Ein kleiner Exkurs in das Gebiet der notwendigen Reflexion im Verkehrswesen von Hermann Knoflacher
Evaluierung und Hausverstand wurden zwei geflügelte Worte der jüngsten österreichischen Innenpolitik. Die Ankündigung einer Evaluation von Projekten der ASFINAG (Autobahn- und Schnellstraßen-Finanzierungsgesellschaft) durch die Umwelt- und Verkehrsministerin Leonore Gewessler ist ein durch die Bundesverfassung Österreichs verlangtes Verfahren bei Verwendung öffentlicher Mittel, das man bisher verfassungswidrig bei Großprojekten »übersehen« hat.
Warum das bei Landespolitiker*innen und auch auf Bundesebene zu unerklärlich schnellen und heftigen Abwehrreaktionen, vergleichbar mit unseren lebenserhaltenden Instinkten und auch ratiomorphen, vernunftähnlichen Verhaltensmechanismen geführt hat, wie sie Konrad Lorenz beschrieben hat, die beim Auftreten plötzlicher Gefahren abgerufen werden, ist verwunderlich. Eigentlich wäre ein uneingeschränktes Lob für diese Entscheidung zu erwarten, würde für und nicht gegen die Bürger*innen regiert. Die bewusste Reflexion kommt immer zu spät, wenn überhaupt, wenn man Macht hat. Früher ein Überlebensrisiko, liefert heute dieses Verhalten möglicherweise Einblicke in sonst verborgene Gebiete und Vorgänge.
Dass die Evaluierung von Verkehrsprojekten in der Politik zu heftigen Reaktionen führt, erlebte der Verfasser als Berater des Verkehrsministers Karl Lausecker Ende der 1970er Jahre. Auf Beamtenebene wurde damals ein Vertrag zwischen der Stadt Wien und dem Ministerium für die Finanzierung eines »Zweisystemfahrzeuges«, also Gleich- und Wechselstrom, zwischen dem Flughafen Wien und der UNO-City ausgearbeitet. Dem verfassungstreuen und -kundigen Minister kamen aber im letzten Augenblick Bedenken, ob dieses Projekt politisch verantwortet werden könne. Zur ungewohnten Stunde kurz vor Mitternacht rief er mich an, um meine fachliche Meinung einzuholen, weil am nächsten Tag der Vertrag unterzeichnet werden sollte. Ohne hier auf die Details einzugehen, erwiesen sich die Behauptungen der Betreiber in mehrfacher Hinsicht als falsch und auf mehreren sachlichen Ebenen widerlegbar, was dem Minister nachvollziehbar erschien. Die Delegation der Stadt musste daher am nächsten Tag sowohl mit dem eingekühlten Sekt wie auch mit dem nicht unterzeichneten Vertrag wieder »abziehen«, wie es der Minister später ausdrückte. Für mich kam die Reaktion auf diese Evaluation allerdings sofort und ziemlich intensiv durch einen Telefonanruf mit einer Heftigkeit, die ich nur durch einen großen Abstand zum Telefonhörer auf Zimmerlautstärke reduzieren konnte.
Evaluation, obwohl verfassungsmäßig verlangt, scheint in der österreichischen Politik immer noch ein Reizwort oder so ungewohnt zu sein, dass man auf diese bei Straßenprojekten, selbst in gefährlicher Nähe zur Schweiz, so heftig reagiert wie in Wien und der Bundeskanzler mit dem Hausverstand droht. Dem soll hier nachgegangen werden.
