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»Keine Chance« gab der damalige Bürgermeister Franz Dobusch (SPÖ) der KPÖ bei der Gemeinderatswahl 2009. Mit dieser Aussage nach dem Wahlerfolg der KPÖ konfrontiert, meinte Dobusch dann aber, nicht damit gerechnet zu haben, dass seine SPÖ »so viel verlieren würde«. Die KPÖ ist seit zehn Jahren wieder im Linzer Gemeinderat vertreten.

Von LEO FURTLEHNER

Der Wiedereinzug der KPÖ in den Lin­zer Gemeinderat nach 18 Jahren beruhte freilich vor allem auf politischer Beharrlichkeit. Hatte doch die KPÖ auch nach dem Mandatsverlust von 1991 stets kommunalpolitisch Flagge gezeigt und bereits 2003 das Mandat nur ganz knapp um 33 Stimmen verfehlt.

2009 war die KPÖ mit dem Motto »Wir versprechen nichts als Widerspruch und lästige Fragen im Gemeinderat« angetre­ten. In diesem Sinne führte die KPÖ-Ver­tretung zu einer Belebung des Stadtparla­ments, und Gemeinderätin Gerlinde Grünn zeigt seit nunmehr zehn Jahren, dass eine fortschrittliche linke Stimme wichtig ist.

Das führte 2015 zu einem deutlichen Stimmenzuwachs, wenngleich das zweite Mandat und damit Fraktionsstatus nicht erreicht wurden. Jedenfalls wäre die KPÖ aber auch bei einer wiederholt ventilier­ten Verkleinerung des Gemeinderates weiterhin im Stadtparlament vertreten.

Soziales Gewissen

Mit dem Verlust der absoluten SPÖ-Mehr­heit veränderte sich 2009 freilich auch die Linzer Stadtpolitik. Maßgeblich dazu beigetragen hat, dass kurz nach dieser Wahl die Swap-Spekulation platzte und Linz den Nimbus einer reichen Stadt verlor. Mit dem Erstarken der FPÖ mussten zudem dieser Zugeständnisse gemacht werden, so etwa die Stadtwache unter der Ägide des mittlerweile unter schmähli­chen Umständen verschwundenen Stadt­rates und ab 2015 Vizebürgermeisters Detlef Wimmer.

Setzte Bürgermeister Dobusch anfäng­lich noch auf eine Kooperation mit den Grünen, so änderte sich das unter seinem Nachfolger Klaus Luger, der nach seiner Wahl als Stadtoberhaupt 2013 immer offe­ner auf eine rot-blaue Koalition setzte. Diese mündete 2015 sogar ganz offiziell in einen Koalitionspakt, der nach den Ibiza-Turbulenzen im Mai 2019 und sich seit Jahren verstärkter Kritik allerdings for­mell aufgekündigt werden musste.

Mit nur einem Mandat hat eine Partei keinen Fraktionsstatus und daher nur beschränkte Möglichkeiten. So benötigt KPÖ-Gemeinderätin Grünn für Anträge die Unterschrift von Mandatar_innen anderer Fraktionen, wobei sich nach der Wahl 2015 eine partielle Kooperation zwi­schen KPÖ, Grünen und NEOS herausge­bildet hat, die vermehrt auch in gemein­same Anträge mündet.

Laut Statut haben nur Fraktionen eine Vertretung in den neun Ausschüssen, zumindest aber wurde der KPÖ seit 2009 zugestanden, an Ausschusssitzungen ohne Stimmrecht teilzunehmen. Auch die »Aktuelle Stunde« ist laut Statut den Fraktionen vorbehalten, die KPÖ kann sich dazu höchstens schriftlich äußern. Parlamentarische Hauptinstrumente der KPÖ sind daher Anfragen und Stellung­nahmen.

Dabei kann die KPÖ im Rückblick auf die mittlerweile zehnjährige Vertretung im Gemeinderat auf einen gewissen Weitblick in oft wesentlichen Fragen verweisen. Etwa dass Gemeinderätin Grünn bereits 2011 mit einer Anfrage die zunehmend brisante Thematik der Donau-Kreuzfahrt­schiffe aufgerollt hat oder ebenfalls bereits 2011 der geplanten Ostumfahrung eine klare Absage erteilt hatte, als sogar die Grünen noch einer entsprechenden FPÖ-Resolution zugestimmt hatten.

Vor allem aber nimmt die KPÖ die Funktion eines »sozialen Gewissens« im Linzer Stadtparlament wahr, ein Thema, das der studierten Historikerin, aber jah­relang als Sozialpädagogin tätigen Gemeinderätin Gerlinde Grünn ein Her­zensanliegen ist. Insbesondere ihre Bei­träge bei der jährlichen Budgetdebatte im Dezember haben daher einen klaren sozi­alpolitischen Schwerpunkt, verbunden mit einer scharfen Kritik an der Bereit­schaft der Sozialdemokratie, sich den neoliberalen Dogmen zu unterwerfen. Ein wichtiger Erfolg gelang etwa, als 2019 der KPÖ-Antrag für einen Kautionsfonds nach Grazer Muster (bei Stimmenthaltung der ÖVP) angenommen wurde und 2020 reali­siert werden soll.

Superrot und aktiv

Alleinstellungsmerkmale konnte die KPÖ zudem mit mehreren Kampagnen erzie­len. So konnte zwar 2010 die von der KPÖ initiierte überparteiliche Plattform »Linz braucht keine Stadtwache« die Aufstel­lung dieser Repressionstruppe nicht ver­hindern, erreichte aber, dass die Öffent­lichkeit stets ein scharfes Auge auf die von der Stadtpolitik als »Ordnungsdienst« verniedlichte Einrichtung hat.

Insbesondere die 2016 gestartete Kam­pagne »Aktivpass, bleib wie du bist« ist auch in der Öffentlichkeit mit der KPÖ verbunden und verhinderte bis dato weit­gehend die von der FPÖ wiederholt for­cierten massiven Einschnitte bei dieser wichtigen sozialen Einrichtung. Ebenso konnte sich die KPÖ mit ihrer Kampagne für die Freifahrt 2012 nachhaltig einen Namen machen.

Auch gilt für die KPÖ die Losung »Damit man draußen weiß, was drinnen vorgeht« und umgekehrt. Daher setzt sie auf gute Kontakte zu Initiativen und Bürger_ innen, die sich kritisch mit der Stadtent­wicklung auseinandersetzen sowie gezielte Information. Mit dem seit 2010 erscheinenden »Superroten Infoblatt«, mittlerweile in 27 Ausgaben, informiert die KPÖ regelmäßig eine breitere Öffent­lichkeit.

