Regierungsbeteiligung mit der linken Unidas Podemos, weil er damit innerhalb der sozialistischen Nomenklatura auf großen Widerstand stößt, andererseits braucht er diese Unterstützung, weil die breite Gefolgschaft seiner Partei auf Sozialreformen pocht, die nur durch den Druck von links durchzusetzen wären. So redet er statt von einer Koalition von einer unverbindlichen »Kooperation«, denn er will allein regieren und nur gelegentlich linke Forderungen berücksichtigen. Diese Unverbindlichkeit als Prinzip des Regierens sollte sich am linken Block in Portugal orientieren. Überdies setzt Sánchez auf punktuelle Unterstützung durch die beiden konservativen Parteien, die aber jegliche Zusammenarbeit mit den Sozialisten ablehnen.
Unidas Podemos erlitt bei den Wahlen massive Verluste, zu stark war der Wunsch, Pedro Sánchez als sozialistischen Ministerpräsidenten abzusichern, was viele ehemalige sozialistische Wähler zur Rückkehr zu ihrer Stammpartei bewog. Podemos bzw. Unidas Podemos sind auch schwere Fehler unterlaufen: Regionale und ideologische Widersprüche führten zu Abspaltungen, es kam zu Konkurrenzkandidaturen wie in Madrid, die die Abwahl der seit 2015 amtierenden progressiven Bürgermeisterin Manuela Carmena nach sich zog. All das schwächte diese einst so hoffnungsvoll angetretene Formation, die von rechts als marxistische Truppe denunziert wird. Dennoch bleibt festzuhalten, dass das politische Auftreten von Podemos und schließlich Unidas Podemos seit 2014 maßgeblich zur Veränderung der politischen Verhältnisse in Spanien beigetragen hat.
Extrem rechtes Zünglein an der Waage
PP und Cuidadanos ringen derzeit um ihr Verhältnis zu Vox. Einerseits bestehen ideologische Affinitäten, andererseits will man sich nicht offen mit dieser extrem rechten Formation einlassen. Doch wenn es um die Macht in den einzelnen Regionen geht, gewinnt Vox immer wieder Gewicht als Zünglein an der Waage.
Die Verhandlungen der Sozialisten mit Unidas Podemos scheiterten. Einerseits waren sie seitens der Sozialisten zu kurzfristig angesetzt, andererseits waren die Auffassungsunterschiede zu groß. Sánchez’ Bereitschaft zur Zusammenarbeit mit Iglesias war halbherzig und immer wieder von Rückziehern durchsetzt. Schließlich stellte er sogar die Bedingung, Pablo Iglesias als Person von der Regierung auszuschließen. Um die Tag und Nacht laufenden Verhandlungen nicht zu gefährden, verzichtete Iglesias vier Tage vor der entscheidenden Abstimmung auf jedes Amt in der geplanten Koalitionsregierung: »Ich sollte nicht die Entschuldigung der Sozialisten sein, dass es keine Regierungskoalition der Linken gibt«, verlautete er auf Twitter. Doch Sánchez’ Wahl scheiterte am 25. Juli in zweiter Runde. Er verweigerte ein für Unidas Podemos akzeptables Programm für die von ihm propagierte »Regierung des Wandels«. Unidas Podemos enthielt sich, die rechten Fraktionen stimmten gegen ihn, der Rest (bis auf die Stimme des kantabrischen Abgeordneten) enthielt sich ebenfalls.
Seither drängen viele zivilgesellschaftliche Organisationen, inklusive Gewerkschaften, auf eine neue Gesprächs- und Verhandlungsgrundlage der zwei linken Parteien, denn die ansonsten fälligen Neuwahlen wollen beide nicht riskieren. Doch auch diese Initiativen blieben erfolglos. Kategorisch erklärte Sánchez sein Programm für verpflichtend.
Julio Anguita, von 1988 bis 1998 amtierende Generalsekretär der Kommunistischen Partei Spaniens und Koordinator der Vereinigten Linken, hatte das Scheitern längst vorhergesehen. Es sei logisch, betonte er, dass in einer Koalitionsregierung Vertreter aller daran beteiligten Kräfte vertreten sind. Die PSOE werde jedoch dem Konkurrenten Unidas Podemos kein Regierungsamt zugestehen. Dies würden weder die EU noch das im Iberia Index, kurz IBEX, konzentrierte Finanzkapital zulassen; ebenso wenig die mächtige Rechte innerhalb der sozialistischen Partei; und schließlich gebe es in Spanien keine Kultur der politischen Pakte wie im übrigen Europa. Diese Situation sei im Wesentlichen eine Folge der nach dem Ende der Franco-Diktatur weiter bestehenden reaktionären Strukturen in der Gesellschaft.
Ähnlich äußerte sich jüngst Vincenz Navarro, ein renommierter katalanischer Politikwissenschaftler. Die fehlende Bereitschaft der Sozialdemokraten zu einer Koalition bringe zusätzliche enorme Kosten für die breiten Volksschichten und frustriere ihre Wähler und Wählerinnen. Dies fördere den europaweiten Rechtsruck. Die Ablehnung einer Koalitionsregierung mit Unidas Podemos sei nicht programmatisch oder mit einer angeblichen Inkompetenz seiner Vertreter begründbar, sondern dahinter stecke der Verzicht der Sozialisten auf ihren bloß wahltaktisch propagierten Reformwillen. Dies wiederum sei die Konsequenz ihrer Unterordnung unter die neoliberalen Kräfte des Landes und in der EU. Deshalb werde Pablo Iglesias, der Generalsekretär von Unidas Podemos, medial verteufelt und herablassend behandelt, trete doch allein diese Formation – nicht zuletzt wegen ihrer Fähigkeit, andere oppositionelle Gruppen einzubinden – ernsthaft gegen das Establishment auf.
Und nun: Neuwahlen mit ungewissem Ausgang
Eine Koalition mit Unidas Podemos wird von Sánchez und dem PSOE daher als Gefahr und Konkurrenz wahrgenommen und abgelehnt, weil sie bedeuten würde, eine Kraft in der Regierung zu haben, die Druck in Richtung tiefgreifender Reformen ausübt. Doch damit wird die Rückkehr der 1978 unter Druck der postfrankistischen Kräfte etablierten konstitutionellen Monarchie wahrscheinlich. Die zahlreichen Korruptionsskandale, das skandalöse Verhalten der Königsfamilie, der Machtmissbrauch und die Verbrechen des »tiefen Staates«, die unzulängliche, ja boykottierte Aufarbeitung der Verbrechen während der Francoherrschaft zeugen dafür und bereiten den Boden für eine zunehmende Polarisierung der politischen Kräfte, die durch das Auftreten der neofaschistischen Partei Vox und durch den zunehmenden zentralspanischen Nationalismus in den konservativen Parteien akzentuiert wird. Insbesondere im Zusammenhang mit den katalanischen und baskischen Unabhängigkeitsbestrebungen geht es um die Überwindung der korrupten und morbiden, aus dem faschistischen Erbe Spaniens übernommenen Bourbonenherrschaft und die Wiederherstellung der Spanischen Republik sowie die Befreiung der im Oligarchentum gefangenen Demokratie.
Pedro Sánchez weiß, dass er ohne die Unterstützung von Unidas Podemos nicht nächster spanischer Regierungspräsident werden kann. Doch er will allein regieren und ohne die Unterstützung seitens Iglesias bräuchte er dazu zumindest die Stimmenthaltung seiner beiden größten Gegner, dem äußerst rechten PP und dessen Ableger Cuidadanos. Würde er dies erreichen, wäre sein Ruf als reformwilliger sozialistischer Politiker zerstört.
Es war klar gewesen, dass Sánchez’ Katz-und-Maus-Spiel mit 23. September befristet war. Sollte er bis dahin nicht die erforderliche Mehrheit schaffen, würden für den 10. November Neuwahlen anzusetzen sein. Wie nun am 17. September, nach Ablauf der Konsultationen bekannt wurde, ist es zu keiner Einigung gekommen, weshalb der spanische König mangels parlamentarischer Unterstützung keinen Kandidaten für eine neuerliche Investitur benannt hat. Somit steht fest: Am 10. November gibt es Neuwahlen.
Gerhard Steingress ist emeritierter Universitätsprofessor für Soziologie an der Universität Sevilla.
»Die neuen politischen Führer träumen nicht von einer Veränderung der Gesellschaft.« Ivan Krastev, Europadämmerung
Er ist tief in der Politik verwickelt, er ist kein Politiker (geschweige denn ein politischer Führer), er ist klug und doch ein Träumer, er war und ist noch immer: Peter Kreisky.
VON RADOVAN GRAHOVAC.
Es ist nicht sicher, ob die politischen Führer je etwas erträumten, im Sinne von Ivan Krastev. Um ein Politiker oder, noch schlimmer, ein politischer Führer zu sein, muss man ein Pragmatiker, ein kompromissbereiter Mensch sein. Peter Kreisky war das alles gewiss nicht.
Die Themen, die Peter Kreisky sein Leben lang leidenschaftlich beschäftigten, die Zukunft des Sozialstaats, Feminismus, Flüchtlingsfragen, das Zusammenschrumpfen der linken Szene und die damit verbundenen Fragen der Organisierung einer »neuen linken« Gemeinschaft, um nur einige aus dem großen Umfang der großen ihn umtreibenden Fragen zu nennen, sind höchst aktuell.