»Der Hausverstand ist der Verstand, den man ›von Haus aus‹ besitzt, das heißt also, der Verstand, der jemandem angeboren ist.« Dieser geht zu Fuß und passt in die Welt, wie sie für unsere Vorfahren vor rund 200.000 Jahren war und uns bis heute überleben ließ. Auf die von uns selbst erzeugte künstliche Welt ist er evolutionär nicht vorbereitet, weiß die Evolutionsforschung. Der Hausverstand findet sich vor allem im Kopf und ist auf die Informationen der äußeren und inneren Sinne angewiesen. In Bezug auf die räumliche Mobilität ist er für eine Mobilitätsenergie von 0,1 bis 0,2 PS ausgestattet und sicher nicht für 100 PS oder mehr. Aber selbst der aufrechte Gang muss erlernt werden, was Jahre an manchmal schmerzhafter Erfahrung braucht. Die »Mittlere Reife«, ein Bildungsabschluss in Deutschland, kann im Regelfall am Ende der 10. Klasse einer allgemeinbildenden Schule erworben werden und vermittelt einen Eindruck, wie lange es dauert, bis er zur vollen Reife kommen könnte. Im Mittel sind es rund zwei Jahrzehnte, und der Mittelwert bedeutet, dass eine Hälfte noch entwicklungsfähig ist. Dabei entwickelt sich der Hausverstand heute zum Unterschied von früher in geschützten Räumen und wird durch die Sozialisierung, die Kultur, die Gesetze und entsprechende Sanktionen vor Abweichungen und gefährlichen Abwegen bewahrt. Was auch nicht immer gelingt.
Mit diesem evolutionären Hausverstand soll am Beispiel A23 und Lobautunnel eine elementare Evaluation vorgenommen werden. Die A23 ist die auf einer Länge von 10 km am stärksten belastete die Donau querende Autobahn in Wien, und der Lobautunnel ist Teil einer parallelen Autobahn, bezeichnet als Schnellstraße S1, der mit 8,6 km Länge unter einem empfindlichen Teil des Nationalparks Donau Auen verlaufen soll. Gut für die Tunnelbauer, weniger gut für die Umwelt.
Das Verfahren ist schon ziemlich weit fortgeschritten. Eine interessante Formulierung, die mit dem Hausverstand entschlüsselt bedeutet, dass man sich verfahren hat und nun fortschreiten muss. Nicht unrealistisch und glücklich in der Realität, wenn dabei noch kein Schaden verursacht wurde. Fachmeinung und Kenntnis der komplexen Wirkungen technischer Verkehrssysteme bleiben außen vor, wenn man nur den Hausverstand zu bemühen braucht, wie es der Bundkanzler und manche Landeshauptleute meinen.
Straßen dienen bekanntlich der räumlichen Mobilität von Menschen und dem Transport von Waren. Warum die Betonung auf »räumliche Mobilität«? Weil der Mensch auch über die geistige verfügt, und diese in engem Zusammenhang mit der räumlichen steht, wie es die Erfahrung des Volkes weiß: »Wer es nicht im Kopf hat, muss es in den Beinen haben«. Damit kommt der Hausverstand ins Spiel: die Einheit, sieht man vom Gütertransport ab, ist der Mensch und nicht die Verpackung, etwa Autos. Diese sind aber die Maßeinheit traditioneller Verkehrs-, Raum- und Stadtplaner*innen. Das Thema würde aber in dem Zusammenhang zu weit führen und auch über den Hausverstand hinaus.
Auf der A23 werden durchschnittlich (lt. Deutschem Tourismusverband) auf den acht Fahrstreifen des erwähnten Abschnittes täglich rund 190.000 Fahrzeuge gezählt, 6 Prozent davon sind Fahrzeuge mit mehr als 3,5 Tonnen, so genannter Schwerverkehr. Der Besetzungsgrad liegt unter 1,2 Personen je Pkw. Die meisten Pkws sind aber mit fünf Sitzplätzen ausgestattet, die, folgt man dem »Hausverstand der Wirtschaft«, der die Effizienz hochhält, sinnvollerweise auch auszulasten sind. Oder begnügen sich die Manager*innen, die heftig den Ausbau der S1 verlangen, mit weniger als 25 Prozent Auslastung beim Personal oder der Fabrikation? Wenn man den Besetzungsgrad verdoppelt, also im Mittel 2,4 Personen je Pkw annimmt, ist die Hälfte des Autoverkehrs weg und der »Stau« in weiter Ferne, da es ja keinen Stauzwang gibt. Dabei ist diese Überlegung nicht neu, sondern eine Empfehlung, die ich 1976, im August vom Urlaub zurückgeholt, als Sofortmaßnahme empfahl, nachdem die Reichsbrücke plötzlich eingestürzt war. Die Wiener Autofahrer*innen waren in wenigen Tagen so clever, dass sie bei Fahrten über die Donau den Besetzungsgrad ihrer Pkw von 1,17 auf 1,82 Personen erhöhten und damit das aktuelle Verkehrsproblem lösten, bis die Ersatzbrücke in Betrieb genommen wurde. Dann fielen sie wieder auf die alte Gewohnheit zurück. Donauquerende U-Bahnen gab es damals noch nicht. Und damit kommt der Hausverstand auf die Frage nach dem individuellen Komfort im Stadtverkehr von Wien.