Im Kommunalprogramm der Linzer KPÖ wird festgestellt, dass die »Bürgerinnen den Sachzwängen einer neoliberalen Standortpolitik ausgeliefert« sind und die Standortpolitik die »Unterwerfung aller Belange des Lebens in Linz unter die Erfordernisse der wirtschaftlichen Ver­wertbarkeit« bedeutet. Als Resümee gilt, dass auch im Gemeinderat »dieser neoli­beralen Zurichtung der Stadt mit der nötigen Vehemenz« entgegengetreten werden muss.

Weil eine kommunale Vertretung hohe Anforderungen stellt, wird die Gemeinde­rätin durch einen kommunalpolitischen Arbeitskreis unterstützt und findet vor jeder Gemeinderatssitzung eine »Schnat­terrunde« statt. Einmal jährlich wird bei einer Klausur bilanziert und werden Vor­schläge für das Zusammenwirken von Gemeinderatsvertretung und Parteiorga­nisation diskutiert. Und als neue Formate gibt es seit 2017 das »Café Kommunal« als öffentlichen Bericht über die Aktivitäten im Gemeinderat und seit 2018 Stadtteil­rundgänge, um vor Ort kommunalen The­men auf die Spur zu kommen.

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ZUR DEBATTE UM DIE NOBELPREISVERLEIHUNG

Vorweg: Die kollektive Zielperson der inneren und äußeren Aggression gegen Jugoslawien war nicht nur der Selbstverwal­tungssozialismus dieses Staates mit allen sei­nen inneren Beschränkungen und Entwick­lungsmöglichkeiten, sondern auch eine im Krieg gegen die Nazis und ihre Kollabora­teure errungene, für diese Balkanregion his­torisch einmalige friedenspolitische, natio­nal eingehegtes Denken überschreitende Konstruktion – mit allen ihren Beschränkun­gen und Entwicklungsmöglichkeiten. Den jugoslawischen Staat zu zerstören hieß, diese Konstruktion zu zerstören, und mit ihr die darin eingebundene Wirtschaft und Alltags­kultur (Tuđman selbst formulierte messer­scharf bezüglich Bosnien, dieses sei das Jugo­slawien im Kleinen, und könnte nur im Staat Jugoslawien existieren – was zu beweisen war) und damit einen materiell und seelisch verwüsteten Raum zu schaffen, viele zu töten, um Platz zu machen für die Untoten aus dem Krieg der Vergangenheit, die smar­ten Businessmen-Patrioten und ihresglei­chen bzw. Paten in den Konzernen, Banken und Militärs mit europäischem, US-amerika­nischem und anderem Migrationshinter­grund.

Die meisten, bzw. wenn ich mich richtig erinnere, so gut wie alle deutschen und österreichischen Mainstream-Medien haben bereits zur Zeit der sich anbahnenden Sezes­sionskriege Jugoslawien ausschließlich als Diskurs über seine Auflösung bzw. unter der Überschrift des Rechts auf nationale, sprich staatliche Selbstbestimmung(en) geführt; dass dieses bzw. diese unter jugoslawischen Umständen der vielfältigen Verflechtungen nur in einem jugoslawischen Konsens fried­lich umzusetzen wären, dafür waren ihre Propagandisten nicht nur blind, sondern wollten es sein – und ignorierten, missachte­ten, dass es in allen Teilen Jugoslawiens Menschen gab, die sich gegen den Wider­stand der nationalistischen Medien und Lautsprecher für das Recht auf Zusammenle­ben der Nationalitäten engagierten (nicht nur verbal, denn es wurde praktiziert – ökonomisch, familiär, zwischen den Geschlechtern, kulturell). Im Fahrwasser der Zerschlagungspropaganda tummelten sich so ziemlich alle, die glaubten, auch ein weltpolitisches Wörtchen mitreden zu müssen. Halbtaube Monarchen wurden wieder hellhörig, deutschen und österrei­chischen Soldatengeistern dämmerte ein später Sinn in ihrem einstigen Herumwil­dern am Balkan, manche ihrer Söhne und Töchter waren plötzlich geneigt, ihnen im Nachhinein des Zweiten Weltkriegs die Absolution zu erteilen, der öster reich i ­sche Mock, die deutschen Bürgerlichen sowie Grünen usw. machten die Sezessions bestrebungen zu ihren eigenen, unzählige Experten & Expertinnen bemühten sich in Schichtarbeit, unter Zuhilfenahme ausgefeilter ethno-archäo­logischer Instrumente auseinanderzu ­dividieren, was sich an Zusammenleben in Jugoslawien entwickelt hatte – bis hin zur genialen Festlegung nicht nur im Uni-Betrieb, statt von serbokroatischer Spra­che von Kroatisch, Serbisch, Bosnisch und – wenn man schon dabei ist – von Monte­negrinisch zu sprechen. Alles hinlänglich bekannt, auch die jämmerliche Beflissen­heit deutscher und österreichischer Ex-Diplomaten sowie Volksgruppen-Exper­ten und Expertinnen, die den ex-jugosla­wischen Menschen mithilfe von EU-Pro­jekten beibringen wollen, wie denn das geht, gleichberechtigtes Zusammenleben und gegenseitige Akzeptanz und so. Und für die Lautesten in dieser ideologischen und politischen Gemengelage war und ist bis auf den heutigen Tag eines klar: die Schuld »der Serben« bzw. ihrer Repräsentanten am Zerfall Jugoslawiens (zu dessen Zerstörung man soeben Beihilfe leistete) und an allem, was dem folgen sollte.

Handke hat in seiner Kärntner Umge­bung, in seiner Familie, das Slowenische, und dasselbe im Jugoslawischen entdeckt (oder war es umgekehrt?). Als das Jugosla­wische zerbrach, solidarisierte er sich in einer Art Gegenläufigkeit oder weiß der Teufel, vielleicht aus Trotz mit der serbi­schen Seite, die formell noch längere Zeit »Jugoslawien« repräsentierte – aber es mit Milošević nicht mehr war.

