Wissenschaft, Moral und Dystopie statt politischer Entschlossenheit? Wie kann aus all den sattsam bekannten Fakten von Umweltzerstörung und Klimaerwärmung antikapitalistischer Widerstand entstehen?
HEIDE HAMMER
Greta Thunberg tritt in Wien auf, sie trifft den Papst, ihre Symbolkraft mobilisiert junge Leute auf der Suche nach einem politischen Handlungsfeld, das ganz konkret mit ihnen selbst und zugleich mit der ganzen Welt zu tun hat. Donna Leon sagt »Gebt Greta Thunberg den Nobelpreis. Die 16-jährige Schwedin setzt sich für die Menschheit ein. Ich habe ihre Rede vor dem englischen House of Commons im Fernsehen gesehen. Es war beeindruckend, sie spricht eloquenter Englisch als ich.« (TT-Magazin, 22.06.2019) Ihre Klugheit beeindruckt und zugleich muss die junge Frau hässliche Übergriffe auf Social Media Kanälen ertragen, vielfach Anfeindungen ihrer kindlichen Erscheinung. Doris Knecht erwähnt gleich zu Beginn ihrer Standard-Serie »Wie ich versuche, ein besserer Mensch zu werden …« die »Klimakrisenikone« und setzt auf Protestantismus: »Wir brauchen viel mehr extrem schlechtes Gewissen, nagende, quälende Schuldgefühle werden letztlich unser Bewusstsein ändern. Und in Folge unsere Einstellungen, unser Verhalten, unseren Lebensstil, unsere Konsumgewohnheiten.« (22./23. Juni 2019)
Wissenschaft und Widerstand
In Paris spricht Greta Thunberg Ende Juli vor der Nationalversammlung, den Konservativen und Rechtsextremen, die zum Boykott der Veranstaltung aufrufen, antwortet sie: »Wir sind nur Kinder. Sie müssen nicht auf uns hören. Aber Sie müssen auf die Wissenschaftler hören. Und das ist alles, worum wir bitten.«
Dieser Glaube an die Wissenschaft, diese moralischen Appelle an die Vernunft sind zwar naheliegend, damit arbeitet z. B. auch der renommierte Journalist und Autor Nathaniel Rich in seinem viel zitierten Buch »Losing Earth«, in dem er auch Ken Caldeiras Methode vom Carnegie Institute for Science in Stanford referiert. Dieser pflegte seine Erstsemester nach dem »bedeutendsten wissenschaftlichen Durchbruch in der Klimaphysik seit 1979« (S. 202f.) zu fragen und wollte damit etwas benannt wissen, was es nicht gibt. Neben einer Verfeinerung der Modelle und Simulationen wurde in den letzten Jahrzehnten nur sehr viel Geld in das Desavouieren wissenschaftlicher Messungen und Ergebnisse gelenkt. Naheliegend auch, dass jene, die unvorstellbare Summen mit der Förderung, dem Verkauf und der Verwertung fossiler Brennstoffe verdienen, einen kleinen Teil zur nunmehr bereits leidlich bekannten Methode des Infragestellens und selbstverständlichen Nebeneinanderstellens von Aberglaube, wirren, aber behaupteten Mehrheitsmeinungen und wissenschaftlichen Erkenntnissen verwenden. Rich appelliert an die nächste Generation, die qua »Kampf ums Überlegen« (S. 230) den moralischen Imperativ zur Maxime erheben werde.
