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Sozialisten können Christen sein

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Mit »Sozialisten können Christen sein. Christen müssen Sozialisten sein« leitete Helmut Gollwitzer (1908–1993) eine seiner letzten Streitschriften 1988 ein. Wer den Namen Gollwitzer heute hört, reagiert wohl nur mit einem unwissenden Schulterzucken. Vergessen scheint der streitsame Vordenker, der mit seinem Eintreten sowohl für die Kirche als auch den Marxismus die deutschsprachige Theologie einige Jahrzehnte auf Trab hielt. Doch seine Ideen glimmen als kleine, revolutionäre Funken weiter. In einigen Schlaglichtern sollen Helmut Gollwitzer sowie sein Mentor, Karl Barth, hier beleuchtet werden.

Die Anfänge

Am 29. Dezember 1908 wurde Helmut Gollwitzer im fränkischen Pappenheim in eine national-konservative Familie geboren. Schon früh geriet er unter den Einfluss deutsch-nationaler Jugendbewegungen der 20er Jahre. Politisch rückte er später jedoch von diesen Organisationen ab. Er begann 1928 ein Philosophiestudium, wechselte aber bald zur Theologie. Im März 1937 promovierte Gollwitzer in Basel. Zwischenzeitlich findet sich auch ein Intermezzo in Wien, wo Gollwitzer einige Monate Schlossprediger und Prinzenerzieher bei Heinrich Reuß zu Ernstbrunn bei Wien war.

Berühmter Mentor: Karl Barth

Bereits 1930 lernte Gollwitzer in Bonn Professor Karl Barth kennen, der ihm zum Tutor und Freund wurde. Barth war zunächst als roter Pfarrer und Religiöser Sozialist im Schweizer Industrieort Safenwil bekannt geworden. Er legte sich regelmäßig mit Industriellen an, predigte politisch und betrieb Erwachsenenbildung. Nicht zuletzt organisierte er Streiks und unterstützte Gewerkschafter*innen. Gollwitzer sollte später über Barth sagen: »Er verwaltet sein Pfarramt so, wie es heute manche Kirchenleitungen von linken Theologiestudenten befürchten: in der Verbindung von sonntäglicher Predigt und werktäglicher politischer Agitation.« Hatte Barth sein Auftreten lange als eine bewusste »Kampfansage« an das unpolitische und bürgerliche Christentum verstanden, änderte sich dies mit dem Beginn des Ersten Weltkriegs. In diesem sah er das große Scheitern von Theologie und Sozialismus. Barth reagierte mit einem Bruch. Nicht länger sollte der Name Jesu politisch vereinnahmt werden. Religion und Sozialismus blieben ihm wichtig und notwendig – nur durften sie einander nicht mehr beeinflussen oder gar begründen. Schließlich führte Barths Weg an die Universität. Er wurde zum großen Vordenker, zum sogenannten »Kirchenvater des 20. Jahrhunderts«, trat politisch aber leiser. Erst durch seine absolute Opposition zum Nationalsozialismus und den »Deutschen Christen« machte er diesbezüglich wieder von sich reden. Barth blieb Zeit seines Lebens Sozialist, wurde aber letztlich durch seine kirchlich-dogmatischen Arbeiten und als Professor berühmt.

Widerstand und Gefangenschaft

Unter Barths Einfluss driftete Gollwitzer als Student politisch nach links. Im Mai 1931 sprach der Lehrer den Schüler auf eine politische Veranstaltung an: »Herr Gollwitzer, man hat mir erzählt, Sie hätten gestern Abend in einer Versammlung stehend die Internationale mitgesungen. Sie machen gewaltige Fortschritte!« Während der Machtübernahme der Nationalsozialist*innen wurde Barth zu einem Organisator der innerkirchlichen Opposition. Lehrer und Schüler waren Teil der »Bekennenden Kirche«, die sich vehement gegen die sogenannten »Deutschen Christen« stellte. Seine Gottesdienste brachten Gollwitzer eine siebenwöchige Haft ein. Seine Gemeinde in Berlin war überdies zu einem Anlaufpunkt für jüdische Familien geworden. Gollwitzer wurde 1940 aus Berlin ausgewiesen und 1941 in den Kriegsdienst berufen. Er blieb aber in verschlüsseltem Briefkontakt mit seiner Gemeinde, bis er 1945 in sowjetische Gefangenschaft geriet. Da Gollwitzer sich nicht im Sinne der Sowjets umerziehen ließ, wurde er 1949 in ein Arbeitslager verfrachtet, kam zur Adventzeit desselben Jahres jedoch frei. Gollwitzer betonte später, die vierjährige Gefangenschaft als gerechte Strafe Gottes empfunden zu haben, weil er sich am Krieg beteiligt habe.