Als Handke dann »Eine winterliche Reise zu den Flüssen Donau, Save, Morawa und Drina« antrat, ging es ihm um »Gerechtig­keit für Serbien«, und zwar »... gegen die Rotten der Fernfuchtler, welche ihren Schreiberberuf mit dem eines Richters oder gar mit der Rolle eines Demagogen ver­wechseln und, über die Jahre immer in die­selbe Wort- und Bildkerbe dreschend, von ihrem Auslandshochsitz aus auf ihre Weise genauso arge Kriegshunde sind wie jene im Kampfgebiet.«

Das hat vielen der hiesigen Schreiber gereicht, um über ihn herzufallen. Dann wurde & wird ihm noch Sympathie für das Massaker in Srebrenica unterstellt, das er zwar als monströses Verbrechen bezeich­net hat, aber egal, hier ging bzw. geht es um Rache an einem Unbotmäßigen. Handke hat die Weltsicht der Transatlantiker und der in Sachen »nationaler Selbstbestim­mung« im Osten und Süden Europas schon aus historischen Gründen unglaublich qua­lifizierten, am Leid anderer geprüften österreichischen und deutschen Politik und ihrer krausen Journaille konterkariert. Das nehmen ihm die Gemeinten übel. Differen­zierungen, Kontextualisierung und Nach­denklichkeit? Keine Spur. Obwohl heute die Verwobenheit des jugoslawisch-internen Desasters mit dem europäisch verkleideten deutschen & österreichischen Revanchis­mus sowie transkontinentalen Interessen jedem, der hinschaut, erkennbar ist (so wie die Bomben der NATO als durchschlagen­der Propagandafeldzug für die späteren »humanitären« Kriege in anderen Welt ­regionen).

Handke in der Winterlichen Reise: »Und wird die Geschichte der Zerschlagungs­kriege jetzt nicht vielleicht einmal ziemlich anders geschrieben werden als in den heu­tigen Voraus-Schuldzuweisungen? Aber ist sie durch diese nicht schon längst für alle Zukunft festgeschrieben? Festgeschrieben? Nicht eher starrgestellt?, wie nach 1914, wie nach 1941 – starrgestellt und starrge­zurrt auch im Bewusstsein der jugoslawi­schen Nachbarvölker, Österreichs vor allem und Deutschlands, und so bereit zum nächsten Losbrechen, zum nächsten 1991?«.

Beide Zitate aus: Peter Handke, Eine winterli­che Reise zu den Flüs­sen Donau, Save, Morawa und Drina oder Gerechtigkeit für Ser­bien. Suhrkamp 1996.

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»30 Jahre nach dem Fall der Berliner Mauer ist der Sozialismus nicht nur aus Europa, son­dern aus der gesamten Welt verschwunden. Und mit ihm der Antifaschismus.« Diese düs­tere These stellt Daniela Dahn in ihrem jüngs­ten Buch »Der Schnee von gestern ist die Sint­flut von heute« auf. BÄRBEL DANNEBERG hat es gelesen.

Eigentlich hatte die 1949 in Ostberlin gebo­rene Journalistin Daniela Dahn ihr letztes Buch »Der Schnee von gestern ist die Sintflut von heute« gar nicht geplant. Nach bisher zwölf veröffentlichten Büchern, von denen sich acht mit den Folgen der deutschen Ein­heit beschäftigen, war für die Autorin aber der Zeitpunkt gekommen, noch einmal genauer die Geschichte der »feindlichen Übernahme« der DDR und das Erbe dieser Wiedervereini­gung anzuschauen. Daniela Dahns Überlegun­gen, ausgehend von der deutschen Wiederver­einigung, erstrecken sich über den Zustand und die Machtverhältnisse in der Welt, die durch das Niederbügeln sozialistischer Versu­che ohne Systemkonkurrenz zu einem »Raub­mensch-Kapitalismus« mutierten, der keine Fesseln mehr akzeptieren will. Und somit ist es kein Buch über die DDR, sondern über die 30 Jahre danach. Ihre genauen Beobachtungen und Recherchen erzählen davon, dass der Westen »ohne die Systemkonkurrenz vor lau­ter Gier seinen Halt verloren hat«.

Kampf gegen Terror

Der Untertitel des Buches »Die Einheit – Eine Abrechnung« lässt erahnen, dass Dahn kein Blatt vor den Mund nimmt und dem Zynismus und der Erniedrigung, dem die ostdeutsche Bevölkerung ausgesetzt war und noch immer ist, nicht nur mit faktenreichem Wissen und genauem Quellenstudium begegnet, sondern streckenweise mit Empörung und Sarkasmus. Nicht aber mit Sprachlosigkeit: Der geschichts vergessenen Ignoranz hilft sie mit Details und Insiderwissen aus dem Wiederver­einigungsprozess und der Zeit davor auf die Sprünge und nähert sich so dem Phänomen rechtsextremer Auswüchse der Gegenwart. »Linke gehen mit zivilgesellschaftlicher Blo­ckade von Rechten ein größeres Risiko ein als Rechte mit dem Untergraben der Zivilgesell­schaft. Das ist nicht nur angesichts der offen faschistischen Bedrohung skandalös und ver­langt vom Gesetzgeber, endlich konsequent zu sein: Eine immer wieder abgelehnte, antifa­schistische Klausel gehört ins Grundgesetz!« (116)

Und wie zur Bestätigung dieser Forderung erreicht mich beim Lesen ihres Buches die Realität: Am 9. Oktober, als in Leipzig ein Fest zur Erinnerung an die Demonstrationen vor 30 Jahren gefeiert wurde, hat sich nicht weit ent­fernt davon, in Halle, rechtsextremer Juden­hass gezeigt. An Jom-Kippur, dem jüdischen Feiertag, verübte ein rechtsextremer 27-Jähriger ein Attentat auf die Synagoge, dem zwei Menschen zum Opfer fielen. Der junge Mann gab zu, dass es sich um eine rassisti­sche, antisemitische Tat gehandelt habe, den Bausatz seiner selbstgebauten Waffe habe er sich aus einem 3-D-Drucker für Waffenproduktion besorgt. Wie eine Pro­phezeiung liest sich dann auch Dahns Refle­xion über Waffenungleichheit und Terror­bekämpfung: Nachdem der Westen den islamistischen Terror zu einem weltweit gefürchteten Gegner gemacht hatte, hatten die Terroristen nach dem 11.9. »nicht ein­mal eine kleine, bewaffnete Drohne, wie sie bald jeder 3-D-Drucker auswirft«, im Arse­nal, schreibt sie zu den Anschlägen 9/11 in den USA.

