Robert Sommers Meisterwerk hält nicht nur den Vergleich mit Ulysses von James Joyce aus. Eine Rezension von Peter Karl Fleissner
Nun liegt der Quader vor mir, anderthalb Kilo schwer, mit den Abmessungen 210 x 114 x 45 mm, bestehend aus 833 bedruckten Seiten, davon 114 Seiten Farbbilder (die allerdings unter zu geringer Auflösung leiden): das neueste BLEND WERK von Robert Sommer, 25 Euro billig, gedruckt in Budapest, erschienen zur rechten Zeit in Favoriten, 2021. Als Naturwissenschaftler und Techniker im (Un)ruhestand habe ich vorschnell zugesagt, diesen umfangreichen Text zu rezensieren, ohne zu ahnen, worauf ich mich da eingelassen habe. Meine Wunschvorstellung war, die Rezension als Urlaubszeitvertreib wie einen Krimi genüsslich am Meeresstrand zu lesen, aber dazu war das Buch zu schwer und die digitale Variante im Sonnenlicht am Laptop zu dunkel. Erst nach der Rückkehr an meinen Schreibtisch kam mir nach und nach zu Bewusstsein, welches Meisterwerk auf mich wartete.
Zunächst Formales: Der Text ist streng in kurze Abschnitte von genau zwei Druckseiten gegliedert, jede Doppelseite trägt links oben eine Überschrift in fetten Großbuchstaben. Öffnet man das Buch auf einer beliebigen Seite, wird der vollständige Abschnitt mit seiner spezifischen Thematik sichtbar. Die Übersichtlichkeit verliert sich aber bald, denn die Überschriften sind, wenn gleichlautend, mit römischen oder arabischen Ziffern durchnummeriert. Die jeweilige Variation unterscheidet sich manchmal kaum, manchmal aber deutlich, von ihrer Vorläuferversion. Solche Eigenschaften sind nur äußerliche Vorboten für den noch ungewöhnlicheren Inhalt.
Je mehr ich las, desto mehr staunte ich. Ich ließ meiner Phantasie freien Lauf, um ein Gleichnis für dieses Werk zu finden. Mein prosaisches Ergebnis: eine Grottenbahn aus dem Prater. Auch dort werden die neugierigen Passagiere von Halt zu Halt geführt, wobei genügend Zeit bleibt, das kaleidoskopartige Bild, das sich den BetrachterInnen bietet, genau unter die Lupe zu nehmen und die Eindrücke wirken zu lassen. Dann und wann drängt sich der Gedanke auf: Stopp, da war ich doch schon einmal. Und tatsächlich: die elektronische Suche verrät Wiederholungen, Doubletten, ab und zu sogar Tripletten. Ist das ein Fehler, der dem Autor unterlaufen ist? Nein, nein, er macht selbst darauf aufmerksam. Auf Seite 278 lese ich: »Dein Deutschlehrer hat dir sicherlich eingetrichtert, beim Schreiben nicht redundant zu sein. In meinen Texten herrscht nur scheinbar Redundanz. Die vermeintlichen Wiederholungen stehen jeweils in anderen Zusammenhängen, und es sind nie identische Aussagen. Falls vermeintliche Dubletten vom Leser, von der Leserin wahrgenommen werden, wird es sie amüsieren, sie zu vergleichen und die Nichtübereinstimmungen zu analysieren und zu deuten. Wer entdeckt, dass eine Idee, eine Situation, eine Erzählung, ein Zitat usw. gleich dreimal in dieser Sammlung vorkommt, sollte nicht die alzheimerische Vergesslichkeit des Autors ins Treffen führen. Wer eine Triplette entdeckt, sollte den Fokus auf die existierenden, vielsagenden Unterschiede des angeblich Gleichen richten. Dass sich der Autor bei den EntdeckerInnen von Tripletten erkenntlich zeigen wird, ist anstandsgemäß.«