Eva Brenner hat als Herausgeberin und Autorin dieses Buches eine Hommage an Peter Kreisky, den Träumer, geschaffen. Als erfahrene Theaterfrau wählte sie für die Dramaturgie ihres Buches eine klassische Sonatensatzform: ABA. Sie zögerte nicht, sich auf ihre intimen Gefühle und in die intime Psyche Peters einzulassen. Auch ihre MitautorInnen fragt sie nach deren Gefühlen Peter gegenüber, nicht nur nach deren rationale Gedanken über ihn aus.
Peter Kreisky war ein Mensch, der niemanden kalt lassen konnte. Das Buch »Den Bruch wagen« ist der beste Beweis dafür. Alle AutorInnen, die ihre Beiträge im Buch veröffentlicht haben, sind in einem einig: Peter Kreisky war ein außerordentlicher Mensch, ein Mensch, bei dem Privates von Politischem nicht getrennt werden kann.
Teil A
In diesem ersten A findet man ein Gedicht, das Konstantin Kaiser Peter Kreisky gewidmet hat: Etwas Schwingendes ging von dir aus / Sätze, die in ihrer Mitte Platz ließen / für die Einwürfe der anderen …
In einem Auszug aus dem Roman Herr Groll im Schatten der Karawanken von Erwin Riess treffen wir Peter als Romanfigur. Sind die surrealen Situationen der Romanhandlung eine schriftstellerische Erfindung? Leider nein.
In kühnerem und etwas kälterem Ton geht es weiter: Hannes Swoboda, Walter Baier, Irmtraut Karlsson, Leo Gabriel, Michael Genner und Margit Hahn analysieren einige von Peters schon erwähnten Interessen und seine Aktivitäten und fragen: Was hat sich in den letzten zehn Jahren, seit Peters Tod, geändert? Wie weit sind wir gekommen?
Teil B
Yuval Noah Harar: »We humans know more truths than any species on earth. Yet we also believe the most falsehoods.« (The big Ideas: What is Power, www.nytimes.com)
Die vier Texte von Petar Kreisky zeigen, warum er nicht Politiker sein konnte. In klarem, fast trocken wissenschaftlichem Stil analysiert Kreisky Linkssozialismus und »Neue Linke« (2007), Two »Welfare States« (2008), Gesundheitssicherung als Problem des politisch-administrativen Systems (1978) und Undogmatische Linke zwischen »Tauwetter« und neuer autoritärer Wende (2002).
Aus Gesprächen mit Eva Brenner weiß ich, dass die Auswahl der Texte durch Verfügbarkeit und Verlagsrechte bedingt ist. Dennoch kann man aus den vorhandenen Texten eine konsequente Art und Weise des Denkens und der Darstellung sehen. Sein Schreiben ergibt sich entlang zweier Bewegungen. Die Analysen folgen einer horizontalen Achse der Zeit und parallel einer räumlichen Betrachtung der untersuchten Phänomene.
Seine Analysen sind nie nur auf Gegenwart oder Vergangenheit oder auf Zukunft gerichtet.
Er wusste genau, dass die gesellschaftlichen Ereignisse Prozesse sind, deren Verständnis nicht zu gewinnen ist ohne Kenntnis ihrer Genese.
Er analysierte Probleme nie isoliert. Immer ist dabei auch ein anderer Raum zu betrachten, um so vergleichend unseren Raum besser darstellen und verstehen zu können.
Dieses Verfahren erhellt der Text Gesundheitssicherung als Problem des politisch-administrativen Systems (1978). Es scheint sich auf den ersten Blick um eine strenge Expertenanalyse zu handeln. Doch durch Peter Kreiskys Werdegang öffnet sich dieses Thema zu einer Kritik des gesamten Systems. Aus diesem Ausschnitt eines Themenfeldes heraus hat er uns einen tiefen Einblick und eine profunde Analyse des Systems ermöglicht.
Sein dialektisch geprägter Zugang birgt zugleich eine Hürde für die Praxis der Politik. Pragmatische PolitikerInnen brauchen keine breiteren und tieferen Analysen für ihre Taten. Sie müssen sicher, einfach auf das Ziel gerichtet sein. Sie dürfen nicht zweifeln und sie dürfen nicht zeigen, dass ein Problem mehrere Lösungen haben könnte.
Peter betrachtete und beleuchtete jedes Thema aus mehreren Perspektiven. Das bringt keine einfachen und schnellen Resultate. Er wusste, dass die Welt nicht schwarz-weiß ist und hält immer eine Reserve für Enttäuschungen offen. Trotzdem blieb er bis zum Ende seines Lebens ein optimistischer Mensch. Im Text Links sozialismus und »Neue Linke« (2007) trägt ein Kapitel den Titel: Die langen Zyklen der Demokratisierung – Demokratie braucht einen langen Atem.
Das zweite A – der dritte Teil des Buches
Neben Erinnerungen an Peter von Lore Heurmann, Oliver Rathkolb, Tineke Ritmeester und Rudolf Gelbard findet man von Peter Fleissner eine sehr passende Beschreibung von Peters Arbeit an dem oben erwähnten Text Gesundheitssicherung als Problem des politisch-administrativen Systems aus 1978 von damaligen Forschungsassistenten am Institut für Höhere Studien und Wissenschaftliche Forschung, wo Peter Kreisky postgradual Politikwissenschaften studierte. Dieser Text wurde im Rahmen des Studiums geschrieben.
Ein persönliches Geständnis der reziproken Beziehung von Herausgeberin Eva Brenner beschließt das Buch. Darin heißt es: Mit dem Titel »Den Bruch wagen« ist der Ton angeschlagen, der die Frage aufwirft, ob Peter Kreisky, hätte er länger gelebt und wäre er weniger belastet vom politischen Erbe des großen Vaters gewesen, den Bruch mit den traditionellen Parteien und Institutionen gewagt hätte.
Für alle, die sich für die Probleme der Zeit interessieren, ist das Buch Den Bruch wagen ein ausgezeichnetes »Kompendium«, um für sich selbst die Wege zum Bruch zu finden.
Ich erinnere mich gut an ein Jumbo- Plakat aus den 90er-Jahren des 20. Jahrhunderts: Wenn du die Welt ändern möchtest, ändere zuerst dich selbst!
Eva Brenner (Hg.): Den Bruch wagen. Texte von und über Peter Kreisky. Wien: Mandelbaum Verlag 2019, 253 Seiten, 25 Euro
Österreich hat wieder mal ein Volksbegehren: das seit 27. August laufende ist, dem Gebot der Zeit folgend, dem Klimaschutz gewidmet; für seine Einleitung sind 8.401 Unterstützungserklärungen vonnöten, die bereits innerhalb der ersten 24 Stunden beisammen waren, zurzeit wird eifrig weiter gesammelt, um die für eine Behandlung im Nationalrat erforderlichen 100.000 Unterschriften möglichst noch vor dem Einreichtermin geschafft zu haben. Jede*r in Österreich Wahlberechtigte ab dem 16. Lebensjahr kann auf einem Gemeinde- oder Bezirksamt bzw., falls er oder sie im Besitz einer Handysignatur oder Bürgerkarte ist, online die Unterschrift leisten.
VON HILDE GRAMMEL.
Volksbegehren sind in den letzten Jahren vermehrt von der Zivilgesellschaft genutzt geworden, um politischen Druck für bestimmte Anliegen aufzubauen. Obwohl meistens von etlichen Hunderttausenden unterschrieben, werden sie aber mit schöner Regelmäßigkeit von der Regierung ignoriert, die es oft nicht einmal der Mühe wert findet, sich über das gesetzlich vorgeschriebene Maß hinaus mit den Anliegen des jeweiligen Volksbegehrens zu befassen. So zumindest ist es schlechte österreichische Tradition, die regelmäßig das Engagement der vielen ehrenamtlich Tätigen und den politischen Willen der Unterzeichnenden verhöhnt. Es steht zu befürchten, dass das Klimavolksbegehren ein ähnliches Schicksal ereilen wird. Trotzdem soll es unterzeichnet werden, denn seine Forderungen sind so vernünftig wie zukunftsweisend, oder, wie die Sprecherin des Klimavolksbegehrens, Katharina Rogenhofer, es ausdrückt, sie stellen Mindestanforderungen an die österreichische Politik dar. Alleine, sie werden am politischen Willen der noch nicht gebildeten Regierung abprallen, die sich – wenn überhaupt – dem Klimaschutz nur verpflichtet fühlt, sofern die geforderten Maßnahmen nicht mit den Interessen der sie Finanzierenden (der Wirtschaft, des Kapitals) in Konflikt geraten. Ohne allzu großen Pessimismus verbreiten zu wollen muss klar sein, dass es ohne ›System Change‹ keinen ›Climate Change‹ geben wird, da jede Bemühung um Klimaschutz über kurz oder lang an die Grenzen des kapitalistischen Systems stößt.
Was fordert das Klimaschutzvolksbegehren konkret?
Klimaschutz und der Ausstieg aus Erdöl, Erdgas und Kohle sollen in die Verfassung und alle neuen Gesetze und Verordnungen auf ihre Folgen für Klima-, Umwelt- und Artenschutz geprüft werden; um bis 2040 klimaneutral zu werden, braucht Österreich ein CO2-Gesetz – einschließlich eines CO2-Budgets und einer ökosozialen Steuerreform –, das es möglich macht, CO2-Steuern einzuheben, die danach wieder als Klimabonus an alle österreichischen Haushalte rückvergütet werden sollen. Und: Statt klimaschädlicher Investitionen braucht es solche in ein flächendeckendes öffentliches Nah- und Fernverkehrsnetz und in leistbare, regionale erneuerbare Energie für alle. Soweit das Minimalprogramm, auf das sich ein Teil der klimapolitisch engagierten Zivilgesellschaft geeinigt hat, der weiterhin an der Herstellung einer breiten Klimaallianz arbeitet. Details finden sich unter klimavolksbegehren.at
Doch wie sehen die Wirklichkeiten aus, in denen sich das Klimavolksbegehren behaupten muss?