Die »Leipziger Volkszeitung« (Leipzig, 10.10.2019) schrieb zu dem jüngsten Anschlag: »In Halle betreibt die Identitäre Bewegung mitten in der Stadt ein Haus – jene Identitäre Bewegung, die das Bundes­amt für Verfassungsschutz im Sommer als eindeutig rechtsextrem eingestuft hat und die unter anderem Kontakte zu Teilen der AfD unterhält. (...) Die Landesregierung hat die Gefahren von rechts später immer mal wieder unter dem Eindruck des Erstarkens der AfD relativiert – fatalerweise. Was für Halle gilt, gilt für das ganze Land. Die Mili­tanz der rechtsextremistischen Szene wächst. Sie tritt immer unverhohlener auf und sickert teilweise sogar in die Sicher­heitsbehörden ein.«

Historisches Gedächtnis

Wie hat es so weit kommen können in einem Land, dessen Vergangenheit kultu­relle Größen antifaschistischer Dichter und Denker hervorgebracht hatte – und das im Holocaust die niedrigsten Instinkte menschlichen Handelns mobilisiert hat und in der Barbarei des faschistischen Massen­mords unterging? »Meine These: Bevor der Rechtsextremismus die Mitte der Gesell­schaft erreicht hat, kam er aus der Mitte des Staates. Aus Teilen des Sicherheitsap­parates, der Bundeswehr, der Verwaltung«, schreibt Daniela Dahn. »Der Antifaschismus war in der Bundesrepublik nie Staatsraison. Die Hauptverantwortung für das Erstarken des Rechtsextremismus im Osten trägt die politische Klasse im Westen. Ihr antikom­munistisches Rollback hat darüber hinaus ganz Deutschland erfasst – und im Verbund mit Gleichgesinnten weite Teile Europas.« (131) Die Geschichte des Anschlusses der DDR ist eine Geschichte der Demütigungen, einer tätigen Verachtung ihrer Kultur, Lite­ratur, Wirtschaft und sozialen Infrastruk­tur, die immer weiter fortwirkt.

Dahns ausholende Betrachtungen der deutschen Geschichte wie etwa der »nie aufgearbeitete Jahrhundertbruch der Arbeiterparteien« zeigt versäumte Mög­lichkeiten auf und macht nicht wahrge­nommene Weggabelungen sichtbar. Noch vor der Wende war im heute verfemten SPD-SED-Grundsatzpapier 1987 die Bereit­schaft vorhanden, eine Bilanz beider Sys­teme von Gelungenem und Nicht-Gelunge­nem zu ziehen und weiterzuentwickeln. »Doch plötzlich und unerwartet stand die SPD auf Seiten des Siegers der Geschichte.« (62) Viele fortschrittliche Gesetze der Ex-DDR wurden gecancelt, am § 218 wäre die deutsche Einheit beinahe gescheitert und DDR-Frauen mussten die Einschränkung des Selbstbestimmungsrechts über ihren Körper hinnehmen. »Der Osten wurde zur schlechten Kopie des Westens« gemacht, überholte Machtstrukturen wurden restau­riert und das verhängnisvolle Prinzip »Rückgabe vor Entschädigung« hat die Hälfte der DDR-Bevölkerung bezüglich Rückgabe von Wohnhäusern und Grundstü­cken in einem jahrelangen existenziellen Nervenkrieg gefangen gehalten.

Die Einheit – eine Abrechnung ist ein emotionales Buch, das den Bogen weit in die heutige Welt internationaler Raubzüge des Kapitalismus mit ihren sozialen Ver­werfungen und reaktionären, rechtsextre­men Auswüchsen spannt. Die Quittung für soziale Kälte und politisches Versagen ist die AfD, sagt Daniela Dahn, die damals selbst am Runden Tisch der Bürgerbewe­gung »Demokratischer Aufbruch« saß, den sie mit Rainer Eppelmann und anderen mit­begründet hatte. Ihre Schilderungen beein­drucken durch Detailreichtum, Faktenwis­sen und eine klare Sprache, die nichts beschönigt, ich würde sagen: eine Pflicht­lektüre für alle, die dem Phänomen Rechts­entwicklung und Radikalisierung auf die Spur kommen möchten.

Daniela Dahn: »Der Schnee von gestern ist die Sintflut von mor­gen. Die Einheit – Eine Abrechnung«. Rowohlt Taschenbuch Verlag, Oktober 2019, 14,40 Euro

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Der Berliner Verbrecher-Verlag hat Ronald M. Schernikaus Opus magnum »legende« neu herausgebracht

Von MANFRED MUGRAUER

Als 1999 »legende« von Ronald M. Scher­nikau erschien, war der Autor bereits acht Jahre tot. Er war im Oktober 1991 im Alter von nur 31 Jahren gestorben. Seit 1983 hatte Schernikau an »legende« gear­beitet und sie 1991 – mit einer HIV-Infek­tion konfrontiert – rasch vollendet. Er schaffte es noch, wenige Tage vor seinem Tod, das Manuskript an Verlage und Lekto­rInnen zu verschicken, die Absagen erlebte er nicht mehr. In den folgenden Jahren winkten alle großen und mittelgroßen Ver­lage ab. Es war wohl, so Thomas Keck, der in Wien geborene und in Berlin lebende Lebenspartner von Schernikau, »einfach nicht opportun, ein Werk zu bringen, das den Kernsatz enthält: der kommunismus wird siegen werden«.

1999 ging der winzige, sonst auf Regio­nalliteratur spezialisierte Dresdner Verlag ddp goldenbogen das Risiko ein und ent­schloss sich, zur Vorfinanzierung der Pro­duktionskosten eine limitierte Subskripti­onsauflage von 500 Stück (zum Preis von je 135 Mark) herauszugeben. Die letztlich erfolgreiche Kampagne zur Gewinnung von SubskribentInnen wurde von zahlreichen KünstlerInnen, Intellektuellen und Publi­zistInnen, darunter Peter Hacks, Elfriede Jelinek, Hermann Gremliza, Sahra Wagen­knecht und Siegfried Matthus, unterstützt. Die damalige Presseresonanz war groß: Es war die Rede von einer der »wichtigsten literarischen Publikationen der letzten Jahre« und einem »epochalen Werk«, geschrieben von einem schwulen Kommu­nisten.

Irrtümlicherweise wurde der Band, vor allem von jenen RezensentInnen, die ihn nicht oder nur flüchtig gelesen hatten, als »großer Wenderoman« gefeiert, nach dem das bürgerliche Feuilleton seit Jahren gesucht habe. Auch in den folgenden Jah­ren war es vor allem der deutsch-deutsche Hintergrund von Schernikaus Biographie, der dafür verantwortlich war, vorrangig sein schwules Künstlerleben im geteilten Deutschland – und weniger sein Werk – aufzugreifen: geboren 1960 in Magdeburg in der DDR, 1966 »im Kofferraum«, also ille­gal in die BRD, Mitglied von SDAJ und DKP, mit der Coming-Out-Geschichte »Klein­stadtnovelle« ein vielbeachteter »Erstling« im Jahr 1980, über Westberlin – und als einziger Westdeutscher – zum Literaturstu­dium nach Leipzig bis zur Einbürgerung in die ihrem Untergang entgegen sehende DDR im September 1989.

