Rezension von Heide Hammer
Der Journalist und Aktivist Alexander Behr unterstreicht mit seiner umfangreichen Streitschrift für Globale Solidarität die Dringlichkeit unserer Situation. Zeit und das Verfügen über Zeit ist ein Privileg und ein machtvolles Instrument jener Nekropolitik, die den Kern der von Brand/Wissen und auch von Behr beschriebenen imperialen Lebensweise markiert. Diese Politik der Gewalt und des Todes wird aktuell entlang der Klimakatastrophe und ihrer ungezählten und unbetrauerten Opfer besonders deutlich, denn sie verstärkt in offenbar kaum vorstellbarem Ausmaß das Desaster des Kapitalismus. Unsere Wirtschaftsweise und ihre tödlichen Verwerfungen, ihre Entfremdungserfahrungen und Vernichtungsweisen werden hier benannt und analysiert. Der dystopischen Vergangenheit und Gegenwart stellt der Autor viele Widerstandsformen entgegen, die zwar noch lange nicht für einen guten Ausgang der Kämpfe hinreichen, aber ihn und seine Leser*innen in der Gewissheit bestärken (mögen), dass solidarisches Handeln sinnvoll ist und der Wunsch nach radikaler Veränderung bestimmend bleibt. In seinem kritischen Verständnis von Journalismus verfolgt Behr »neben der umfassenden Darstellung eines Sachverhalts immer auch das Ziel, den Weg von der Empörung zur Analyse und vom Mitleid zur Solidarität aufzuzeigen und auf diese Weise dabei zu helfen, das Recht auf Rechte für alle Menschen auf der Welt geltend zu machen.« Zu diesem Zweck werden theoretische wie politische Ansätze, die auf eine nationale oder supranationale Ebene orientieren, in ihrer Genese kurz erklärt: Degrowth, Green New Deal, Lieferkettengesetze und Steuergerechtigkeit ebenso wie die Forderung nach einem internationalen Gerichtshof für Menschenrechte.
Das Buch changiert zwischen einander ergänzenden Strategien und Konzepten und der individuellen wie kollektiven Erfahrungsebene, die von Brüchen zeugt und einen Unterschied markiert, der wesentlich solidarische, emanzipatorische Praxen aufzeigt und zur Nachahmung und Adaption anregt. Wenn es gelingt, »25 Tonnen Bio-Saatgutkartoffeln aus dem österreichischen Waldviertel mit einem Sattelschlepper nach Nyzhnje Selyshche [ein kleines Dorf in den ukrainischen Karpaten] zu bringen, die vor Ort von Dorfbe-wohner*innen gemeinsam mit Geflüchteten ausgepflanzt werden, [dann ist das eine] wichtige Aktion, die nicht nur materiell, sondern auch symbolisch wirkt, denn sie drückt aus: Wir sorgen füreinander – und wir nehmen unser Leben selbst in die Hand, anstatt passive Opfer zu bleiben.« Dieses solidarische Handeln wird am Ausgang dieses Krieges wahrscheinlich nichts ändern, jedoch am Leben der hunderten Flüchtenden und jener Aktivist*innen der Genossenschaftsbewegung Longo Maï, die sich hier bereits seit den 1990er Jahren niedergelassen haben.
Der Autor verfügt über ein vielfältiges Beziehungsgeflecht zu gewerkschaftlichen Organisierungen, wie der SOC (andalusische Landarbeiter*innen) und anderer Mitglieder des weltweiten Kleinbäuer*innen- und Landlosen-Verbands Via Campesina, er ist Teil von Afrique-Europe-Interact, einem transnationalen Netzwerk von Basis-aktivist*innen, die Geflüchtete und Migrant*innen auf ihrem Weg und in ihren Kämpfen für das Recht auf Bewegungsfreiheit, aber auch für ihr Recht zu bleiben, unterstützt. Emmanuel Mbolela, mit dem Behr über 300 Lesungen von dessen Autobiografie Mein Weg vom Kongo nach Europa veranstaltete, um die gemeinsame Solidaritätsarbeit bekannt zu machen und mitzufinanzieren, schreibt: »Europa behauptet, dass es nicht möglich sei, das Elend der ganzen Welt aufzunehmen – doch anscheinend ist es für Europa seit Jahrhunderten sehr wohl möglich, die Reichtümer aus aller Welt aufzunehmen! Das muss sich grundlegend ändern!« Und Behr ergänzt an anderer Stelle: »Soziale Bewegungen dürfen sich heute nicht mehr auf die Überwindung des Widerspruchs zwischen Kapital und Arbeit beschränken, sie müssen sich prioritär auch dem Widerspruch zwischen Kapital und Natur widmen.« Viele Denk- und Handlungsstränge werden hier auf haptisch ansprechendem, ökologisch nachhaltig in Deutschland bedrucktem Recyclingpapier kompiliert – eine Leseempfehlung!
Alexander Behr: Globale Solidarität. Wie wir die imperiale Lebensweise überwinden und die sozial-ökologische Transformation umsetzen. München: oekom 2022.