Österreich, dessen politisch Verantwort liche die Frage des Klimaschutzes jahr(zehnt)elang sträflich vernachlässigt haben, ist mit Strafzahlungen in Form des Kaufes von Emissionszertifikaten konfrontiert. Die Schätzungen liegen zwischen 6,6 Mrd. (Bundesministerium) und 10 Mrd. Euro (Expert*innen), Beträge, die aufgrund vergangener Versäumnisse von den Steuerzahler*innen zu berappen sind. Es lohnt sich, in diesem Zusammenhang die Klimapolitik der ÖVP genauer unter die Lupe zu nehmen, die nicht nur 30 Jahre lang das Umweltministerium besetzte, sondern uns mit ihrer aktuellen »klimafreundlichen« Orientierung weis machen will, dass sie Konzerninteressen bedienen kann und gleichzeitig den Klimaschutz ernst meint. Wie sehr in einer Klassengesellschaft Politik die Aufgabe zukommt, die Klassengegensätze auszutarieren, kann anhand von Aussagen der Vertreter*innen von Industriellenvereinigung und Angehörigen der letzten gewählten Regierung anschaulich demonstriert werden. Elisabeth Köstinger z. B., ihres Zeichens Umweltministerin im Kabinett Kurz I, fordert im aktuellen Wahlkampf, Österreich frei von Kohlekraft zu machen, während sie im Zuge der österreichischen EU-Ratspräsidentschaft den Vorschlag präsentierte, die Subventionen für Kohle, Gas und Atomkraft bis 2035 zu verlängern. Bis Juni hätte die Regierung der EU eine Liste jener Subventionen vorlegen müssen, die zur Klimakrise beitragen und dem Erreichen der Reduktionsziele entgegenstehen, was bisher nicht passiert ist. Bis jetzt liegt kein Gesetz zur Förderung und zum Ausbau erneuerbarer Energien vor. Georg Kapsch, Präsident der Industriellenvereinigung, zu der die Regierung Kurz I ein besonderes Naheverhältnis hatte, meinte unlängst in einem Interview, dass es nötig sei, dass die Industrie bestimmte Projekte durchboxen können solle, auch gegen Umwelt- und Tierschutz, Großprojekte sollen auch ohne Umweltverträglichkeitsprüfung genehmigt werden können, wenn die Bundesregierung dies will. Im Klartext heißt das, dass bisher erkämpfte vorgeschriebene Minimalkorrektive ausgehebelt werden sollen und dass die Regierung Kurz und ihre Hintermänner umweltpolitische Errungenschaften genauso hintergehen wollen wie sozial- und menschenrechtliche Standards.
Was verkauft uns Kurz als »klimafreundliche« Politik?
Die wichtigste umweltpolitische Ankündigung der ÖVP lautet, Investitionen in Höhe von 500 Millionen Euro in die Entwicklung von Autos mit Wasserstoffantrieb stecken zu wollen, ein Vorhaben, das von Umweltorganisationen heftig kritisiert wird. Wasserstoff als Treibstoff ist nicht nachhaltig, da 96 Prozent aus fossilen Brennstoffen gewonnen werden, seine Herstellung ist noch dazu äußerst energieintensiv. Der für den Antrieb benötigte Wasserstoff wird aus Erdgas gewonnen, ein Prozess, bei dem CO2 produziert wird. Expert*innen warnen sogar, dass die Mengen CO2, die bei der Wasserstofferzeugung produziert werden, höher seien, als die Menge, die über den Wasserstoffantrieb eingespart werden. Weitere Nachteile: Autos mit Wasserstoffantrieb sind extrem teuer in der Anschaffung, außerdem fehlen die Tankstellen dafür – bisher gibt es in ganz Österreich nur fünf (der Plan ist bis 2025 ein flächendeckendes Tankstellennetz zu haben). Aus dem Auspuff entweicht jedenfalls kein CO2, nur Wasserdampf und ein Tankstopp dauert nur fünf Minuten, keine Stunden, wie beim Elektroauto. Laut Kurz soll Österreich zur Wasserstoff-Nation Nr. 1 und bis 2045 CO2-neutral werden. Klimaschutz soll in die Verfassung, Steuern auf CO2-Emissionen werden hingegen abgelehnt, da diese auf Kosten des ländlichen Raums und von Pendler*innen gehen. Für neue Gesetze soll es einen »Klimacheck« geben. Der Generalsekretär der Industriellenvereinigung begrüßt jedenfalls den ÖVP-Schwerpunkt auf die Entwicklung des Wasserstoff-Antriebs. Von der Initiative der Regierung würde v.a. die OMV profitieren, deren Aufsichtsratsvorsitzender Wolfgang C. Berndt wiederum ÖVP-Großspender ist. Magna baut seinerseits bereits Wasserstoff-Autos, bis 2030 will der Konzern sie in Serie produzieren.
Auffallend an dieser ÖVP-Orientierung in Sachen Klimaschutz ist, dass sie in manchen Punkten mit den Forderungen des Klimavolksbegehrens übereinstimmt (CO2-Neutralität, Klimaschutz in die Verfassung, Klimacheck bei Gesetzen), Unterschiede bestehen beim Ausstieg aus der Nutzung von Erdgas und v. a. bei der Frage nach dem Ausbau des öffentlichen Verkehrs. Daran wird im Klimaprogramm der ÖVP kein Gedanke verschwendet, das Auto als Fortbewegungsmittel steht weiterhin im alleinigen Fokus. Kurz im O-Ton: »Die Lösung beim Klimaschutz wird nicht sein, eine Verbotsgesellschaft zu schaffen und auch nicht, die Besteuerung immer stärker anzuheben. Die Lösung kann nur Innnovation sein.« Im Klartext: Selbst Klimapolitik ist in erster Linie ein Geschäft. Und dass Verbote gegenüber einigen (z. B. Geschwindigkeitsbeschränkungen, Abstellverbote) Bewegungsfreiheit für viele andere bedeuten, davon hat der heilige Sebastian auch noch nichts gehört.
Die Lobau-Autobahn
Zu Zeiten, in denen sich wirklich alle den Klimaschutz an ihre Fahnen heften, sollte man meinen, dass es ein Leichtes sei, den Baustopp für eine Autobahn – wenngleich teilweise untertunnelt – durch ein Naturschutzgebiet zu erreichen. Bislang haben sich KPÖ, Grüne und Liste Jetzt dafür ausgesprochen, von diesem seit 2003 geplanten Vorhaben Abstand zu nehmen. Das Schweigen der Großen liegt wohl daran, dass weiterhin auf den motorisierten Individualverkehr statt auf den öffentlichen Verkehr gesetzt wird. Auch wasserstoffangetriebene, angeblich klimaneutrale Autos brauchen schließlich Autobahnen. Die Verlängerung der S1 vulgo Lobau-Autobahn ist eine Verbindung von Gdansk (Ostsee) zur Adria, um Güter quer durch den Kontinent zu verschieben und somit Anziehungspunkt des internationalen Schwerverkehrs. Zu ihrer Realisierung würde die Lobau an der breitesten Stelle mit einem 60 m tiefen, zweiröhrigen Tunnel untergraben, der wie eine Staumauer wirkt. An zwei Stellen würden die Spundwände des Ölhafens durchbrochen, hinter denen die größten Altlasten Österreichs gelagert sind (Ölseen aus ausgelaufenem Öl, hunderte Blindgänger), wodurch die Gefahr besteht, dass das Grundwasser verseucht wird. Dazu muss man wissen, dass die Lobau die Wiener Wasserversorgung für heiße Sommer und in Zeiten atomarer Bedrohung wie der Tschernobyl-Katastrophe gewährleistet. Die Lobau-Autobahn wird gemeinsam mit der Stadtstraße – S1-Spange, einem Zubringer zur bereits jetzt permanent verstopften Südost-Tangente, der durch bewohntes Gebiet im 22. Bezirk und einen Teil der Blumengärten Hirschstetten führen soll – von 15 Bürger-Initiativen bekämpft, die alle Parteienstellung in den gesetzlich vorgesehenen Umweltverträglichkeitsprüfungs- und Materienverfahren haben. Aktuell betragen die zu erwartenden Kosten alleine für die Lobau-Autobahn 3–4 Mrd. Euro. »Damit könnte man eine goldene Schnellbahn-Verbindung über die Donau bauen«, so Jutta Matysek von der seit 2006 tätigen BI »Rettet die Lobau«. In der Tat gäbe es zahlreiche Möglichkeiten, den öffentlichen Verkehr zu priorisieren und sowohl die Lobau-Autobahn als auch die Stadtstraße, die realiter eine vierspurige Autobahn ist, auf der täglich 70.000 Autos in jede Richtung verkehren werden, nicht zu realisieren, zumal Österreich ohnehin schon das EU-Land mit den drittmeisten Autobahnen ist, aber das wollen weder die Gemeinde Wien noch das Land Niederösterreich noch die ASFINAG (Autobahnen- und Schnellstraßen-Finanzierungs-AG), die nur mehr ein teilverstaatlichter Betrieb ist und auf Gewinnmaximierung arbeitet. Verkehrsexperte Hermann Knoflacher meint dazu, dass die Schmiergelder für den Lobau-Autobahnbau schon lange geflossen sind (von der ASFINAG zu den verantwortlichen Politikern) und dass deshalb gebaut werden muss. Angesichts dieser Verhältnisse bleibt nur noch, dem Klimaschutz viel Glück zu wünschen!