Schernikau-Renaissance

Zwanzig Jahre nach dem erstmaligen Erscheinen von »legende« ist Schernikau in linken Szenen, zumindest jenen des deutschsprachigen Raumes, sowohl in lite­rarischer als auch in politischer Hinsicht eine fixe Größe. Es gibt wohl keinen zwei­ten Autor, der von traditionellen Kommu­nistInnen und »Poplinken«, von junge Welt und Jungle World, gleichermaßen geschätzt wird. Als die DKP im Oktober 2017 zu einer Konferenz »100 Jahre Oktoberrevolution« ins Berliner Babylon-Kino lud, wurden seine Texte vor mehr als 500 Gästen als kul­tureller Hauptbeitrag gelesen. Es ist auch kein Zufall, dass Schernikau in Dietmar Dath, der »legende« in der FAZ als sein »Lieblingsbuch« bezeichnet hat, einen sei­ner wichtigsten Interpreten gefunden hat. Auf Facebook haben sich Gruppen gebildet, die Schernikau neben Peter Hacks und Hans Heinz Holz zum wichtigsten inhaltli­chen Bezugspunkt erklären. Die Berliner Jungle World wiederum widmete Schernikau im Oktober einen kleinen Schwerpunkt. Es ist wohl der (nicht gerade tagesaktuelle) Kommunismus als die einzige Hoffnung auf eine vernünftige, menschenwürdige Welt, der die Linke hinter Schernikau eint.

Den Beginn eines breit angelegten Scher­nikau-Revivals markierte die erste Biogra­phie über den Dichter, die 2009 mit dem reißerischen Titel »Der letzte Kommunist« erschien. Die Popularität ihres Verfassers, des bekannten Buchautors und Fernsehmo­derators Matthias Frings, trug dazu bei, auch diejenige von Schernikau zu steigern und ihn einem breiteren Publikum bekannt zu machen. Danach wurden aus dem Nach­lass weitere Texte herausgegeben, bereits veröffentlichte erlebten Neuauflagen. Vom seither erwachten Interesse am Leben und Werk Schernikaus zeugen auch zahlreiche Lesungen und verschiedene Bühnenadap­tionen seiner Werke: Als im Herbst 2014 der 25. Jahrestag der Maueröffnung abge­feiert wurde, war die im Deutschen Theater Berlin aufgeführte Schernikau-Collage »Die Schönheit von Ost-Berlin« einer der weni­gen Lichtblicke abseits gängiger Abrech­nungen mit dem »Unrechtsstaat«. 2017 inszenierte der St. Pöltner Moritz Beichl – eben in der Kategorie »Bester Nachwuchs« für den Nestroy-Preis nominiert – Scherni­kaus »Kleinstadtnovelle« in der Theater­akademie Hamburg und wurde mit dieser Produktion zu mehreren Festivals eingela­den. Im März 2015 fand im Literaturforum des Berliner Brecht-Forums die erste wis­senschaftliche Konferenz zu Schernikaus Werk statt, die in einem Tagungsband mit dem Titel »Lieben, was es nicht gibt« doku­mentierte wurde (siehe Volksstimme, März 2017). Die in Gang geratene Schernikau-Forschung spiegelt sich auch in mehreren literaturwissenschaftlichen Seminaren, die in den letzten Jahren an deutschen Univer­sitäten angeboten wurden.

Verdienstvolle Verbrecher

»legende« war seit einigen Jahren nur noch antiquarisch erhältlich und wurde auf ebay mit Preisen bis zu 250 Euro gehandelt. Ihre Neuauflage erscheint nun im Berliner Ver­brecher Verlag, der sich bereits in den letz­ten Jahren um die Herausgabe von Scherni­kaus Werken verdient gemacht hat. HerausgeberInnen sind der Schauspieler und Regisseur Thomas Keck, der Germanist Lucas Mielke und die Kulturarbeiterin Helen Thein. Gegenüber der 846 Seiten starken Erstausgabe umfasst die Neuauf­lage ganze 1.072 Seiten. Hinzu kommen 84 Seiten Anmerkungen und ein Nachwort von Mielke, der eben an der Universität Pots­dam an einem Promotionsprojekt über Schernikau arbeitet und in seinem Beitrag neben Shakespeare-Referenzen auch litera­rische Einflüsse auf »legende« – etwa von Irmtraud Morgner und Gisela Elsner – auf­zeigt. Gegenüber der Erstausgabe hat das Dünndruckpapier der Neuauflage an Vor­zügen nur den einen, dass im Bücherregal ein Zentimeter Platz gespart wird.

Die umfangreiche Kommentierung des Werks in den Anmerkungen dient vor allem dazu, die von Schernikau eingearbeiteten Zitate und die in den Text eingewobenen Referenzen nachzuweisen. Zu diesem Zweck haben die HerausgeberInnen den Nachlass Schernikaus erschlossen, der seit 2016 im Archiv der Akademie der Künste in Berlin aufbewahrt wird und dort der For­schung zur Verfügung steht. Die dortigen Materialien geben Aufschluss darüber, dass Schernikau Ausschnitte aus literarischen Werken, Zeitungsmeldungen, Annoncen, Berichte aus Fachmagazinen und Boule­vardzeitungen und sogar Teile von Gesprä­chen in den Text einarbeitete. Die Kom­mentierung »soll einen Einblick in die spe­zifische Bauweise der LEGENDE geben, Schernikaus Lektürehorizont aufzeigen und den zeithistorischen Hintergrund nachwei­sen«, so die HerausgeberInnen, womit der Neuausgabe ein Hauch von MEGA verliehen wird. Der akribisch erarbeitete wissenschaftliche Apparat wird es künftigen Scher­nikau-ForscherInnen sehr erleichtern, ihn und sein Werk in die Kultur- und Kommunismusge­schichte einzuordnen.

Monumentale Montage

Die Handlung von »legende« in wenigen Sätzen auf den Punkt zu bringen, ist ein Ding der Unmög­lichkeit. Zu Beginn treten vier – für die Menschen unsichtbare – Götter auf: Sie kommen auf die »Insel« und werden in deren All­tagskampf mit dem umliegenden Land hineingezogen. Die »Insel« ist Westberlin, wohin Schernikau 1980 zum »schreiben schwulsein kom­munistsein« gezogen war. Das sie umgebende »Land« ist die DDR (»mitten in der zukunft die vergan­genheit«), in der Schernikau als »ddrbürger der einen westberliner spielt der einen ddrbürger spielt« seit 1986 lebte. Die Götter erleben u. a. den Monopolisten anton tattergreis, seinen Nachfolger janfilip geldsack, Kom­munistInnen wie fank, berbel und mariane komenski, die sich in der Parteiarbeit auf­reiben, irene binz (gemeint ist Schernikaus Mutter Ellen), die einst die DDR wegen ihrer großen Liebe verließ, und den schönsten Mann der Welt. Ein Höhepunkt folgt dem anderen: die Rationalisierung in der Schokoladenfabrik, der Kampf ums Krankenhaus, das besetzte Haus, der Fahr­radladen, die schwule WG von franz und paul, die ihr Lenin-Poster mit rotem Lip­penstift anmalen usw.

