Vielen Menschen gilt Das Kapital von Karl Marx als nicht mehr zeitgemäß und überholt. Es gehöre auf den Müllhaufen der Geschichte. Dabei gibt es gute Gründe, nach wie vor die Marxsche Analyse des Kapitalismus als eine der besten wissenschaftlichen Arbeiten auf diesem Gebiet anzusehen. Die Arena, die Marx aufspannt, beschränkt sich nicht nur auf das enge Gebiet von Produktion, Verteilung und Konsum, sondern zeigt, dass im Lauf der Geschichte ganz unterschiedliche Wirtschaftssysteme aufgetaucht und wieder verschwunden sind. Während die meisten Universitäten der Welt den Kapitalismus so darstellen, als ob er ohne Anfang und Ende wäre, zeichnet Marx einen Kapitalismus, der nach einer Frühphase den fortschrittlichen Interessen des Bürgertums gegenüber der Welt des Feudalismus zum Durchbruch verholfen hat, seine eigenen vor allem selbst erzeugten Widersprüche nicht bewältigen kann und daher von anderen Produktionsverhältnissen abgelöst werden wird.
PETER FLEISSNER zeigt, wie gut die empirischen Daten zur Theorie von Marx passen.
Auf Grundlage der vielgeschmähten Werttheorie von Marx bleibt Wirtschaft konkret mit menschlicher Arbeit verbunden. Während die gängige Wirtschaftswissenschaft vom homo oeconomicus ausgeht, der seinen Profit oder seinen individuellen Nutzen maximiert, zeigte Marx auf, dass sich seit der gemeinwirtschaftlichen Urgesellschaft immer neue Klassen den Reichtum der Gesellschaft angeeignet haben, der von SklavInnen, Leibeigenen und später von Lohnarbeiter Innen erzeugt wurde und wird. Nicht einzelne Individuen maximieren ihren Profit oder ihren Nutzen, sondern Klassen, d. h. Gruppen von Menschen kämpfen um das Mehrprodukt. In diesem Sinn wird die Geschichte zu einem Schauplatz von Klassenkämpfen.
Eine der wichtigsten Entdeckungen von Marx war das Konzept des Mehrwerts, der im Kapitalismus die Formen von Profit, Grundrente und Zins annimmt. Wie entsteht Mehrwert? Marx hat nachgewiesen, dass der Mehrwert aus der unbezahlten Arbeitsleistung gespeist wird, die sich die KapitalistInnen gratis aneignen können, nachdem sie die Arbeit durch den Lohn abgegolten haben. Gleichzeitig scheint der Lohn gerecht zu sein, da er die Lebenshaltungskosten der Lohnabhängigen mehr oder weniger gut abdeckt. Vom unbezahlten Teil der Arbeitszeit, die über die Erarbeitung des eigenen Lohns hinausgeht, schweigt die Chronik. Der rechtliche Schutz des Privateigentums ist die Grundlage dafür. Daher auch der Aufschrei in unseren Massenmedien, wenn darüber diskutiert wird, dass Wohnraum oder Unternehmen vergesellschaftet werden sollten.
Die Marxsche Werttheorie
Marx identifiziert die Ware als »Atom« des Kapitalismus: »Der Reichtum der Gesellschaften, in welchen kapitalistische Produktionsweise herrscht, erscheint als eine ›ungeheure Warensammlung‹, die einzelne Ware als seine Elementarform. Unsere Untersuchung beginnt daher mit der Analyse der Ware. … Als Gebrauchswerte sind die Waren vor allem verschiedner Qualität, als Tauschwerte können sie nur verschiedner Quantität sein, enthalten also kein Atom Gebrauchswert.«1 Als Gebrauchswerte sind Waren Schuhe, Computer, Äpfel oder Birnen, als Tauschwerte sind alle diese unterschiedlichen Qualitäten auf bloße Zahlen (Quantitäten) reduziert. Wir beobachten die unterschiedlichen Quantitäten als unterschiedliche Preise. Der zweifache Charakter der Ware (also Gebrauchswert und Tauschwert) war Aristoteles bekannt, dass die Arbeitszeit die gemeinsame Wurzel des Tauschwerts ist, fanden erst die Klassiker der Wirtschaftswissenschaften, Adam Smith und David Ricardo heraus. Marx präzisierte den Tauschwert als »die im Durchschnitt notwendige oder gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit«, die zu ihrer Herstellung nötig ist. Sie drückt sich letztlich im Preis der Ware aus, die wir am Markt kaufen können.