Fernsehköche sind beliebt und keine neue Erfindung. Mit dem offiziellen Start eines regelmäßigen Fernsehprogramms wurde der erste TV-Koch gezeigt und den Frauen der Kochlöffel aus der Hand genommen.
Von BÄRBEL DANNEBERG.
Nach ihrer Hochzeit brachte »Rose sich hektisch das Kochen bei, wobei sie sich ausschließlich auf das voluminöse Handbuch der amerikanischen Küche verließ, das sie von ihrer Mutter zum Geburtstag bekommen hatte, das ›Settlement Cook Book‹ mit dem Untertitel ›Der Weg zum Herzen deines Gatten‹«. In seinem Roman »4 3 2 1« beschreibt Paul Auster eine Welt, die damals in den amerikanischen Fünfzigerjahren noch in Ordnung war: Frauen ließen sich heiraten und erlernten rasch das handwerkliche Küchenkönnen, das den Gatten glücklich macht. Ging die Ehe daneben, hatte sie wahrscheinlich ihre Pflichten nicht nur auf diesem Gebiet vernachlässigt. Denn eines war klar: Kochen ist Frauensache.
Good Food mit Sahne
Zuerst mit dem Radio und später mit dem Fernsehen kam der von Männern erteilte Nachhilfeunterricht. Was eine Frau eigentlich »von Natur aus« können sollte und was sie durch (Groß-)Mutter oder Hauswirtschaftskunde dennoch nicht erlernt hatte, wurde ihr mit den neuen Medien von den Herren der elektronischen Schöpfung beigebracht. Die erste Kochsendung im Fernsehen wurde bereits kurz nach Aufnahme des teilweise noch experimentellen Programmbetriebs in Großbritannien bei der BBC am 21. Januar 1937 ausgestrahlt. Clemens Wilmenrod (1906–1967), ein deutscher Schauspieler, war ab 1953 der erste deutsche Fernsehkoch und gilt als Erfinder des Hawaii-Toasts. Heute brutzelt, zischt und blubbert es auf allen Kanälen. Doch die Art der Sendung hat sich über die Jahre verändert. Erst trat der Service zugunsten der Unterhaltung zurück, dann wurde aus der netten Plauderei ein Wettrennen. Auch zwischen den Geschlechtern. Frauen wie Barbara van Melle holten sich mit Slow Food-Sendungen ihr Terrain wieder zurück, setzten auf gesundes Essen, und die Fernseh-Köchin Sahra Wiener, die es von ausrangierten Suppenküchenwagen aus der Ex-DDR zu schicken Lokalen in Berlin gebracht hat, rührte später für die österreichischen Grünen die politische Suppe um.
Ich bin zufällig in eine dieser Kochsendungen geraten, die inflationär die Flachbildschirme erobern. Ich hab’ mir das ja nie angeschaut, denn kochen kann ich selber, aber das war eine Überraschung spät nach Mitternacht: eine schicke Küche aus Chromstahl, die alle Stückerln höchster technologischer Ausstattung spielt, tolle Töpfe, Schab-, Klopf-, Schmatz-, Lach-, Grunz- und Rührgeräusche zu den knapp gehaltenen Inserts »Pfeffer«, »Mehl«, »Zucker«, »Germ (Hefe)« – wohl für die größte Ausländergruppe hierzulande, die Deutschen, gedacht – und, frau staune: »Wachteleier« – die feine Delikatesse des Adels gibt es ja heute in fast jedem Supermarkt.
Die größere Überraschung aber war der coole Cook himself: Sehr lässig griff er mit seinen schmuddeligen Patschhändchen lustvoll in den Germteig, die langen Dreadlocks fielen über den Schüsselrand, und als Erscheinung glich er eher einem Klugschauenden auf einem Alternativkongress für erneuerbare Energie als einem Hausmännchen, das zum Haushalten verdonnert wurde. Am meisten aber war ich überrascht, wie viel körperliche Energie der Kochkünstler für seine vorgeführte Vor-, Haupt- und Nachspeise verschwendet hat. Typisch Mann, hab’ ich gedacht, die aufwändigen Hand- und Kunstgriffe standen für mich jedenfalls in keinem Verhältnis zum smarten Resultat.
Cooles Cooking
Was bei Jamie Oliver und anderen Fernsehköchen so entspannt wirkt: Sie greifen mit ihren derben Männerhänden locker, fast könnte man sagen: respektlos hinein in die Lebensmittelflut. Ein Resultat unseres satten Wohlstands. Geht was daneben – nicht so schlimm. Hygiene? – nur nicht verkrampfen. Das deutsche Bundesinstitut für Risikobewertung (BfR) hat untersucht, welchen Einfluss das im Fernsehen gezeigte Küchenhygieneverhalten auf Hobbyköche hat, die das Gericht selbst zubereiten. Das Ergebnis: Personen, die das Kochvideo mit einer vorbildlichen Küchenhygiene gesehen hatten, ergriffen beim Nachkochen häufiger die empfohlenen Hygienemaßnahme. In Deutschland werden jedes Jahr mehr als 100.000 Erkrankungen gemeldet, die wahrscheinlich auf lebensmittelbedingte Infektionen mit Mikroorganismen wie Bakterien, Viren oder Parasiten zurückzuführen sind.1
Vielleicht hat die männliche Spezies kein so intimes Verhältnis zum Händewaschen. Was aber treibt sie verstärkt an den Küchenherd oder lässt sie zur Häkel- und Stricknadel greifen? Ist das neue heimische Lustversprechen im eiskalten Entfremdungsprozess der Arbeitswelt ein Resultat feministischer Erziehung? Ein neues Biedermeier? Oder gar eine Geschlechterumkehr – Frauen in die Chefetagen und Männer in die Kantinen? Wie das Leben selbst, ist der Gesinnungswandel dieser sympathischen jungen Männer wohl auch banalerer Art. Bei den Gourmets lässt sich noch was holen: mediale Aufmerksamkeit, existenzielles Nischendasein im Gastgewerbe, eingekochte Zukunft im Alternativlook sozusagen. Bleibt zu hoffen, dass sich dies auch positiv auf die niedrige Lohnstruktur im traditionell weiblichen Betätigungsfeld auswirkt.
Geht es nach Ökonom*innen oder Agrarpolitiker*innen, kann jeder und jede von uns die Welt zu einem besseren Ort machen, wenn man im Supermarktregal zu den richtigen Produkten greift. Ist das wirklich so und was wäre notwendig, dass es so ist, fragt
Von JULIANNA FEHLINGER.
Bio sollen die Lebensmittel sein und aus regionaler Herkunft, oder sie sollten ein Fair Trade Siegel tragen. Jene, die es sich leisten können, werden damit zu Retter*innen des Planeten, und die anderen – eben nicht. Wie kritischer Konsum dennoch wichtige Schritte setzen kann, um unsere Welt zu verändern, soll im Folgenden anhand von einigen Beispielen diskutiert werden.
Wieso soll ich jetzt alleine für die Rettung der Welt Verantwortung übernehmen, dafür mehr bezahlen und am Ende nicht einmal sicher sein, ob das Geld bei den Bauern und Bäuerinnen ankommt? Mit diesen Fragen müssen sich Konsument*innen konfrontieren, wenn sie es satthaben, dass sich politisch nichts bewegt und sie dennoch ihren Beitrag durch bewussten Einkauf leisten wollen.
Probleme sind nur gemeinsam zu lösen
Auch Bauern und Bäuerinnen stecken in einer widersprüchlichen Situation. Trotz des Trends zu mehr Bio und regionalem Konsum sperren alleine in Österreich immer noch sieben Betriebe pro Tag zu. Auch für einen Bio-Betrieb bleibt am Ende des Jahres oft zu wenig über, um ein entsprechendes Einkommen für die geleistete Arbeit zu erhalten. Die kleinen Betriebe sind vom Druck des Wachsens oder Weichens besonders betroffen. Hinzu kommt das mulmige Gefühl, dass bald die nächste Auflage kommt, die man am Betrieb nicht mehr erfüllen kann. Oder man wird aus anderen Gründen ausgetauscht, weil beispielsweise einfach zu viel Milch am Markt ist, oder die Supermarktketten ihr eigenes Gemüse herstellen lassen. Gestaltungsspielraum für Produkte und Preise zu erlangen, ist in der Landwirtschaft kaum möglich.
Dass wir diese Probleme nicht individuell beheben können, erscheint völlig klar und einleuchtend. Dennoch wird die individuelle Entscheidung, anders einzukaufen, immer noch als zentrale Lösungsstrategie für beinahe jedes Problem in der Landwirtschaft verkauft – vom Klimaschutz bis zum Bauernsterben: die Konsument*innen sollen entscheiden. Aktuell soll nun auch in der Gastronomie eine Herkunftskennzeichnung eingeführt werden – eine sinnvolle Initiative, die jedoch nichts daran ändert, dass die Verantwortung für die Rettung der Welt auf das Geldbörsel jedes Einzelnen abgeschoben wird.
