Cornelia Hildebrandt zu den Schwierigkeiten eines sozialistisch-christlichen Dialogs aus linker Perspektive
»Dass es so weitergeht, ist die Katastrophe«, formulierte Walter Benjamin schon 1937 und seit 2016 Papst Franziskus in seiner Sozialenzyklika Laudato Si – einer selbst- und gesellschaftskritischen Analyse angesichts der Zerstörung der Lebensgrundlagen der Menschheit. In seiner zweiten Enzyklika Fratelli Tutti (Geschwisterlichkeit) von 2020 beschreibt er unter dem Eindruck der Corona-Pandemie, das Ineinandergreifen der globalen sozialen, ökonomischen und ökologischen Krisen, die zerstörerischen Wirkungen eines zunehmenden national-rechten Populismus sowie der Geringschätzung der Demokratie, und er schreibt über den Krieg als »Versagen der Politik und der Menschheit«. Er setzt sich für konkrete Schritte einer globalen internationalen Friedensordnung ein und für die Reform der Vereinten Nationen, um deren Handlungsfähigkeit zu erhöhen. In beiden Schriften ruft Papst Franziskus zum Dialog aller Willigen zu Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der natürlichen Lebensgrundlagen der Menschheit auf. Dazu gehört für ihn auch der Dialog mit der Linken, wie er dies bereits bei seinem Treffen mit Alexis Tsipras 2014 ausdrücklich unterstrich.
Weltanschaulicher Dialog
Dennoch scheint die breite plurale Linke nur recht zögerlich in einen solchen Dialog einsteigen zu wollen. Worin liegen die Schwierigkeiten und wie sollten Linke selbst damit umgehen? Die Spezifik des weltanschaulichen Dialogs besteht jedoch weniger darin, dass es Differenzen zwischen Christ*innen und Sozialist*innen bei der Formulierung linker Positionen gibt – also der Suche nach gesellschaftlichen Alternativen aus der Perspektive der Schwächsten der Gesellschaft. Diese Differenzen lassen sich jederzeit auch innerhalb der pluralen Linken aufzeigen. Die eigentliche Herausforderung vor allem der marxistischen Linken besteht in der Akzeptanz, dass die Suche nach gesellschaftlichen Alternativen weltanschaulich unterschiedlich, also auch religiös begründet werden kann. Dies wird vor allem dann zur Schwierigkeit, wenn Linke noch immer an der fatalen Entgegensetzung von wissenschaftlichem Materialismus und dem verkürztem Verständnis und falschen Zitierweisen von Religion als »Opium für das Volk« festhalten.
Opium des Volkes
Marx setzte mit seiner Formulierung »Opium des Volkes« die Religion in kon-krete historische und gesellschaftliche Kontexte und verwies auf den Doppel -charakter der Religion. Er schrieb: »Das religiöse Elend ist in einem der Ausdruck des wirklichen Elendes und in einem die Protestation gegen das wirkliche Elend. Die Religion ist der Seufzer der bedrängten Kreatur, das Gemüt einer herzlosen Welt, wie sie der Geist geistloser Zustände ist. Sie ist das Opium des Volkes.« (Karl Marx, Einleitung zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie). Für ihn ist die Aufhebung der Religion mit der Aufhebung der Zustände des irdischen Jammertals verbunden und folgerichtig fordert er statt einer Kritik der Religion die Kritik der kapitalistischen Gesellschaft und leitet daraus die Notwendigkeit ihrer grundlegenden Umgestaltung ab. So gilt es alle Verhältnisse umzustoßen, »in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist.«
Nach Marx wurde in teils verkürzter und vereinfachter Form der Marxismus nicht nur zur Wissenschaft erhoben, sondern bei Lenin quasi religiös überhöht: »Der Marxismus ist allmächtig, weil er wahr ist« (Lenin: Drei Quellen und drei Bestandteile des Marxismus, 1913). Zugleich aber wurden andere Formen der Aneignung von Welt – darunter deren religiöse Aneignung – als nichtwissenschaftlich disqualifiziert und Religion als falsches Bewusstsein der Wissenschaft gegenübergestellt. Zudem bedeutete christlich gleich bürgerlich oder reaktionär und das Christentum wurde mit konservativen Ideologien und Institutionen gleichgesetzt. Das in jeder Religion angelegte Befreiungspotential spielt hierbei keine Rolle und die Funktion von Religion als Opiat gilt als Hindernis zur Entwicklung von Klassenbewusstsein und Klassenkampf.