»legende« ist eine Montage verschiedener Texte und Textsorten, die sich aufgrund der Vielfalt der literarischen Formen jeder Gattungszuschreibung entzieht. Der Text ist mit keinem Werk vergleichbar, das in den letzten Jahrzehnten in der deutschen Literatur erschienen ist. Als Georg Fülberth prognostizierte, dass sich um diesen Text »Lesegruppen sammeln« würden wie einst um die »Ästhetik des Widerstands« von Peter Weiss, verband er dies nicht umsonst mit dem Hinweis, dass diese auch »ihre eigene Rezeptionstechnik entwi­ckeln« werden würden. Zahlreiche Einlagen – Essays, Theaterstücke, Mär­chen, Monologe, Zeitungsar­tikel bis hin zu einem gefa­keten Dokudrama (»Ein Lied für Rostock«, die DDR richtet den Grand Prix d’Eurovision aus) – gehören nicht zur Haupthandlung, fanden jedoch Eingang in das Opus magnum, weil Schernikau gezwungen war, sein Haupt- und Spätwerk schon in den frühen Dreißigern zu liefern und »legende« demgemäß als »Vermächtnis« zu konzipieren – und auch deshalb, weil »1000 seiten schernikau besser sind als 100 seiten schernikau«, so der Dichter.

Wie in allen Schernikau-Werken mangelt es auch in »legende« nicht an geistreichen Aphorismen und zitierbaren Sätzen: »du weißt, daß sinnvolles leben hier möglich wird schon im kampf für sinnvolles leben. du kämpfst für die abschaffung aller kämpfe, damit auch du nicht mehr kämp­fen mußt. und wirst kommunist«, heißt es etwa in einer Einlage mit dem Titel »über kommunismus«. »legende« sei »einerseits eine Zusammenfassung seines Wissens über die Welt und gleichzeitig eine Anleitung zum Umgang damit, ein Appell: Macht etwas! Und macht es zusammen«, resü­miert Lucas Mielke im Nachwort. Am 11. Dezember dieses Jahres wird in der Ber­liner Volksbühne eine Schauspielvariante von »legende« zur Uraufführung gelangen (Regie: Stefan Pucher).

Ronald M. Schernikau: legende. Berlin: Ver­brecher Verlag 2019, 1072 S., 58 Euro

www.schernikau.net

www.verbrecherver­lag.de

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Von EVA BRENNER

Heiner Müller (1929–1995) gilt als der nach Bertolt Brecht wichtigste deutsche Dra­matiker und zählt zu den bedeutendsten Schriftstellern der DDR. Beachtung erlangte er außerdem als Lyriker, Essayist sowie als Regis­seur, Dramaturg, Intendant, Präsident der Akademie der Künste der DDR und lebenslan­ger Dissident. Legendär, weil heftig kritisiert, bleibt sein Auftritt am 4. November 1989 bei der Demonstration am Berliner Alexander­platz, wo er vor 500.000 Menschen einen ihm kurz davor ausgehändigten Aufruf zur Grün­dung freier Gewerkschaften verlas. Es ist ein Dokument seiner fundamentalen Oppositions­haltung gegenüber Vereinnahmung durch Erwartungshaltung und Ideologie.

Ich war seit meinen Anfängen als Theater­macherin von Müllers Werk fasziniert, das Fragment, Kommentar, Sprengung der Form, Elemente von automatic writing, Traum Sequenz, poetischer Text, Groß- neben Klein­schreibung, Überlappung und Filmschnitt, Zeitsprung und Figurendoppelung nicht nur zulässt, sondern einfordert.

Müllers Theaterbegriff ist kontrovers, er setzt radikale Maßstäbe an die Theaterpra­xis, verschließt sich simplen Interpretatio­nen und linearen Umsetzungen. Seine Ver­weigerung jeglicher Zugeständnisse an die Doktrin des sozialistischen Realismus ver­dankt Müller dem gründlichen Studium westlicher Avantgarde – von Dada über Surrealismus bis Fluxus.

Müller war politisch wie künstlerisch ein Grenzgänger, ein Wanderer zwischen den Welten. Unfreiwilliger Dissident zwischen Ost und West, fand sein Werk zuerst in Westdeutschland, bald danach in Frank­reich, den USA und später weltweit höchste Anerkennung. Ja, um das »Müller-Theater« entwickelte sich unter afficionados ein regelrechter Kult, die sich u. a. in den zahl­losen Gesprächen, Interviews, Talkshows, Filmen und Bildbänden ausdrückte.

Auf einem Foto aus seinem letzten Lebensjahr hält Müller eine selbst gekrit­zelte Tafel in die Kamera, worauf zu lesen steht: »Es gab immer zwei (2) Deutschland, eins oben, eins unten. Ich lebe in beiden. Heiner Müller, 66, ohne erlernten Beruf, Berlin, 12.6.95.« Die Welt, wie Müller sie kannte, ist Vergangenheit, die Hoffnungen auf eine sozialistische Alternative haben sich nicht erfüllt. Seine Stücke werden zwar bis heute gespielt, wenn auch weniger häufig und unter Verzicht auf die funda­mentale marxistische Weltsicht und Dialek­tik, zu der seine lebenslange Loyalität zu jenem Staat zählte, den er bis zuletzt für das »bessere Deutschland« hielt. Müller verstarb 1995 politisch enttäuscht in Berlin, nachdem ihm sein Hauptthema abhanden­gekommen war: der Widerspruch zwischen Ost und West, politischer und ästhetischer Avantgarde, Masse und Individuum.

Sich von Brecht her tradierend, diesen kritisierend, um fremde, avantgardistische, auch außereuropäische Einflüsse aufzuneh­men, hat sich Müller mit jedem neuen Text neu geöffnete, Wege jenseits des konventio­nellen (auch Brecht’schen) Dramas beschritten, die Einheit von Raum, Zeit und Form sprengend. Sein unabgeschlossenes Projekt versuchte nichts weniger als eine Synthese zwischen sozialistisch-emanzipa­torischer (DDR) und dissident-westeuropä­isch-amerikanisch orientierter kultureller Praxis, deren historische Zeit noch nicht gekommen ist. Er konstatierte: »Ich habe genau die Illusionen gehabt wie unsere Poli­tiker über das Zeitmaß der (revolutionären) Entwicklungen … Ich habe auch geglaubt, das geht alles viel schneller. Dann merkt man, es dauert länger als man lebt, und dann stellt man sich drauf ein, und diese Enttäuschung führt dann zu einem Widerspruch, dem Widerspruch zwischen einer individuellen Lebensdauer und der Geschichte, der Zeit des Subjekts und der Zeit der Geschichte.«1

Während Bertolt Brecht 1956 im vollen Glauben an die Zukunft des Sozialismus starb, trifft das für Heiner Müller nicht mehr zu. Zu groß war seine Enttäuschung über Stagnation, Stillstand und Dekadenz in der DDR, die er (direkt) mit rebellischer Ein­dringlichkeit in Gesprächen und (indirekt) in seinem Werk thematisierte und stets kom­promisslos, ohne Zugeständnisse an die Par­tei, der er niemals beitrat, äußerte. Das macht ihn bis heute zum politisch wohl inte­ressantesten und wirkmächtigsten deutsch­sprachigen Dramatiker nach Brecht.