Zusammenarbeit zwischen Berg und Stadt
Bereits mit dem Beginn der Bio-Bewegung haben Produzent*innen erkannt, dass die Kooperation mit Konsument*innen der Schlüssel zum Erfolg ist, wie auch die Zusammenarbeit mit Berufskolleg*innen. Ein leuchtendes Beispiel dafür ist die Bersta, die bis heute wichtige Händlerin von bäuerlichen Produkten aus dem Waldviertel. Bergbauern und -bäuerinnen und Handwerker*innen aus dem Waldviertel reichten kritischen Konsument*innen aus Wien die Hand und gründeten bereits 1979, mit Unterstützung der ÖBV, ein Netzwerk zwischen Berg und Stadt (Bersta). Durch die Ausschaltung des Zwischenhandels sollten den Erzeuger*innen ein gerechtes Einkommen und den Konsument*innen qualitativ hochwertige Produkte zu erschwinglichen Preisen zugänglich gemacht werden. Es gelang nur teilweise, die hochgesteckten Ziele zu verwirklichen. Mit der Durchsetzung von Bioprodukten in den Supermarktketten und die einfache Verfügbarkeit für die Konsument*innen gerieten Kooperationen wie die Bersta ins Hintertreffen.
Konsum abseits der Supermarktketten: Food Coops und Solidarische Landwirtschaft
Ein neuer Schwung der Selbstorganisation von kritischen Konsument*innen gelang in den letzten zehn Jahren durch Einkaufsgemeinschaften (Food Coops). Über Online-Bestellsysteme kann direkt bei Produzent* innen bestellt werden, die Produkte werden anschließend in ein gemeinsames Lager der Food Coop geliefert und von den Mitgliedern selbst abgeholt. Dadurch haben die Produzent*innen eine garantierte Abnahme und eine gebündelte Bestellung. Food Coops verlangen ein hohes Engagement der Einkäufer*innen und fördern auch eine aktive Auseinandersetzung mit der Situation der landwirtschaftlichen Betriebe. Ein noch engeres System des Austauschs zwischen den Höfen und ihren Abnehmer* innen konnte die Projekte solidarischer Landwirtschaft in den letzten Jahren etablieren. Hier werden die Konsument*innen in die Planung am Hof mit eingebunden und beteiligen sich am finanziellen Risiko des jeweiligen Betriebs.
Partizipation und Kooperation im Supermarkt
Die Welt des Einkaufens durch kooperative und partizipative Supermärkte zu verändern, ist in Österreich noch weitgehen unbekannt, bringt jedoch neue soziale und ökonomische Lösungsansätze mit sich. Das Modell hat sich in den USA entwickelt, in den letzten Jahren haben auch in einigen Städten in Europa solche Supermärkte eröffnet. So beispielsweise die Kooperative »La Louve« aus Paris. Gutes Essen für alle zu Verfügung zu stellen, ist auch das Ziel für diese Art der kooperativen und partizipativen Projekte – sie zeigen, wie »alle« ernst gemeint werden könnte. Ihre Struktur ist darauf ausgelegt, kein Club von »guten Einkäufer*innen« zu sein, sondern möglichst vielen Menschen eines Stadtviertels zu ermöglichen, mehr regionale, gesunde und biologische Produkte einzukaufen. Für sie ist wichtig, dass jeder und jede willkommen ist und der Einkaufskorb von allen ein Stück in Richtung Nachhaltigkeit verschoben werden kann. Ihr Modell ist eine Antwort auf die Beobachtung, dass vorwiegend gut situierte Konsument*innen in Läden einkaufen, die nur biologische und regionale Produkte anbieten und damit auch höhere Preise haben. Ihr Modell baut aber auch auf der Erfahrung vieler Food Coops auf, dass von den Mitgliedern ein hohes Engagement und viel Zeit vorausgesetzt werden und Food Coops damit nur für eine ausgewählte Gruppe zugänglich sind.
Wie genau funktioniert ein kooperativer und partizipativer Supermarkt?
»La Louve«, der partizipative und kooperative Supermarkt aus Paris, bietet seinen Mitgliedern ein breites Sortiment an, ähnlich wie in einem herkömmlichen Supermarkt. Alle Waren des täglichen Bedarfs sind ohne Vorbestellung erhältlich und können aus den Regalen genommen werden. Voraussetzung für den Einkauf ist nur eine Mitgliedschaft, die sich nach der Höhe des Einkommens richtet und sich zwischen zehn bis 200 Euro bewegt. Jedes Mitglied muss jedoch drei Stunden im Monat im Laden mitarbeiten und kann sich auch nicht durch einen höheren Beitrag davon »freikaufen«. Die Arbeitseinsätze sind in fixen Teams organisiert, wodurch jedes Mitglied seine Fähigkeiten optimal einbringen und sich gleichzeitig mit anderen Mitgliedern austauschen kann. Bei »La Louve« organisieren nur acht hauptangestellte Mitarbeiter*innen einen Supermarkt für über 5.000 Mitglieder. Die große Schwester von »La Louve«, »Park Slope« aus New York, ist bereits auf 17.000 Mitglieder angewachsen.
Die angebotenen Produkte reichen von konventionell bis biologisch, von Übersee bis regional und werden nach den Kriterien Bio, Regionalität, Gesundheit, Fair Trade, Geschmack aber eben auch dem Preis ausgewählt. Durch die niedrigen Ausgaben für Löhne gelingt es, dass zum Beispiel biologisches Gemüse günstiger angeboten werden kann als konventionelle Ware im Supermarkt nebenan. Damit steigt die Motivation für jene, die aufs Geld schauen müssen, ihre Konsummuster zu verändern, ohne den moralischen Zeigefinger zu heben. Für »La Louve« steht die Zusammenarbeit und Teilhabe an erster Stelle. Als Standort haben sie daher ein Stadtviertel gewählt, in dem bürgerliche wie proletarische Menschen leben. Das Modell ist keine Lösung für alle Probleme in der Landwirtschaft, ist jedoch ein wichtiger Puzzlestein in der Landkarte der Versuchslabors für ein Wirtschaften der Zukunft.
Solidarisch Ökonomie – Versuchslabor der Zukunft oder Werkzeug für soziale Transformation?
Gerade die Diskussion um die Vorherrschaft von Bio-Eigenmarken der drei großen Supermarktketten (Ja!-Natürlich, Zurück zum Ursprung und Natur Pur), durch die Höfe austauschbar werden und die Abhängigkeit der bäuerlichen Betriebe und der Vermarktungsschienen in einem der drei Großen gelistet zu werden, zeigt uns überdeutlich, dass dringender Handlungsbedarf besteht!
Vor diesem Hintergrund ist es besonders fruchtbar, die Erfahrungen aus Erzeuger* innen-Verbraucher*innen-Initiativen und Food Coops neu zu lesen. Sie sind Versuchslabore für eine solidarische Zukunft, die heute schon ermöglichen, neue Formen der wirtschaftlichen Zusammenarbeit auszuprobieren. Auch kooperative Supermärkte oder Dorfgenossenschaften sind ein Versuch, neue Lösungsstrategien für reale politische Probleme zu entwickeln Gleichzeitig besteht ihr besonderer Wert in der Arbeit, die in sozialen Bewegungen eingebracht wird. Für viele Konsument*innen sind Food Coops oder eine Dorfgenossenschaft ein Ort, an dem sie beginnen, sich mit den Strukturen der Landwirtschaft zu befassen und Gleichgesinnte treffen, mit denen sie sich austauschen können und gemeinsam in der Bewegung für Ernährungssouveränität aktiv werden.
Was Solidarische Ökonomien sind, wurde in Brasilien, das eine lange Geschichte mit diesen ökonomischen Konzepten hat, anhand folgender Merkmale beschrieben: sie leisten einen Beitrag zum Lebensunterhalt, strukturieren sich durch Selbstverwaltung und Kooperation sowie durch solidarische Beziehungen zur Gesellschaft. Durch die Selbstverwaltung werden die Produktionsmittel im kollektiven Eigentum verwaltet, Kooperation verweist auf egalitäre Strukturen der Entscheidungsfindung, und solidarische Beziehungen zur Gesellschaft können sich durch Mitwirken in übergeordneten Verbänden oder Bewegungen auszeichnen. Wollen die bestehenden Projekte ein Hebel sein, um die Welt zu verändern, werden sie sich auch an gesellschaftlichen Auseinandersetzungen beteiligen müssen.
Vom 1. bis 3. November findet in der Tabakfabrik Linz die Tagung »Gutes Essen für alle – aber wie?« statt. Schwerpunkt der Tagung liegt auf regionalen Lebensmittelnetzwerken, wie sie in diesem Artikel beschrieben wurden. Eingeladen sind Vertreter*innen von »La Louve«, »Ums Egg«, »IG Food Coops«. Alle Infos unter: http://www.ernährungssouveränität.at/Veranstaltung/programm-linz/
Lagerräume von Foodcoops, oftmals in kleinen Gassen- oder Souterrain-Lokalen, sind eigene kleine Universen. Hier gelten andere Spielregeln als draußen auf der Gasse, die Welt ist ein Stück weit in Ordnung.
Von FIONA STEINERT.