Gemäß diesem Verständnis wird nicht differenziert zwischen religiös gebundenen Menschen und ihren Institutionen – den Kirchen, die sich in Vergangenheit und Gegenwart immer wieder auch als Institutionen zur Herrschaftsabsicherung oder zur Legitimierung von Kriegen im Kampf um Einflusssphären und Ressourcen erwiesen haben oder noch immer erweisen. Die Ablehnung der Kämpfe der Arbeiterinnenklasse wie auch das Bündnis von Thron und Altar prägten auch das Verhältnis von Linken zu Gläubigen und mehr noch ihren Institutionen, den Kirchen.
Ist der Papst ein Linker?
Doch Kirchen und Glaubensgemeinschaften selbst sind Räume härtester gesellschaftspolitischer Auseinandersetzungen, in denen es um Lebensweisen in pluralen divers geprägten Gesellschaften im 21. Jahrhundert geht. Die russisch-orthodoxe Kirche unterstützt Putins Krieg, Papst Franziskus verurteilt diesen. Die Evangelischen Kirchen in Deutschlands diskutieren, ob ihre bisherigen friedensethischen Positionen angesichts des Ukraine-Krieges noch haltbar sind. Ist Pazifismus heute noch ein Friedenszeugnis?
Und während die Evangelikalen um Trump und Bolsonaro den Klimawandel leugnen und Bolsonaro den Regenwald abholzen lässt, formuliert Papst Franziskus Wege und Perspektiven für eine sozialökologische Transformation. Und da geht es nicht nur um die Veränderung des individuellen Konsums, sondern auch um den Zusammenhang von ökologischen Katastrophen als »Konsequenz der Auswirkungen zerstörender Industriegesellschaften« und neuen Kriegen. Krieg beginnt für Papst Franziskus dort, wo Menschen keinen Zugang zu notwendigen Mittel des Lebens haben, wo sich ein Wirtschaftsmodell auf Profit gründet und nicht davor zurückscheut, den Menschen auszubeuten, wegzuwerfen und sogar zu töten. In seinen Analysen der kapitalistischen Gesellschaft ist Papst Franziskus den Linken nahe – nicht in Bezug auf seine Auffassung zur Rolle der Frau in Kirche und Gesellschaft, zur Verhütung und Schwangerschaftsabbruch. Nein, der Papst ist kein Linker – er bleibt in all diesen Fragen konservativ.
Linke und die Religion
Die Frage, die sich Linke stellen müssen, ob sie nicht gerade deshalb mit Papst Franziskus in die Auseinandersetzung gehen und zugleich in den Dialog treten sollten? Müsste die von ihm geforderte Würde aller Menschen nicht auch die Würde der Frau angesichts ihrer vielfachen Unterdrückungsweisen besonders hervorheben und in den Selbstbestimmungsrechten ihren Niederschlag finden? Wäre es nicht auch für die feministische Linke lohnenswert, über den Zusammenhang von Würde und Selbstbestimmung nachzudenken? Was heißt Selbstbestimmung in welchen Kontexten?
Im christlich-marxistisch/sozialistischen Dialog scheint dies aus linker Perspektive noch einfach. Gegenüber Musliminnen mit Kopftuch lässt sich diese Frage jedoch nicht so leicht beantworten. Linke lehnen jede Form von antimuslimischem Rassismus ab und stehen zugleich für das Recht auf Selbstbestimmung der Frau. Vor diesem Hintergrund begrüßen auch Linke weltweit die mutigen protestierenden Frauen im Iran, die das Kopftuch abnehmen und ihr Haar kurz schneiden. Denn wie kann es sein, dass noch im 21. Jahrhundert das »falsche« Tragen eines Kopftuches mit Folter bis zum Tod bestraft werden darf wie bei der 22jährigen Mahsa Amini in Teheran? Natürlich gehört diesen Kämpfer:innen unsere Solidarität.