Die gesamte Arbeitszeit w zur Herstellung einer Ware enthält zwei Bestandteile, den Arbeitszeitaufwand n in der letzten Stufe der Produktion und das konstante Kapital c (der Arbeitsaufwand, der in den Vorleistungen steckt). Der Wert w besteht also aus bereits vorgetaner Arbeit c und lebendiger Arbeit n, also w = c + n.
Im Kapitalismus zerfällt der neu geschaffene Wert, den die lebendige Arbeit dem konstanten Kapital hinzufügt, wiederum in zwei Teile, einerseits in das so genannte variable Kapital v (das auf der Ebene der Preise dem Lohn entspricht), anderseits in den Mehrwert m, den sich die/der Unternehmer*in gratis aneignet, wenn sie/er die Ware um den Wert w am Markt verkauft, also n = v + m.
So erhält sie/er das konstante Kapital, das variable Kapital und zusätzlich noch den Mehrwert zurück, also w = c + v + m.
Mit diesen verschiedenen Teilen des Wertes einer Ware (oder vieler Waren als Produktionsergebnis eines Betriebs, eines Wirtschaftszweiges oder der gesamten Wirtschaft) hat Marx Kenngrößen entwickelt, die den Vergleich verschiedener Produktionen bzw. ganzer Wirtschaften ermöglichen.
Drei Kenngrößen
Mehrwertrate m’: Um ein Maß für den Grad der Ausbeutung bei der Herstellung einer Ware zu erhalten, hat Marx den Mehrwert m durch das variable Kapital v dividiert. Marx nennt diesen Prozess die Verwertung des variablen Kapitals. Er bestimmt m’ = m / v als die Rate des Mehrwerts. Für den/die Lohnarbeiter/in ist diese Mehrwertrate der Grad seiner/ihrer Ausbeutung.
Profitrate p’: Im Kapitalismus beginnt der Produktionsprozess mit dem Vorschuss einer bestimmten Geldmenge G, die
1.zum Ankauf von Produktionsmitteln (Maschinen, Bauten) – sie dienen als fixes Kapital cfix –,
2.für Roh- und Hilfsstoffe (Halbfertig waren, Energie) – Marx nennt sie zirkulierendes Kapital czirk – und
3.für die Löhne der Lohnabhängigen verwendet wird – v, das variable Kapital.
G = cfix + czirk + v
Nun erfolgt die Produktion, die am Markt unter normalen Bedingungen G’ ergibt, das um den Mehrwert größer ist als die ursprünglich eingesetzte Geldmenge G. Marx schreibt den Prozess wie folgt symbolisch an
G – W – W’ – G’
Geld verwandelt sich in Ware, durch die Produktion entsteht ein Überschuss in der Höhe des Mehrwerts m.
Die Profitrate p’ kann in ihrer einfachsten Form (ohne Berücksichtigung der Umschlagszeit) als
p’ = m / (cfix + czirk + v)
angeschrieben werden. Sie gibt die Verzinsung des eingesetzten Kapitals in Prozent an, mit anderen Worten, wieviel Mehrwert wird vom Unternehmen je vorgeschossener Kapitaleinheit erwirtschaftet. Die Profitrate ist eine wichtige Kenngröße eines Unternehmens, da sie den Vergleich mit anderen Unternehmen ermöglicht.
Organische Zusammensetzung o: Um den Stand der technischen Entwicklung eines Unternehmens oder einer Volkswirtschaft zu charakterisieren, hat Marx das variable Kapital (gemessen durch das variable Kapital) mit der vergegenständlichten Arbeit (gemessen durch das konstante Kapital) verglichen. Definiert man die organische Zusammensetzung des Kapitals o mit
o = v / (cfix + czirk + v) ,
ergibt sich aus Mehrwertrate mal organischer Zusammensetzung die Profitrate.
Für Vollautomatisierung muss v und damit auch o = Null sein, d. h. es gibt keine Arbeitskräfte mehr. Für eine ausschließlich durch lebendige Arbeit ausgeführte Dienstleistung (z. B. Haushaltung) wird o = 1.