Am Tag, an dem die Frischware zu den Foodcoops geliefert wird, stehen Fahrräder vor der Tür, Menschen mit Rucksäcken und Einkaufstrollies suchen sich aus Gemüsekisten ihre Bestellungen zusammen. Statt Einkaufswagen, Supermarktkasse und Bonuspunktecards gibt es Waagen, mitgebrachte Behälter und Taschenrechner. Die Produktpallette reicht von Frischgemüse und -obst über verschiedenste Getreidesorten, Milchprodukte, Tee und zapatistischen Kaffee bis zu Bier und Säften. Manche Foodcoops haben Fleisch im Repertoire, andere nicht, einige sind vegan ausgerichtet. Zwei Mitglieder der Foodcoop haben die gelieferte Ware in Regale und Kühlschränke eingeräumt, am Ende der Abholfrist wird ein weiteres Mitglied zusammenräumen und die Retourgläser für die Lieferant_innen herrichten. Andere kümmern sich um die Bestellung einzelner Produkte, um die Website zur internen Kommunikation oder die Aufnahme neuer Mitglieder. Einmal pro Monat wird beim Plenum über neue Produkte, interne Abläufe oder notwendige Anschaffungen abgestimmt.
Kostenwahrheit und Transparenz
Klingt nach viel Aufwand für die Organisation des alltäglichen Einkaufs. Aber so viel Aufwand bedeutet es wohl tatsächlich, wenn Kriterien wie Regionalität, biologischer Anbau und faire Arbeitsbedingungen umgesetzt sein wollen. Das Wissen um die Herkunft der Dinge, die wir konsumieren, und der Bezug zu ihren Produzent_innen haben ihren (nicht ausschließlich monetären) Preis.1 In gewisser Weise geht es bei Foodcoops um Kostenwahrheit – Transparenz über den Aufwand in der Produktion ebenso wie gesellschaftliche Wertschätzung der zeitlichen Ressourcen, die Kommunikation und Selbstorganisation in Anspruch nehmen. Was kosten Lebensmittel eigentlich, welcher Wert wird manueller Arbeit beigemessen und wofür sind Menschen bereit, Geld auszugeben? Es ist evident, dass dieses »kostenwahre« Konsumieren einen (u.a. zeitlichen) Luxus darstellt, den sich momentan nur wenige leisten können. So überrascht es auch nicht, dass viele (städtische) Foodcoops in ihren Anfängen von Studierenden geprägt waren und insgesamt eine tendenziell weiße, akademische Mittelschichtserscheinung sind. Was beim selbstbestimmten Essen anfängt, wird also schnell zu einer Frage von Verteilungsgerechtigkeit im weiteren Sinn. Die Frage, wie (ökonomischer) Ausschluss der ärmeren Bevölkerung vermieden werden kann und die Debatte über Arbeitszeitverkürzung oder ein bedingungsloses Grundeinkommen, um gesellschaftliche Teilhabe und die Möglichkeit zur Selbstorganisation sicherzustellen, drehen sich konsequent gedacht um Rahmenbedingungen, die notwendig sind, um Selbstbestimmung beim Konsumieren realisierbar zu machen.
Solidarische Zusammenarbeit
Die Idee der Lebensmittelkooperative ist nicht neu. Den Einkauf von Lebensmitteln gemeinsam zu organisieren, geht auf die Konsumgenossenschaften des 19. Jahrhunderts zurück, in denen sich als Maßnahme zur Selbsthilfe und -organisation in ganz Europa Arbeiter_innen »zur Beschaffung wohlfeiler Lebensmittel«2 zusammenschlossen. Bestimmend war der Gedanke, Übervorteilungen im Zwischenhandel durch Direktbezug zu umgehen und durch die gemeinsame Abnahme größerer Mengen zu billigeren Preisen zu kommen.3 Die wechselhafte Geschichte der österreichischen Konsumgenossenschaften endete 1995 bekanntlich in der Insolvenz des »Konsum«. Der Versuch, durch Zusammenlegung und zunehmende Kommerzialisierung mit der Konkurrenz am Einzelhandelsmarkt mitzuhalten, scheiterte.
Als sich im Zuge des Aufkommens des Degrowth-Diskurses Anfang der 2000er Jahre im deutschsprachigen Raum Foodcoops zusehends (wieder) verbreiteten, waren als wesentliche Komponenten der ökologische Grundsatz und die solidarische Zusammenarbeit mit kleinbäuerlichen Lebensmittelproduzent_innen dazu gekommen. Die Städte mit Lebensmitteln aus dem unmittelbaren Umfeld versorgen und mehr Autonomie gegenüber der globalisierten Produktion erreichen zu können, ist eine der Motivationen der Foodcoop-Bewegung. Angesichts von aussterbenden Ortskernen und Supermarkthallen an den Ortsrändern stellt sich die Frage der regionalen Versorgung aber genauso im ländlichen Raum. Das Konzept der Ernährungssouveränität im Sinne des unmittelbaren Bezugs zu den Quellen und von »Fairtrade« durch angemessene Preise für die Arbeit der Produzent_innen finden damit eine Umsetzung im Lokalen.4
In Österreich ist die Foodcoop-Bewegung bislang vergleichsweise überschaubar. Nachdem 2007 mit dem »Bioparadeis« im Wiener 18. Bezirk die erste Foodcoop gegründet worden war, zeigt die Karte auf der Website der IG Foodcoops heute einen Stand von 74 Initiativen in ganz Österreich, knapp die Hälfte befinden sich in den Landeshauptstädten (25 davon in Wien), und die andere Hälfte im ländlichen bzw. kleinstädtischen Raum5. Bei einer durchschnittlichen Mitgliederzahl von rund 50 Personen lässt sich also auf 3.500 bis 4.000 Menschen schließen, die sich auf diese Weise zumindest einen Teil ihres Lebensmitteleinkaufs organisieren. Darüber hinaus existieren andere Formen der Selbstorganisation wie Solidarische Landwirtschaft (auch Community Supported Agriculture/CSA genannt), bei der Konsument_innen Ernteanteile eines Hofes kaufen sowie genossenschaftliche Dorfgeschäfte.6
Kooperation mit anderen
Vernetzung spielt eine wichtige Rolle zur Verbreitung des Konzepts. Seit 2017 hat sich der Großteil der österreichischen Foodcoops zu einer Dachorganisation, der Interessensgemeinschaft (IG) FoodCoops, zusammengefunden. Kooperation mit anderen einschlägigen Organisationen wie etwa mit ÖBV-Via Campesina, AgrarAttac, dem Forum für Ernährungssouveränität oder den derzeit in Entstehung befindlichen Ernährungsräten in verschiedenen österreichischen Städten sind essentiell, wenn der Anspruch, über den eigenen Konsum zur Veränderung des industrialisierten, konzerndominierten Ernährungssystems beizutragen, nicht im Lagerraum enden soll. Also müssen die Allianzen ihren Horizont auf darüber hinaus gehende emanzipatorische Bewegungen erweitern. Was Ulrich Brand für die Degrowth-Bewegung postuliert, lässt sich auch auf das Segment der Foodcoops anwenden: Es wird notwendig sein, jene Deutung zu stärken, »die unauflöslich mit Fragen der Gerechtigkeit und mit zu verändernden Herrschaftsverhältnissen verbunden ist. Andernfalls wird der Begriff […] zur radikalen, aber politisch folgenlosen Geste«7.
Damit die Verantwortung letztlich nicht bei den individuellen Konsument_ innen bleibt, heißt es also: Nach dem Einkaufen raus aus der heilen Welt des Foodcoop-Lagerraums und die Spielregeln auf der Gasse neu schreiben.
1 Anzumerken ist an dieser Stelle, dass Produkte in Foodcoops nicht zwangsweise teurer sind als das vergleichbare Bioangebot im Supermarkt – im Gegenteil: Durch das Wegfallen von Gewinnspannen im Zwischenhandel und die Abnahme größerer Mengen als Gruppe bieten viele Produzent_innen Foodcoops Rabatte an.
2 Als erster österreichischer Konsumverein wurde 1856 der »Wechselseitige Unterstützungsverein der Teesdorfer Spinnfabriksarbeiter zur Beschaffung wohlfeiler Lebensmittel« in Niederösterreich gegründet. http://www.dasrotewien.at/seite/konsumgenossenschaften
3 Mehr zum Vergleich von Foodcoops und Konsumgenossenschaften in Lena Drazic, Ulrike Jaklin, Christof Lammer: Food Coops. Das nächste Kapitel der Konsumgenossenschaftsbewegung in Österreich? In: PolitiX 32, 2012, S. 32-35
4 vgl. auch IG FoodCoops: Erfolgsgeschichte FoodCoops? In: ÖBV-Via Campesina & AgrarAttac: Die Zeit ist reif für Ernährungssouveränität! 3. Auflage, April 2018, S. 28-29
7 Ulrich Brand: Degrowth: Der Beginn einer Bewegung? In: Blätter für deutsche und internationale Politik 10/2014, S. 32. https://www.degrowth.info/wp-content/uploads/ 2014/08/bran1014.pdf
Fiona Steinert hat in den Bereichen Community Medien und Menschenrechtsforschung gearbeitet. Sie ist Mitglied in einer Wiener Foodcoop und beschäftigt sich dzt. im Rahmen des Wiener Ernährungsrats mit StadtLandwirtschaft und Raumplanung.
Franziskus Forster über das EU-Mercosur-Abkommen
La Via Campesina ist transnational vernetzt. 1993 gegründet, war schon damals ein zentraler, einigender Fokus die Opposition zur vorherrschenden neoliberalen Handelspolitik. Im Grunde ist es bemerkenswert, dass Kleinbäuer*innen, Landlose, Fischer*innen und indigene Bewegungen viel eher in der Lage waren, sich transnational zu vernetzen, als viele andere Akteur*innen. Die Politik der Allianzen, des Widerstands und der Stärkung von Alternativen, die um »Ernährungssouveränität« seither entwickelt wurden, ist beachtlich.