Marx und Christus

Die erste wirkliche Auseinandersetzung mit marxistischem Gedankengut hatte Gollwitzer in der sowjetischen Gefangenschaft. Bis zu seinem Lebensende sollte er dem, was aus der russischen Revolution geworden war, kritisch gegenüberstehen. Doch auch das westliche System überzeugte ihn nicht: »Vielleicht ist der Unterschied der: der Westen verführt zur Unmenschlichkeit, das System des Ostens zwingt zur Unmenschlichkeit. Die Verführung kann die größere Gefahr sein. Unter dem Zwang kann sich mehr Menschlichkeit halten als unter der Verführung; sie kann mehr korrumpieren als der Zwang.«

Erst im Laufe der 1950er, als er bereits Professuren für systematische Theologie in Bonn und Berlin innehatte, bekannte sich Gollwitzer offiziell zum Sozialismus. Doch er blieb kritisch. Problematisch sah er den Marxismus dort, wo dieser nicht mehr »befreien« konnte. Auch deswegen hielt der Professor an seinen religiösen Überzeugungen fest. »Die christliche Gemeinde, in der Christus geglaubt und bekannt wird, ist die Grenze des totalen Staates im Osten, und Schutz des Menschen vor der Vermassung der technischen Produktion im Westen.«

Friedens- und Antiatombewegung

Gollwitzer sprach sich 1955 zum ersten Mal öffentlich klar gegen die Wiederbewaffnung Deutschlands aus. Damit verstieß er bewusst gegen die »gute Regel«, dass Menschen im kirchlichen Dienst nicht mit persönlichen und politischen Ansichten hervortreten sollten. Erstmals erwähnte er auch die Gefahr der atomaren Aufrüstung: Ein mit unrechten Mitteln geführter Krieg könne nicht gerecht sein. Diese Mittel seien die Massenvernichtungswaffen, da sie die Unterscheidung zwischen Soldat*innen und Zivilbevölkerung verwischten. Herkömmliche Kriegsethik werde damit unwirksam. Für Gollwitzer war stets klar: Wo es um die Opfer politischer Entschlüsse, um das Überleben der Menschheit gehe, gerade nach Katastrophen wie Auschwitz oder Hiroshima, da sei politische Neutralität ausgeschlossen. Hier fordere das Evangelium von der Rechtfertigung des Sünders bzw. der Sünderin die Konsequenz eindeutiger Parteilichkeit für die Menschen, für ein Leben in Gerechtigkeit und Frieden.

Die »Studentenbewegung«

Das Jahr 1968 sollte für den 60-Jährigen Gollwitzer zu einem »zweiten Frühling« werden. Er solidarisierte sich als einer von wenigen deutschen Professor*innen mit der Student*innenbewegung. Der rege Austausch bekräftigte Golli, wie er liebevoll genannt wurde, in seinem Weg. Er begegnete der rebellischen Jugend im offenen Gespräch und mit kritischer Solidarität. Letztlich überzeugte ihn der Internationalismus, dem sich die Studierenden in ihren Forderungen stets verschrieben hatten. Er sah darin das säkulare Pendant der kirchlich-ökumenischen Bewegung.