Volkswirtschaftliche Gesamtrechnungen
Diese Indikatoren lassen sich auch auf die österreichische Volkswirtschaft anwenden. Dabei helfen die Statistiken für Volkswirtschaftliche Gesamtrechnungen, die jedes EU-Mitgliedsland erstellen muss. Die Gesamtrechnungen umfassen Daten für das Brutto-Inlandsprodukt und für die wichtigsten Sektoren der Volkswirtschaft. Für uns besonders interessant ist die Input-Output-Statistik, die in einer großen Tabelle die Käufe und Verkäufe der Unternehmen (getrennt nach Konsum-, Investi tionsgütern und Vorleistungen) nach 74 Branchen gegliedert zusammenfasst und außerdem die Verteilung der Einnahmen nach Löhnen, Betriebsüberschuss, Abschreibungen, Steuern und Subventionen ausweist. Auch die Arbeitszeit wird dort angegeben. Die Struktur dieser Tabelle folgt dabei (obwohl das nirgends erwähnt wird) im Wesentlichen dem Aufbau der Reproduktionsschemata von Karl Marx.
Input-Output-Methoden
Er hat im zweiten Band des Kapital mit einfachen Formeln und mit zwei Sektoren (Produktionsmittel und Konsumgüter) gezeigt, wie Unternehmen einen Gewinn (Mehrwert) abwerfen können, der aus der unbezahlten Mehrarbeit stammt, die die Lohnabhängigen über ihren Lohn hinaus leisten. In der Sowjetunion wurden Materialbilanzen, die eine ähnliche Struktur besitzen, aber aus Stoffströmen bestehen, zu Planungszwecken verwendet. Der russischstämmige US-amerikanische Ökonom Wassily Leontief hat 1941 erstmalig Input-Output-Methoden im Buch »The Structure of American Economy, 1919–1929« angewandt. Erst im Jahr 1973 erhielt er dafür den Wirtschaftsnobelpreis. Seine Methode erwies sich als sehr fruchtbar. Immerhin verwendeten der Marx-Kritiker Paul A. Samuelson (Nobelpreis 1970) und Robert Solow (Nobelpreis 1987) Input-Output Strukturen zur Optimierung von Ökonomien nach bestimmten vorgegebenen Zielen.2
Matrizenrechnung
Die Theorie von Marx und anderen klassischen Ökonomen erklärte das wirtschaftliche Geschehen als Resultat menschlicher Arbeit. Mithilfe der Matrizenrechnung, einem hilfreichen Werkzeug für die Manipulation von Tabellen mit vielen Zahlen, kann man wie mit einem Mikroskop durch die Input-Output-Tabellen (die Eintragungen in Euro enthalten) hindurchblicken und ihren Inhalt in Arbeitszeit ausdrücken. Der Umsatz auf allen Märkten in Österreich im Jahr 2015 betrug 636 Mrd. Euro, der durch Arbeit im Ausmaß von 13.350 Mrd. Stunden (Lohnabhängige und Selbständige) erzeugt wurde. Davon entfallen auf lebendige Arbeit 6.880 Mrd. Stunden, auf die in den Vorleistungen vergegenständlichte Arbeit 6.470 Mrd. Stunden. Daraus lässt sich berechnen3, wieviel Wert in Euro im Durchschnitt in einer Arbeitsstunde geschaffen wurde, nämlich 47,64 Euro.
Aus weiteren statistischen Daten ergibt sich eine Mehrwertrate m’ von 55 Prozent4. Dies bedeutet, dass der neugeschaffene Wert zu zwei Drittel als Lohn, zu einem Drittel als Profit aufgeteilt wird. Die empirisch bestimmte Durchschnittsprofitrate
p’ = m / (cfix + czirk + v)
liegt bei 4,8 Prozent, wobei m direkt der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung entnommen wurde5. Die organische Zusammensetzung
o = v / (cfix + czirk + v)
erreicht 8,8 Prozent, d. h. der gesamte Kapitalvorschuss besteht zu 91 Prozent aus Bauten, Maschinen und Halbfertigwaren und zu etwas weniger als 9 Prozent aus Löhnen.