Alles eins?
La Via Campesina zog von Anfang an eine scharfe Differenzierung ein: »Die Landwirtschaft« oder »die Bauern« sind kein homogener Block, sondern es gibt gegensätzliche Interessen, die sich etwa in handelspolitischen Positionen besonders deutlich zeigen. Das Exportinteresse liegt bei wenigen und geht auf Kosten vieler. – Die negativen Auswirkungen der neoliberalen Handelspolitik treffen Bauern und Bäuerinnen besonders deutlich, betroffen sind viele Konfliktlinien: das Interesse an der Patentierung von Saatgut versus Saatgut als Gemeingut; Land Grabbing und Landkonzentration versus Land- und Agrarreform von unten; billige Rohstoffpreise für die Industrie und hochkonzentrierte Marktmacht versus kollektive Organisierung und Lebensmittelnetzwerke, die für alle da sind. – Das sind Konfliktfelder von Kleinbauern und -bäuerinnen weltweit.
Klassenverhältnisse konnten dadurch politisiert werden, ebenso wie darin verwobene Geschlechterverhältnisse. Weltweit wurde mit La Via Campesina ein Raum erobert, der eine gemeinsame Arena eröffnete: nach »innen« als Plattform zur Austragung von Differenzen zwischen den Bewegungen, zur Bearbeitung von Widersprüchen und zur Entwicklung von Positionen. Diese Positionen finden u. a. in den Deklarationen von La Via Campesina ihren Ausdruck und markieren gemeinsame Referenzen. Und nach »außen« konnte ein kollektiver Akteur geschaffen werden, der sich in den vergangenen 25 Jahren zur vielleicht größten sozialen Bewegung der Welt entwickelte.
Handelsrecht versus Globale Soziale Rechte
Warum aber war die Handelspolitik immer so zentral? Weil die Bedeutung dessen, was Handel ist, immer weiter wächst. In der Landwirtschaft ist sie ein Hebel, um Marktimperative durchzusetzen und Machtpositionen und Konfliktterrains zu verschieben. Weit über die bloßen Tauschmodalitäten hinaus ist die Handelspolitik ein Modus, in dem imperiale Produktionsund Lebensweisen möglichst »reibungslos« vermittelt werden (sollen). Über die Handelspolitik werden transnationale Kapitalinteressen begünstigt und Produktion und Konsum können dadurch maßgeblich beeinflusst werden (das Beispiel Cargill ist besonders anschaulich): Inwertsetzung von Ressourcen, Expansion von (Agrar-)Kapitalinteressen, Investor*innen, Biotechnologie, Großgrundbesitz, Plantagen und outgesourcte SchlachthofArbeitsregime (moderne Sklaverei inklusive) sowie Handels- und Investor*innenrecht versus Globale Soziale Rechte. Handelspolitik schafft neue »Möglichkeitsräume« für Kapitalinteressen, indem politische und ökonomische Regulierungen neu aufeinander ausgerichtet werden, während zugleich sozial-ökologische Fragen außen vor bleiben. Damit sind zugleich Räume für Alternativen bedroht.
All das ist hochgradig umkämpft, all das ist beeinflusst durch die Handelspolitik – und geht zulasten von (klein-)bäuerlichen Strukturen. Es geht um ein »Recht auf Alternativen«, denn diese Entwicklungen sind keine Naturgewalten und auch nicht einfach »Kosten des Fortschritts«. Mit der Richtungsforderung nach Ernährungssouveränität werden Handlungsspielräume, Praktiken, Lebensweisen, Wissensbestände und gesellschaftliche Güter verteidigt und erkämpft, die gerade jetzt in Zeiten der ökologischen Krise massiv an Bedeutung gewinnen – Ansätze, die über die kapitalistische Produktionsweise hinausweisen (können).
EU-Mercosur als Klimakiller
Im Sommer 2019 wurde besonders deutlich, dass Handelsabkommen eine massive sozial-ökologische Schlagseite haben. Die Bilder von der brennenden »grünen Lunge der Erde«, die Abholzung des Amazonas und auch die Morde an Umwelt-, indigenen, landlosen und bäuerlichen Aktivist*innen sind hier besonders drastische Formen. Das EU-Mercosur-Abkommen hat es derzeit zu Recht als Klimakiller-Abkommen in die Medien geschafft. In der Debatte um das Abkommen geht derzeit aber unter, dass der Status Quo seit langem äußerst problematisch ist.[1] Wachsen de sozial-ökologische Ungleichheiten sind seit langem eng mit den Exporten nach Europa verknüpft: Stichwort Soja, Fleischindustrie und Pestizide (und vieles mehr).
Mit dem EU-Mercosur-Abkommen geht es nun um die Vertiefung und Ausweitung dieses Modells. Das Abkommen wird dazu beitragen, den Status Quo und dessen Geschäftsmodelle abzusichern und deren Fortgang auf neue Füße zu stellen. Zugleich macht das Abkommen dort neue Türen auf, wo bisher »zu wenig« passiert ist: von der Biotechnologie zur Privatisierung öffentlicher Dienstleistungen, von Expansionsstrategien der Autoindustrie, der digitalen Ökonomie bis hin zur Auftragsvergabe von Infrastrukturprojekten und zur weiteren Finanzialisierung sowie neuen Wegen der Steuerflucht. Vor allem würden aber die Agrarindustrien zu den großen Gewinnern dieses Abkommens gehören.
Handel versus Umwelt als Basis für eine Gegenoffensive?
Dass dieses Abkommen in einer Zeit zum Durchbruch kommt, in der Rechtsextreme und Neoliberale die Regierungen stellen, ist bezeichnend. Dass dieses Abkommen beansprucht, neben den Handelsbeziehungen auch Menschenrechte und Umweltschutz gar zu stärken, ist eine Farce. Das EU-Mercosur-Abkommen steht derzeit so deutlich wie bisher wohl kein Abkommen für den klaren Widerspruch zwischen Handels- und Umweltpolitik. Diesen Widerspruch zu nutzen, ist aktuell eine Chance für soziale Bewegungen. In Lateinamerika wie in Europa bauen sie derzeit Allianzen auf, um dies zu politisieren. Darin könnten Ansätze einer Gegenoffensive von unten liegen, um so die Kräfteverhältnisse zu verschieben und die Grundlagen für tatsächliche Alternativen zu verbessern.
[1] https://www.viacampesina.at/wp.content/uploads/2019/06/Dossier-EU-Mercosur-final.pdf
Franziskus Forster ist Politischer Referent bei der Österreichischen Berg- und Kleinbäuer*innen Vereinigung, ÖBV-Via Campesina Austria.
Angelina Reif über FIAN
Der Hunger weltweit ist seit 2015 zum ersten Mal wieder drastisch gestiegen. Die Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen (FAO) berichtet, dass die Zahl unterernährter Menschen wieder den Stand von vor zehn Jahren erreichte. Ein dramatischer Rückschritt. Fast eine Milliarde Menschen leidet tagtäglich an chronischem Hunger, obwohl weltweit genügend Nahrung vorhanden ist.
Menschen, die Hunger leiden, haben nicht einfach zu wenig Nahrung. Sie haben keine Kontrolle über grundlegende Ressourcen wie Land, Wasser oder Einkommen. Sie sind politisch machtlos und haben keinen Zugang zum Recht. Meist geht der Hunger mit einer Verletzung des Rechts auf Nahrung einher – eines der Menschenrechte, die am häufigsten verletzt werden.
Das FoodFirst Information and Action Network – FIAN International, gegründet 1986, war die erste Menschenrechtsorganisation, die Verletzungen des Rechtes auf Nahrung systematisch dokumentierte und damit eine Vorreiterrolle unter jenen NGOs übernommen hat, die sich mit wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Menschenrechten beschäftigen.
Die von FIAN aufgegriffenen Verletzungen und betreuten Fälle sind mannigfaltig. Menschen werden von ihrem Ackerland vertrieben, weil internationale Investor*innen darauf Exportprodukte industriell produzieren wollen, der Zugang zu einer sicheren Wasserquelle wird verwehrt, weil riesige Stauprojekt ganze Regionen austrocknen, es gibt weltweit Versäumnisse von Regierungen, Programme zur sozialen Sicherung umzusetzen oder Gesetze zur Verhinderung von Landraub in Kraft zu setzen. Viele dieser Menschenrechtsverletzungen sind Auswirkungen von strukturell bedingtem Unrecht, das durch ungerechte Land-, Handels- oder Investitionspolitik ermöglicht und aufrechterhalten wird.
Die Fallarbeit von FIAN zeigt auch, dass diejenigen, die besonders von Hunger und Unterernährung betroffen sind, meist auch die sozial Schwächsten sind. Aufgrund von ethnischer Zugehörigkeit, Gesundheitszustand, Geschlecht oder Alter stehen sie am Rand der Gesellschaft und sind einem hohen Risiko ausgesetzt, Opfer von Menschenrechtverletzungen zu werden.
Eigentlich können die Verantwortlichen für diese Menschenrechtsverletzungen –nationale Regierungen im globalen Norden und Süden, zwischenstaatliche Organisationen einschließlich der Weltbank sowie private Konzerne – klar identifiziert werden. Ob sie auch zur Rechenschaft gezogen werden können, hängt davon ab, ob geeignete (rechtliche) Rahmenbedingungen und ein förderliches (zivilgesellschaftliches) Umfeld vorliegen. Dafür kämpft FIAN.