Es gibt jedoch unterschiedliche Wege der Emanzipation, zu denen z. B. auch Kämpfe der Frauen mit Kopftuch in Deutschland gegen jede Diskriminierung im öffentlichen Dienst gehören. Selbstbestimmung muss – damit es nicht zum moralischen Diktat verkommt und so seinen eigentlichen emanzipativen Ansatz verliert – selbst bestimmend möglich sein und so auch ohne Vorbehalte akzeptiert werden können. Die freie Entwicklung eines jeden – so Marx im Kommunistischen Manifest – ist Bedingung für die freie Entwicklung aller. Wie aber stehen freie Entwicklungen und gesellschaftliche oder aber auch Normensetzung aus linker Perspektive zueinander? Rechtlich kann hier der konsequente Kampf für Religionsfreiheit für alle Religionen – also: Freiheit von Religion, Freiheit zur Religion und der Möglichkeit, sie auszuüben, Rahmen setzen. Aber es geht ja um mehr, es geht um die Frage der Gestaltung alternativer Gesellschaften: plural, offen, divers.
Alle Verhältnisse umzuwerfen … Und die Mächtigen vom Throne zu stoßen
Es geht um die Befreiungserzählung – und diese nicht nur von Ausbeutung und Unterdrückung, sondern auch um die selbstbestimmten Wege ihrer Umsetzung. Alle Verhältnisse umzuwerfen …. Und die Mächtigen vom Throne zu stoßen, ist der Titel eins Buches von Michael Ramminger und Franz Segbers, die so auf das gemeinsame Erbe von Christ*innen und Marxist* innen verweisen. Das Marx Zitat aus seiner Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie und das Zitat aus dem Magnifikat Marias – gesprochen von einer Frau! – entspringen dem gleichen humanistischen Gedanken: der Gleichheit der Menschen und der Auflehnung gegen Unterdrückung. Auch der Gedanke der Ebenbildlichkeit Gottes ermöglicht Zugänge zur Marxschen These, dass der Menschen für den Menschen als höchstes Wesen zu setzen sei und nicht falsche Götter wie Markt, Geld, Profit. Weder Privatbesitz noch die Interessen des Finanzsektors dürfen den gesellschaftlichen Gütern übergeordnet sein, schreibt Papst Franziskus in Fratelli Tutti. Ein Dialog und gemeinsamer Kampf gegen neoliberale Herrschaft, die »Religion des Kapitalismus«, muss sich mit dem Fetischismus der Waren, des Geldes und des Kapitals auseinandersetzen und natürlich auch mit herrschaftserhaltenden Strukturen, zu denen auch Religionen und Kirchen gehören können.
Der weltanschauliche Dialog muss Partei ergreifen für die Schwächsten der Gesellschaft, für jene, die kaum oder gar keine Stimme haben und muss dort wirksam intervenieren, wo die Herrschaft des Kapitals Existenzgrundlagen menschlichen Zusammenlebens und menschlichen Lebens überhaupt infrage stellt oder sogar vernichtet. Und es geht um gemeinsame Praxen, wie es sie z. B. in der Friedensfrage, bei der Unterstützung von Willkommensinitiativen, zur Partizipation und Integration von Geflüchteten, bei den Versuchen einer sozialen und ökologischen Umgestaltung gibt.
Cornelia Hildebrandt ist im christlich-marxistischen Dialogprojekt DIALOP aktiv und leitet den Gesprächskreis weltanschaulicher Dialog in der Rosa Luxemburg Stiftung. Im Februar hat sie in der Volksstimme über die Außenpolitik der neuen Ampelregierung in Deutschland geschrieben.