Die »Fridays for Future« schwänzen die Schule, ein Akt des Ungehorsams, der an sich schon wichtige Erfahrungen ermöglicht. Dabei entlehnen sie nicht nur ihre Rhetorik dem eigenen Erfahrungsraum und gemahnen PolitikerInnen daran, ihre Hausaufgaben zu machen, ihre Lernumgebung begünstigt auch diesen uneingeschränkten Glauben an die Wissenschaft. Was dabei fehlt, um den Druck auf die MachthaberInnen in Politik und Wirtschaft zu erhöhen, ist eine Analyse der Kräfteverhältnisse und der Entschluss, die GegnerInnen zum Handeln zu zwingen. Wenn etwa der Flugverkehr als ein Verursacher von gestiegenen CO2 Emissionen identifiziert wird – auch wenn der damit verbundene Kerosinverbrauch nur für weltweit 5 Prozent des CO2 Ausstoßes verantwortlich ist, Österreich verzeichnete 2018 ein Plus von 12 Prozent – so wäre ein entschiedenes Vorgehen gegen den Bau der 3. Piste in Schwechat und auch die damit versprochenen 30.000 zusätzlichen Arbeitsplätze nötig. Wenn einige tausend Jugendliche am Pannenstreifen von Wien nach Schwechat gehen, dann wird sowohl der Druck auf PolitikerInnen als auch die Wahrscheinlichkeit von Repressionen erhöht.
Ein bisschen ist auch wieder 1984, durchaus dystopisch, und zumindest der ÖAAB ist uneingeschränkt froh über das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts, den umstrittenen Bau zu genehmigen, während UmweltaktivistInnen wie »System Change not Climate Change« ihren Protest damit suspendierten. Wenn man es aber ernst meint mit der massiven Bedrohung für das menschliche Leben auf diesem Planeten, dann müssen auch die ungleiche Verteilung dieser Bedrohung und deren VerursacherInnen benannt werden. Entlang kapitalistischer Grenzen können wir je nach Geschmack besseres Wetter und die immerzu klimaabhängige Landwirtschaft eine Veränderung des möglichen Frucht- und Getreiderepertoires erwarten, während gerade jene, die bereits jetzt unter unmöglichen Verhältnissen zu leben oder zu flüchten versuchen, der unausweichliche Tod durch Dürren oder dauerhafte Überschwemmung droht.
Wissen und Kapital
2014 veröffentlichte Naomi Klein »This Changes Everything. Capitalism vs. the Climate«, seit 2015 liegt auch die Übersetzung unter dem Titel »Die Entscheidung. Kapitalismus vs. Klima« vor. Darin stellt sie nach fünfjähriger Recherche durchaus die Machtfrage, um die Öl- und Gasindustrien als mächtigste AkteurInnen im globalen Kapitalismus zu benennen. Ihr ist auch nicht vorzuwerfen, die Wissenschaft als die Lösung für das Problem zu nominieren, denn schließlich sind Geo-Engineering ebenso wie UmweltaktivistInnen unter der Obhut von Ölkonzernen oder hierorts Grüne PolitikerInnen, die der Wirtschaft die Hand reichen wollen (Birgit Hebein versus Martin Magulies – Kapitalismus tötet) auch Teil einer wohlinformierten Community. Das Phantasma mit E-Mobilität, deren Herstellung überaus ressourcenintensiv ist, den ganzen Krempel der Automobilindustrie nochmal neu verkaufen zu können und damit auch noch ein gutes Gewissen zu vermarkten, muss wohl entschieden und radikal antikapitalistisch entgegengetreten werden.
Diesem ebenso wie den Green New Deal-Ansätzen liegt die durchaus naive Annahme zu Grunde, dass es lediglich vernünftiger Entscheidungen bedürfe, um den dreckigen, todbringenden Kapitalismus gegen eine helle Version, wenn schon nicht zum Wohle aller, so zumindest zur Rettung der Umwelt austauschen zu können. Mit Marx aber gilt, dass der Effekt kapitalistischen Wirtschaftens mitnichten die bestmögliche Versorgung aller Menschen mit lebensnotwendigen und zunehmend auch luxuriösen Gütern ist, sondern die Akkumulation von Kapital, das im Privateigentum liegt. Wer dabei ein »erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist«, liegt auch auf der Hand: Einerseits die 99 Prozent, die Occupy immer wieder bemühte, aber andererseits doch z. B. die BewohnerInnen des Inselstaats Kiribati, das nicht nur eines der ärmsten Länder der Welt ist, sondern gesamt, d. h. mit allen 33 Korallatollen und Inseln, verteilt über eine Fläche im Südpazifik so groß wie die USA, wahrscheinlich noch in diesem Jahrhundert vom Ozean verschluckt werden wird. Dass Kiribati lediglich die drittniedrigsten Klimagasemissionen der Welt (pro Kopf der 118.000 EinwohnerInnen) aufweist, verwundert kaum und auch nicht, dass der Umwelt- und Wissenschaftsminister Kiribatis bereits 1989 bei der UN-Konferenz in Noordwijk (Forderung: Kohlendioxid-Emissionen bis zum Jahr 2000 auf dem Niveau von 1990 zu stabilisieren) auf die existenzielle Bedrohung eines Anstiegs des Meeresspiegels hingewiesen hat. Seit 1983 wird auf Kiribati diese Zunahme gemessen, es sind bis zu 5,7 mm pro Jahr.