Korrelationskoeffizienten
Eine besondere Frage stellen sich Ökonom Innen schon seit vielen Jahrzehnten: Wie gut passt die Theorie von Marx über den Kapitalismus zu den empirischen Daten? Mit den Informationen aus der Input-Output-Tafel kann eine Näherungsrechnung für den gesamten Arbeitszeitaufwand in den einzelnen Branchen gemacht werden. Multiplizieren wir die Stunden mit dem obigen Wert von 47,63 Euro pro Arbeitsstunde, erhalten wir die theoretischen Werte in Euro, die sich mit den tatsächlichen Eurobeträgen vergleichen lassen (Arbeitswertpreise). Dies ermöglicht die Aussage, ob der Umsatz einer Branche (in Euro) mehr oder weniger ist als der Arbeitszeitaufwand.
Um zu messen, wie gut zwei Zahlenreihen (in unserem Fall Umsätze und Arbeitswertpreise aus 74 Branchen) miteinander übereinstimmen, haben die StatistikerInnen eine Maßzahl, den Korrelationskoeffizienten r, erfunden. Sind zwei Zahlenkolonnen vollkommen ähnlich, ist r = 1, ist ihr Zusammenhang völlig zufällig, wird r = 0. Bewegen sich die Zahlenkolonnen gegenläufig, wird r = -1 (minus Eins). Bei guter Übereinstimmung zwischen Theorie und Praxis sollte also der Korrelationskoeffizient nahe bei Eins liegen.
Was ist das Ergebnis dieses Vergleichs?
Der Korrelationskoeffizient erreicht 0,84 (r = 0,84) – d. h., die Marxsche Arbeitswertlehre passt mit den Umsätzen in unserer Wirtschaft auf dieser abstrakten Ebene einigermaßen gut zusammen.
Die Marxsche Theorie geht aber noch weiter: Im Kapitalismus werden die Arbeitswerte durch die Konkurrenz modifiziert, da die Unternehmer in ihrer Suche nach Maximalgewinn dort investieren werden, wo höhere Profitraten winken, und andere Branchen verlassen, wo die Profitraten unterdurchschnittlich sind. Ein Gleichgewicht ergibt sich nach Marx erst dann, wenn alle Profitraten gleich der Durchschnittsprofitrate sind, denn dann wird eine Kapitalwanderung keine Verbesserung bringen. Marx hat durch Aufschlag der Durchschnittsprofitrate auf die Herstellungskosten den Begriff der Produktionspreise geschaffen. Nimmt man diese Theorie als Ausgangspunkt für die Berechnungen, ist die Übereinstimmung zwischen Theorie und Praxis wirklich beeindruckend. Der Korrelationskoeffizient erreicht 0,95 (r = 0,95), und das bei einer Theorie, die mehr als 150 Jahre alt ist. Wendet man die Marxsche Methode mehrfach hintereinander an6, steigt der Korrelationskoeffizient sogar auf über 0,97 (r = 0,97).7
Mehr dazu unter http://peter.fleissner.org/Marx.pdf, wo sich auch eine Liste der 74 Branchen findet.
1 http://www.mlwerke.de/me/me23/me23_049.htm
2 Robert Dorfman, Paul Anthony Samuelson, Robert M. Solow, Linear Programming and Economic Analysis, New York 1958.
3 Unter der klassischen Annahme, dass alle Sektoren wertbildend sind.
4 Dieses Ergebnis liegt niedriger als der von Marx angenommene Wert von 1.
5 m ergibt sich aus dem Betriebsüberschuss plus den sonstigen Produktionsabgaben minus den sonstigen Subventionen (ohne Abschreibungen)
6 Zu Beginn des 20. Jahrhunderts hat Ladislaus von Bortkiewicz Marx heftig kritisiert, indem er ihm vorwarf, dass die Inputpreise von den Outputpreisen abweichen, und eine alternative Lösung vorgeschlagen, die dieses Problem behebt. Wiederholt (iterativ) angewendet führt die Marxsche Methode allerdings genau zu den von Bortkiewicz errechneten Produktionspreisen.
7 Ohne Berücksichtigung des fixen Kapitals (die Daten dazu wurden mir dankenswerter Weise von Statistik Austria zur Verfügung gestellt) steigt der Korrelationskoeffizient von 0,95 nach drei Wiederholungen auf 0,98 an (was in Widerspruch zur Marxschen Theorie steht), um sich danach auf 0,97 einzupendeln. Franz Ofner hat dafür eine interessante Erklärung geboten: Die Berücksichtigung der Abschreibungen würden die tatsächlichen Umschlagszeiten des Kapitals besser repräsentieren, die in den Berechnungen (mangels Informationen) immer mit einem Jahr festgesetzt wurden.