Gollwitzer diskutierte in Folge öffentlich mit Politiker*innen und nahm nahezu jede Woche an Demonstrationen und selbst Hausbesetzungen teil. Dabei griff er Politik und Kirche bezüglich des Vietnamkriegs scharf an: »Darum fragen wir die Kirchen und Christen in Deutschland, wie lange sie noch, zum großen Teil wenigstens, meinen, christliche Kirche und zugleich stumme Hunde sein zu können?« Gollwitzer öffnete sein Haus für Debattierrunden und schließlich lebte Rudi Dutschke einige Zeit mit seiner Familie bei den Gollwitzers. Rudi und Helmut waren in guter Freundschaft verbunden, die aber auch von hitzigen Diskussionen begleitet wurde. Gollwitzer hielt 1979 auch Dutschkes Grabrede, nachdem dieser an den Spätfolgen eines 1968 auf ihn verübten Attentats verstorben war.

Seelsorger und Grabredner der RAF

Nahezu berüchtigt wurde Gollwitzer einige Jahre später als Gefängnisseelsorger von Gudrun Ensslin und Ulrike Meinhof. Beide waren aufgrund ihrer Aktivitäten in der »Roten Armee Fraktion« inhaftiert worden. Gollwitzer erntete Kritik und verbale Attacken von allen politischen Fraktionen, obwohl er sich stets von der Gewalt der RAF distanzierte, diese sogar öffentlich scharf verurteilte. Gudrun Ensslin beschimpfte ihn in Folge als »Staatspfaffen«, während Politik und Medien ihn als Terror-Sympathisanten bezeichneten. Doch Gollwitzer sah es als seine Pflicht und seelsorgerliche Aufgabe, allen – gerade auch den Fehlgeleiteten – beizustehen. Ulrike Meinhof – die Terroristin – beerdigte er daher nach ihrem Selbstmord ebenso, wie zwei Monate zuvor seinen Freund Gustav Heinemann – den ehemaligen Bundespräsidenten. Krasser hätten die Gegensätze nicht sein können. Gollwitzer war stets ein Vermittler geblieben.

Kapitalismus und Revolution

Gollwitzer sah den Kapitalismus bereits 1986 in Ermangelung an Weltressourcen langsam an sein Ende schreiten. Internationalität und Welthunger waren ihm zu wichtigen Anliegen geworden. »Sind wir aber durch das Abendmahl eine Gemeinde, dann ist das Elend verhungernder Christen in anderen Weltteilen ein Elend mitten unter uns.«

Die Entlarvung des »Klassenkampfes von oben« war für Gollwitzer sowohl Erkenntnis der momentanen Wirklichkeit als auch ein erster Schritt zur Befreiung daraus. Doch die Kirche sei Teil dieses Systems. Die Probleme der Macht und des Staates seien im Moment des ersten christlichen Kaisers auch Probleme der Kirche geworden. Sie habe in diesem Augenblick ihr revolutionäres Potenzial vergessen. Dem ausufernden Kapitalismus könne daher nur eine Theologie gegenüberstehen, die »Theologie der Revolution« sei. Veranschaulicht würde dies an der Botschaft des hereinbrechenden »Reiches Gottes«. Dies sei Zentrum der Verkündigung Jesu, der den Hörenden die Freiheit zur Umkehr und zu einem neuen Leben ermöglicht. Aus Gollwitzers Sicht war damit sogar der junge Marx dem Evangelium getreu, wenn er als Ziel definierte, »alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist«.

Anhaltende Aktualität

Heute ist Helmut Gollwitzer ein nahezu Unbekannter. Nach seinem Tod 1993 wurde er nur mehr selten publiziert. Obwohl er stets kritisch geblieben war, verschwanden nach dem Ende des sogenannten Realen Sozialismus auch seine Werke. Zu Unrecht, denn sein Aufruf an die Christenheit, sich einzumischen, sollte nicht verhallen. In Zeiten von Weltwirtschaftskrisen, Globalisierung, ausuferndem Kapitalismus, Krieg und Klimakrise sind sein Solidaritätsdenken sowie seine Ideen zur Befreiung durch den Marxismus und das Reich Gottes aktueller denn je.

Stefan Haider ist evangelischer Theologe in Wien. Er verfasste seine Masterarbeit zu ausgewählten Religiösen Sozialisten und arbeitet nun an seiner Dissertation.

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Gelesen 1612 mal Letzte Änderung am Mittwoch, 14 Dezember 2022 15:09
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