Akte der Überschreitung

Müller meinte, die Aufgabe der Literatur sei, »die Wirklichkeit, so wie sie ist, unmöglich zu machen« und verglich sein Schreiben mit Akten der Überschwemmung, des Schocks, um »den Leuten so viel aufzupacken, daß sie nicht wissen, was sie zuerst wegtragen sol­len«. Über vier Jahrzehnte hinweg gelang es ihm, sich künstlerisch stets neu zu erfinden. Das reicht von frühen, sozialistisch-optimis­tischen Produktionsstücken über die DDR-Übergangsgesellschaft im Brecht’schen Duk­tus bis zu den apokalyptischen, mit Träu­men, autobiografischen Texten versehenen Montagen der 1970er und 1980er Jahre, die naturgemäß dem Verdikt des »sozialistischen Realismus« seines Heimatlandes widersprachen und desto begeistertere Aufnahme im Westen fanden. Müller ver­weigerte Ideologie im Zusammenhang mit Kunst und blieb dennoch immer überzeug­ter Marxist, der die Vergangenheit, Gegen­wart und Zukunft seismografisch verzeich­nete und dramatisch punktgenau sezierte. Ihm war es weniger um Antworten als Fra­gen zu tun, sein Theater umkreist die The­men Geburt und Tod, die zyklische Wieder­kehr von Gewalt und Terror, die verpasste Chance des Sozialismus, die bis zur Selbst­vernichtung menschlichen Lebens führen könnte. Das macht den klassischen Zuschnitt seiner Texte aus, hält sie frisch und lebendig.

Geboren in Sachsen in kleinen Verhält­nissen, entschied er sich 1951 – nach der Flucht der Eltern in den Westen – in der DDR zu bleiben. Ihr ist er zeitlebens treu geblieben, obwohl er Jahrzehnte Publikati­ons-und Aufführungsverbot erdulden musste. Erst 1986 von Erich Honecker per­sönlich mit dem Nationalpreis Erster Klasse der DDR ausgezeichnet, erfuhr er kurz darauf von seiner vollständige Rehabilitie­rung durch die Wiederaufnahme in den Deutschen Schriftstellerverband. Diese sah er selbst als Zeichen des nahenden Unter­gangs des Staates, in dem zu leben ihm so wichtig, weil Voraussetzung für sein Schreiben, war: »Die DDR ist mir wichtig, weil alle Trennlinien der Welt durch dieses Land gehen. Das ist der wirkliche Zustand der Welt, und der wird ganz konkret in der Berliner Mauer.«2 In den Folgejahren wurde sein Theater sowohl im Westen wie auch – mit zeitlicher Verspätung – im Osten rezipiert, Müller zum Sprachrohr der lin­ken Intelligenz, der sich regelmäßig in Medien und Publikationen zu Wort mel­dete.

»Einsame Texte, die auf Geschichte warten«

So bezeichnete Müller seine zuerst im Wes­ten rezipierten zivilisationskritischen Stü­cke. Da man sich angesichts der realen Ver­hältnisse in der Welt vom Brecht’schen »Lehrstück« zu verabschieden habe, lokali­siert Müller das revolutionäre Moment der Kunst in der Form – in einem Interview, erklärte Müller 1987: »Wir müssen uns klar werden, was im Zusammenhang mit Kunst politisch ist. Das sind doch nicht einfach die Inhalte. Vielleicht hat das Godard am besten formuliert. Er sagte, die Aufgabe bestehe nicht darin, politische Filme zu machen, sondern Filme politisch zu machen. Also geht es um die Behandlung des Stoffes, um die Form, nicht um den Inhalt.«3

Für diese Erkenntnis spricht sein prophe­tisches Neun-Seiten-Stückfragment Hamlet­maschine (1977), das in einer wüsten Collage disparate Szenen, Monologe, Chöre und Traumbilder in einer Generalabrechnung mit dem real existierenden Sozialismus zusammenpresst, ein monumentales Einge­ständnis des Scheiterns linker Intellektuel­ler mit Referenz auf Shakespeare, Lenin, Rosa Luxemburg, E. E. Cummings, Poe, Andy Warhol u. a.: »Ich war Hamlet, ich stand an der Küste und redete mit der Brandung BLA­BLA, im Rücken die Ruinen von Europa. … ZWEITER CLOWN IM KOMMUNISTISCHEN FRÜHLING / SOMETHING IS ROTTEN IN THIS AGE OF HOPE … Ich bin nicht Hamlet. Ich spiele keine Rolle mehr. … Mein Drama fin­det nicht mehr statt.«

Das Werk öffnet den Blick für das Ir ­rationale, Dunkle, Nicht-Beherrschbare der Geschichte, der Müller’sche nähert sich dem cineastischen Schnitt an, dekonstruiert die Erzählung und verweigert eindeutige Bot­schaften. Das Werk verunmöglicht den verklärten Blick auf die Geschichte, den linearen Fortschrittsbegriff; kein Wunder also, dass die Hüter des sozialistischen Realismus darauf – und seinen zunehmen­den Pessimismus in späten Stücken – mit dem Vorwurf der »Formalismen« reagier­ten. Dies wiederum bot Angriffsfläche im Westen, das Werk des überzeugten Marxis­ten aus dem deutschen Osten als sozialis­mus-kritisch zu lesen. Ein hermeneutischer Kurzschluss durch Einvernahme in den postdramatischen Mainstream, dem es auch heute noch entgegenzutreten gilt, denn ohne fundamentale marxistischer Dialektik, die sein Werk grundiert, ist es nicht zu enträtseln.