Jedem Menschen in Wien und allen, die in die Stadt kommen, stehen heute neben dem Auto auch öffentliche Verkehrsmittel wie die Eisenbahn, U- und Straßenbahnen zur Verfügung, die meist pünktlich und sehr bil lig benutzt werden können. Natürlich auch die Formen der aktiven Mobilität. Vergleichen wir den individuellen Komfort anhand der Verfügbarkeit von Sitzplätzen, dann hat auch bei vollem Pkw jeder einen Sitzplatz. Bei vollen U- und Straßenbahnen sind es aber nur rund 30 Prozent. Bei dem heutigen Besetzungsgrad, der auch in der Spitzenzeit nur unter 1,2 Personen je Pkw liegt, hat diese Verkehrsart um über 90 Prozent mehr an individuellem Komfort als die Öffi-Benutzer*innen. Das kann man nun noch in verschiedenen Richtungen deklinieren, für die es Indikatoren gibt, wie Flächenverbrauch, Versiegelung, Risiko, Treibhausgase usw. Die Kluft wird nur noch größer, sagt der Hausverstand, der zumindest die Grundrechenarten und elementare Logik kennt.
Auch in Vorarlberg zeigen die Daten der ASFINAG Werte, die bei 50 Prozent der A23 liegen. Sie können den gleichen elementaren Überlegungen folgend rational reflektiert werden. Ob das auch für die Schweiz gilt, in der auch Autobahnplaner*innen unterwegs sind, die sich aber in der Finanzierung der Projekte grundlegend von Österreich unterscheidet? Sie finanziert die Fahrbahnen aus dem Geld, das sie hat. Österreich finanziert diese und andere Projekte aber aus dem Geld, das das Land nicht hat, sondern macht Schulden in Form von Krediten. Wie sagen das aber die Projektbetreiber*innen so schön: »Kredite sind nicht budgetrelevant«. Das weiß aber sogar der Hausverstand, dass das nicht stimmt, wenn er*sie jemals einen Kredit aufgenommen hat. Vielleicht liegt die Lösung dieses Widerspruches darin, dass es nicht das eigene Geld ist? Oder ist das auch zu kurz gedacht?
Selbst der so genannte Regionenring wird bemüht, eine bei Projektbetreiber*innen beliebte Methode der Suggestion, wie schon bei absurden Bahntunneln, für die man die »Baltisch-Adriatische Achse« oder für die Autobahn durch das Waldviertel die »Europaspange« erfunden hat. In diesem Regionenring ergibt der Lobautunnel nur dann einen Sinn, wenn man die A22 und A23 aus dem Netz nimmt und die Flächen renaturiert oder städtebaulich nutzt. Darauf kommt der Hausverstand, wenn er sich den Regionenring auf der Karte anschaut. Und dazu braucht man kein*e Verkehrs expert*in zu sein. Es ist aber anzunehmen, dass es in Österreich derzeit keine Politiker*innen gibt, die das umsetzen könnten. Also ergibt sich für den Lobautunnel keine sinnvolle Erklärung. Interessant wird daher, was wohl die wahren Hintergründe für sinnlose Großprojekte sein könnten.
Im Header: Links:eine Karte zu dem Regionenring und (rechts) die suggestive Grafik der Betreiber dazu.
Hermann Knoflacher ist emeritierter Professor an der Technischen Universität Wien. Lange Zeit zählte er zu den umstrittensten Verkehrsplanern Österreich, heute ist er als einer der kreativsten Vertreter seines Fachs auch über die Grenzen seines Landes anerkannt. Er gilt als geistiger Vater des Konzepts einer weitgehend autofreien Wiener Innenstadt.