Fallbeispiele
FIAN legt Wert darauf, die wahren Sachverhalte und Zusammenhänge zu recherchieren und bekanntzumachen, um auf Regierungen und Entscheidungsträger*innen Einfluss zu nehmen, bestenfalls um den Hunger bereits im Vorfeld zu vermeiden und begünstigende Bedingungen für bessere Lebensbedingungen zu schaffen. Denn das Ziel ist nicht nur eine Welt, die frei von Hunger ist, sondern eine Welt, in der jede Person Zugang zu natürlichen oder finanziellen Ressourcen hat, die ihr ein Leben in Würde ermöglichen.
Schließlich ist das Recht auf Nahrung erst dann verwirklicht, wenn alle Menschen frei von Hunger leben und sich ausreichend und in Würde selbst ernähren können. FIAN arbeitet seit seiner Gründung weltweit und vernetzt. Es gibt in vielen Staaten nationale Sektionen. FIAN Österreich wurde vor genau 30 Jahren gegründet.[1] In den Anfängen setzte man in Österreich auf Eilaktionen und Protestbriefe, wovon sich die politisch Verantwortlichen damals durchaus beeindrucken ließen. Es folgten Projekte, wie das »Flower Label Programm«, die Filmtage »Hunger.Macht.Profite«, die Restaurantaktion »Mir isst es Recht«, das »Armutszeugnis 2005«, der Aufbau der Nyéléni-Bewegung für Ernährungssouveränität, und die Unterstützung von Kampagnen gegen TTIP und andere Freihandelsabkommen.
FIAN ist federführend bei der Erstellung der Parallelberichte zu den periodischen Staatenberichten an den UN-Ausschuss für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (UN-Sozialausschuss) beteiligt. In jüngster Zeit wurde vermehrt Augenmerk auf die menschenrechtliche Situation in Europa gelegt, weswegen FIAN Österreich Mitglied der Armutskonferenz ist und unter anderem das Projekt SozialRechtsNetz mitinitiiert hat.
Zusammen mit anderen Nichtregierungsorganisationen und sozialen Bewegungen beobachtet und begleitet FIAN privatwirtschaftliche, nationale und internationale Entscheidungsprozesse, die Auswirkungen auf die Verwirklichung des Menschenrechts auf Nahrung haben. Aktuelle Themen sind unter anderem die ansteigende Produktion von Agrotreibstoffen, die Zunahme von Landraub und die Steuerung des Welternährungssystems.
Menschenrechtspaket
In seiner Arbeit stützt sich FIAN auf internationale Rechtsdokumente, die das Recht auf Nahrung enthalten und weiterentwickelt haben. Das allererste Mal wurde das Recht auf Nahrung in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948 verankert. Dabei handelt es sich aber – trotz der besonderen symbolischen Bedeutung für das weltweite Menschenrechtssystem – um eine Deklaration, die an sich nicht rechtsverbindlich ist.
Deswegen wollten einige Staaten innerhalb der UNO ein zweites, verbindliches Instrument schaffen – einen Menschenrechtspakt. Zur Umsetzung dieses Plans kam es allerdings erst zwei Jahrzehnte später, als bereits der Kalte Krieg herrschte und die Welt ideologisch gespalten war: Auf der einen Seite der »Westen«, der die zivilen und politischen Rechte – wie das Recht auf Meinungsfreiheit, das Recht auf Religionsfreiheit oder das Folterverbot – hoch hielt und auf der anderen Seite der »Osten« und der »Globale Süden«, die sich für wirtschaftliche und soziale Rechte einsetzten – hierzu gehören das Recht auf Wohnen, das Recht auf Arbeit und auch das Recht auf einen angemessenen Lebensstandard, das das Recht auf Nahrung umfasst.
Da sich die beiden Pole nicht auf ein gemeinsames verbindliches Dokument einigen konnten, hat man sich dazu entschlossen, zwei getrennte Pakte zu erstellen: einen »Zivilpakt« und einen »Sozialpakt«. In letzterem wurde das Recht auf Nahrung konkretisiert und weiterentwickelt.
Es wurde lediglich der Zivilpakt mit einem Individualbeschwerdeverfahren ausgestattet, der es Betroffenen ermöglicht, sich auf internationaler Ebene bei den Vereinten Nationen zu beschweren. Ein Beschwerdeverfahren für den Sozialpakt nach Vorbild des Zivilpaktes bekam damals keine Mehrheit. Nicht zuletzt aufgrund dieser Diskrepanz tendieren westliche Staaten dazu, wirtschaftliche und soziale Rechte nur als Absichtserklärungen zu verstehen, aus denen sich keine individuellen Rechtsansprüche ableiten lassen. So auch Österreich, das für seine ablehnende Haltung zur gerichtlichen Absicherung von sozialen Rechten mehrfach kritisiert wurde.
Der UN-Sozialausschuss drückt diesbezüglich in seinen Abschließenden Bemerkungen zum vierten Parallelbericht Österreichs sein Bedauern aus, »dass kein Fortschritt dabei erzielt wurde, die Bestimmungen des Paktes systematisch in der nationalen Rechtsordnung des Vertragsstaates zu verankern« (E/C.12/AUT/CO/4, 2013: para 5).
Nach seiner Gründung 1986 war FIAN stets maßgeblich an der Weiterentwicklung des Rechts auf Nahrung beteiligt und es wird daher weiterhin die Aufgabe von FIAN sein, durch politischen und medialen Druck auf Entscheidungsträger*innen die generelle Umsetzung und die individuelle Durchsetzbarkeit des Rechts auf Nahrung voranzutreiben. Soziale Gerechtigkeit kann es nämlich nur geben, wenn soziale Menschenrechte auch als Recht verstanden werden, und nicht als milde Gaben nach Gutdünken.
Die Geschichte von FIAN
1993 ➜ Auf der Weltmenschenrechtskonferenz 1993 in Wien wurde die Unteilbarkeit, die Unveräußerlichkeit und die Universalität der Menschenrechte bestätigt. Unteilbarkeit bedeutet, dass Menschenrechte stets nur in ihrer Gesamtheit verwirklicht werden können und somit jedes einzelne Recht den anderen gleichwertig gegenübersteht. Unveräußerlichkeit bedeutet, dass Menschenrechte absolut gelten und kein Mensch darauf für sich oder andere verzichten kann. Universalität bedeutet, dass Menschenrechte immer, überall und für alle Menschen gelten. FIAN setzte sich während der Konferenz für die Einklagbarkeit der wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte ein. Dass die Forderung danach in die Schlusserklärung der Wiener Weltmenschenrechtskonferenz kam, war ein großer Erfolg, auch wenn es bis zum Beschluss dieser Forderung erst fünfzehn Jahre später kommen sollte.
1996 ➜ Es geht auf eine Initiative von FIAN zurück, dass der Welternährungsgipfel 1996 das Recht auf Nahrung an den Anfang der Abschlusserklärung von Rom setzte und die Mitglieder der FAO zwischen 2002 und 2004 Leitlinien zur Umsetzung des Rechts auf Nahrung erarbeitet haben.
1999 ➜ Auf Basis der sorgfältigen Fallarbeit von FIAN wurde vom UN-Sozialausschuss zum Recht auf Nahrung ein eigener Rechtskommentar (General Comment) veröffentlicht, der seither die bestimmende juristische Interpretation des Rechts auf Nahrung ist. Das Recht auf Nahrung war damit das erste Recht, zu dem ein eigener General Comment erging. Der UN-Sozialausschuss hat darin dargelegt, dass die Ursachen des Hungers im mangelnden Zugang großer Teiler der Weltbevölkerung zur verfügbaren Nahrung liegen.
2004 ➜ 2008 ➜ FIAN spielte eine Schlüsselrolle bei der Erarbeitung und Verabschiedung der Freiwilligen Leitlinien zum Recht auf Nahrung von 2004, die das Recht auf Nahrung detailliert definieren, sowie bei der Annahme des Fakultativprotokolls zum Internationalen Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte 2008. Dieses Fakultativprotokoll sieht erstmals ein internationales Beschwerdeverfahren sowie ein Untersuchungsverfahren an Ort und Stelle vor. Es ermöglicht Einzelpersonen, sich nach Ausschöpfung des nationalen Instanzenzuges beim UN-Sozialausschuss über Verstöße gegen wirtschaftliche, soziale und kulturelle Menschenrechte zu beschweren. Dieses Instrument der internationalen Durchsetzbarkeit stellt einen Meilenstein im internationalen Menschenrechtsschutz dar und manifestiert die Gleichrangigkeit sozialer Menschenrechte. Der Wermutstropfen: Der Weg zum UN-Sozialausschuss steht nur Personen offen, deren Staaten das Fakultativprotokoll ratifiziert haben. Bis dato haben dies 22 Vertragsstaaten getan. Österreich gehört nicht dazu.
[1] Am 28. und 29. Nov. feiert FIAN Österreich 30 Jahre Einsatz für das Recht auf Nahrung. Details unter: https://fian.at/de/termine/30jahre/
Angelina Reif forscht an der University of Connecticut zu wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechten, arbeitet in einer Rechtsanwaltskooperation, ist Vorstandsvorsitzende bei FIAN und engagiert sich im SozialRechtsNetz der Armutskonferenz.