Jede Grotte, zu der uns der Autor bringt, birgt eine neue Welt von Gedanken, die von Thema zu Thema hüpfen und mir literarische, musikalische, politische und philosophische Einsichten und Entdeckungen vermitteln, auf den verschiedensten Ebenen. Da finde ich fremde und Sommer’sche dadaistische Lyrik neben topopoetischen Passagen (eine nach Klang und Rhythmus geordnete Aneinanderreihung von geographischen Bezeichnungen oder der Mitglieder von Fußballmannschaften, die eigentlich immer laut gelesen oder gesungen werden müssten), aber auch guten Witzen, kurz und knapp präsentiert. Die vielen biographischen Details des Autors verraten eine anarchistische Lebensführung links von der Mitte (eine seiner E-Mail-Adressen trägt sogar das Pseudonym Pierre Ramus, hinter dem sich schon vor vielen Jahrzehnten Rudolf Großmann, der berühmteste österreichische Anarchist und Pazifist, versteckte). Immer wieder fragt Sommer nach den besten Wegen zu einem guten Leben und gibt seine als vorläufig dargestellten Antworten. Dabei ist er von einer entwaffnenden Ehrlichkeit, die an Selbstverleugnung grenzt, und meine eigene Lebenshaltung in Frage stellt. Sommer lässt seine Zeit als KPÖ-Mitglied nicht aus, ja, er dokumentiert sie sogar im Bildteil, und grenzt sich bis heute von bürokratischen und manchen ideologischen Zügen der KPÖ ab.
Die Reise mit der Grottenbahn ist gleichzeitig eine Kulturgeschichte der Linken und fortschrittlichen Intellektuellen in Österreich (und darüber hinaus). Immer wieder nimmt der Autor Bezug auf zeitgenössische Ereignisse auf der politischen Landkarte. Beinahe auf jeder Doppelseite begegne ich Menschen in Form von Zitaten, die Robert Sommer treffsicher auswählt. In manchen Fällen waren mir die Personen unbekannt, aber meine Recherche im Internet zeigte mir ihre hochinteressanten, oft auch prekären Biografien, oder erlaubte mir den Zugang zu ihren Musikstücken.
Ich denke, dass das Werk durchaus den Vergleich mit dem Ulysses von James Joyce aushält (nicht nur wegen des Umfangs: die Ausgabe des Anaconda Verlags von 2014 hat »nur« 832 Seiten), wobei ich Robert Sommer wegen seiner starken gesellschaftlichen Bezüge zur Gegenwart vorziehe. Denn es geht ihm nicht nur um persönliche Befindlichkeiten und eigene Gedankenwelten, sondern immer auch um das soziale Ganze, mit dem er sich in künstlerischer und intellektueller Form und auch in konkreten Institutionen auseinandersetzt. Wichtige Koordinaten bilden die erfolgreiche Zeitschrift Augustin, die von Menschen mit Armutserfahrung auf den Straßen Wiens und im Wiener Umland verkauft wird, der Aktionsradius Augarten und das »Institut ohne direkte Eigenschaften« vulgo Perinetkeller. Für sie und für zig weitere Projekte ist er Mitgründer, Akteur und Ideengeber. Darunter politisch brauchbare Vorschläge für die Gestaltung von Städten oder für die intelligente Einführung von Commons im privaten Wohnbau.
Wenn ein Vergleich mit der Welt der Bilder gestattet ist: Robert Sommer hat durchaus das Zeug, zum Egon Schiele der österreichischen Literatur zu werden. Wie Schiele blickt er immer genau hin, nicht nur auf das Gefällige, sondern auch auf das Problematische und Widersprüchliche, skizziert es mit präziser intellektueller Feder, immer mit Zuwendung, Engagement, Humor und mit Augen AUS DER HERZ GEGEND.
Robert Sommer: ICH KOMM AUS DER HERZ GEGEND MEINE MUTTERSPRACHE IST DAS HERZKLOPFEN. EIN BLEND WERK. Wien 2021, 833 Seiten, 25 Euro
------
EIN BLEND WERK von Robert Sommer, in vier Teil-Präsentationen vorgestellt. Schauspielerinnen lesen aus dem Buch.
➜Volks stimmefest
Samstag, 12 u. 24 Uhr
Sonntag, 12 u. 24 Uhr Frauenpunkt unter den schattigsten Bäumen des Volksstimmefestes.