Die existenzielle Bedrohung trifft also wiedermal die Anderen, und das gilt für die kapitalistische Gewaltförmigkeit mit allen rassistischen, sexistischen und nationalistischen Implikationen ebenso wie für die Vernichtung der unmittelbaren Lebensgrundlagen. Damit sich eine attraktive Jugendbewegung wie die »Fridays for Future« nicht nur durch Konferenzorganisation und die harmlose Überschreitung des Erlaubten etablieren, sind diese Anderen, die heute auf dem Weg durch die Wüste oder im Mittelmeer sterben ebenso zum eigenen und unmittelbaren Anliegen zu machen, wie die moderne Sklaverei auf den Baustellen, Haushalten oder am Sexarbeitsmarkt. Der Kapitalismus herrscht durch Spaltung, und plötzlich sind alle für eine CO2-Steuer, UmweltaktivistInnen, WissenschafterInnen wie Parteien und VertreterInnen von Wirtschaft und Industrie. Wem allein diese Allianz nicht zu denken gibt, der/die könnte auch mal nachlesen (Vgl. Schwerpunkt: System Change not Climate Change. In: Marx 21 2/2019). Selbst wenn das »Preissignal« vom Markt beachtet würde, die höheren Kosten also zur Verringerung der Emissionen beitragen könnten, wird das Signal durch erhebliche Steuerrabatte überwiegend an die ProduzentInnen im Standortwettbewerb zunichte gemacht. Selbst das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) nennt derartige Versuche eines Emissionshandels oder Ökosteuern in der praktizierten Form einen umweltpolitischen Flop, der zudem die KonsumentInnen (dabei überproportional Menschen mit geringem Einkommen) am höchsten belastet. Dagegen ist Strom aus Kohle in Deutschland nach wie vor ein hoch subventionierter Exportschlager, die Verdoppelung der exportierten Leistung von 2012 bis 2017 brachte nicht nur Gewinne von 1,4 Milliarden Euro für die Stromkonzerne, sondern auch einen erneuten Anstieg der CO2-Emissionen.
Cui bono?
Wem also nützt diese Wirtschaftsordnung? Oder haben gar wir als (vereinzelte) KonsumentInnen die Macht, Fair Trade und Ökostrom zum Gewinnmodell zu machen? Dass diese vermeintliche Selbstverantwortung dem neoliberalen Credo trefflich entspricht, ist das eine, das andere aber ist, dass sich im kapitalistischen System die Produktion mitnichten an den Bedürfnissen der Menschen orientiert. Kaum jemand wird sich freudig und bewusst für hormon- und antibiotikastrotzendes Fleisch aus quälender Massentierhaltung entscheiden, Kinderarbeit befürworten oder am allerliebsten elektronische Geräte mit geplanter Obsoleszenz (eingebautem Ablaufdatum) kaufen. Dennoch beherrschen genau jene Produkte unsere Wirtschaft und sichern die Gewinne des Kapitals. Die KonsumentInnen entscheiden mitnichten, was unter welchen Bedingungen produziert wird, das Einkommen der VerbraucherInnen bestimmt lediglich, wie ihre Bedürfnisse mit den angebotenen Waren in Einklang gebracht werden. Es gilt also auch im Kampf um natürliche Ressourcen, die Macht privater Kapitalinteressen zu brechen und den Slogan »System Change« mit konkreten Aktionen und Forderungen zu füllen.