1 Gesammelte Irrtümer, 1986, S. 168

2 Heiner Müller, Gesammelte Irrtümer 1, S. 135

3 Ich weiß nicht, was Avantgarde ist. Gespräch mit Eva Brenner, Gesammelte Irrtümer 2, 1990, S. 97

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Von SABINE FUCHS

In Zeiten der immer hysterischer werden­den Delegitimierung der DDR mutet es überraschend an, dass im Jahr 1989 etwa 200.000 AusländerInnen freiwillig im angeblichen »Unrechtsstaat« gelebt haben. Dabei war auch die Anzahl derer, die nicht aus Staaten des Warschauer Pakts stamm­ten, wesentlich größer, als die Propaganda von der gegenseitigen Abschottung wäh­rend des Kalten Krieges vermuten lässt. So lebten Mitte der 1970er Jahre etwa 3.000 Personen mit Schweizer Pass in der DDR, zur selben Zeit sprach der österreichische Bundeskanzler Bruno Kreisky von einer »fünfstelligen Zahl« in der DDR lebender ÖsterreicherInnen. In der diplomatischen Korrespondenz der 1950er Jahre ist konkret von 18.000 in der sowjetischen Besatzungs­zone lebenden ÖsterreicherInnen die Rede.

Die ÖsterreicherInnen waren damit die größte Gruppe an Nicht-Deutschen, die zunächst in der sowjetischen Besatzungs­zone und dann in der DDR lebten. Der grö­ßere Teil dieser Menschen emigrierte aller­dings nicht in die DDR, vielmehr sind sie oder ihre Vorfahren schon zwischen den beiden Weltkriegen nach Deutschland gegangen, um dort Arbeit zu suchen. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden alle in Deutschland lebenden ÖsterreicherInnen durch so genannte Repatriierungsstellen betreut, die vor allem mit Pass- und Rück­führungsangelegenheiten beschäftigt waren. Aus der Berliner Repatriierungs­stelle ging 1947 die »Österreichische Dele­gation« hervor, die die konsularische Betreuung der in der sowjetischen Besat­zungszone lebenden ÖsterreicherInnen übernahm. Ihre Haupttätigkeit bestand in der Ausstellung von Pässen, was mit einer Überprüfung des Anrechts auf die österrei­chische Staatsbürgerschaft einherging.

Nach der Gründung der DDR am 7. Okto­ber 1949 verkomplizierte sich die Situation, denn nun war nicht mehr die sowjetische Besatzungsmacht der Ansprechpartner, sondern die Behörden der DDR. Gleichzeitig waren im beginnenden Kalten Krieg eine offizielle Anerkennung der DDR und damit Gespräche mit den DDR-Behörden auf offi­zieller Ebene nicht möglich. Anfang 1952 wurde die Delegation dem Wiener Außen­amt unterstellt und damit in den Auswärti­gen Dienst eingegliedert, obwohl es offiziell keine diplomatischen Beziehungen zwi­schen beiden Staaten gab. Dies war durch­aus in beiderseitigem Interesse: Österreich stempelte als eines von wenigen westlichen Ländern Visa direkt in die DDR-Pässe (und akzeptierte sie somit stillschweigend als offizielles Dokument), was gerade in der Anfangsphase der DDR die Reisen in das westliche Ausland erheblich erleichterte. Profitiert haben davon vor allem politische Delegationen, aber auch WissenschaftlerIn­nen, die an internationalen Kongressen teilnahmen. Sie konnten mit dem österrei­chischen Visum nicht nur nach Wien, son­dern auch über Wien in andere Staaten rei­sen. Im Gegenzug akzeptierten die DDR-Behörden die Arbeit der Delegation und duldeten die Reisefreiheit der auf ihrem Staatsgebiet lebenden Personen mit öster­reichischem Pass. Beide Parteien waren an der Aufrechterhaltung des Status quo inte­ressiert. So behielt Österreich die liberale Visapraxis auch nach dem September 1960 bei, als die NATO-Länder eine Visa-Sperre gegen DDR-BürgerInnen verhängten.

Die Aufgaben der Delegation entsprachen denen eines Konsulats oder einer Botschaft. Personen, die mit ihr in Kontakt traten, taten dies in den meisten Fällen wegen einer obligatorischen Verlängerung des Reisepasses. Auch bei Problemen mit DDR-Behörden wurde die eigene diplomatische Vertretung konsultiert. In den Akten ist die angeblich mangelhafte Unterstützung durch die DDR-Behörden bei einem Nach­barschaftsstreit ebenso als Grund zu finden wie das mehrfach vorgetragene Begehren des Dirigenten Othmar Suitner, nach dem Nationalpreis der DDR auch eine österrei­chische Auszeichnung zu erhalten. Schwer­wiegendere Konflikte gab es zu dieser Zeit kaum.

Passfrage und Staatsbürgerschaftsrecht

Eine gewisse Zäsur stellte die im Rahmen der »neuen Ostpolitik« Willy Brandts statt­findende offizielle Anerkennung der DDR und die Aufnahme diplomatischer Bezie­hungen im Dezember 1972 dar. Nun wurde die österreichische Botschaft in der DDR eröffnet, die in der damaligen Otto-Grote­wohl-Straße (heute Wilhelmsstraße) lag. Eine andere Neuerung für die in der DDR lebenden ÖsterreicherInnen, die mit den unterschiedli­chen Staatsbürgerschaftsrechten der beiden Staaten zusammenhängt, wurde ebenfalls in den 1970er Jahren virulent. Während das Staatsbürgerschaftsrecht der DDR nämlich auf dem Territorialprinzip beruhte (jede/r, der/die auf dem Staatsgebiet der DDR gebo­ren wurde galt als Bürger/in der DDR), beruhte das Staatsbürgerschaftsrecht Öster­reichs auf Abstammung. Die Konfliktlinie ist offensichtlich: Die Kinder von ÖsterreicherIn­nen, die in der DDR geboren wurden, besaßen per definitionem beide Staatsbürgerschaften, konnten also einen österreichischen Pass beantragen und taten das auch meist, wurden aber von den DDR-Behörden als Doppelbürge­rInnen angesehen und konnten damit auch Probleme bei Auslandsreisen bekommen.

Während die Akten für die 1950er und 1960er Jahre eine relative Zufriedenheit der in der DDR lebenden ÖsterreicherInnen mit den DDR-Behörden zeigen, verschlechterte sich die Stimmung ab Mitte der 1970er und vor allem in den 1980er Jahren. In der DDR geborene ÖsterreicherInnen der zweiten Generation hatten häufiger Konflikte beim Reisen, wobei aber kein einheitlicher Umgang von Seite der DDR mit diesen Fällen zu beobachten ist. Gleichzeitig konnte es auch von österreichischer Seite zu Proble­men kommen, denn das österreichische Staatsbürgerschaftsrecht war komplex: Anrecht auf einen österreichischen Pass hatte, wessen Vater die Staatsbürgerschaft besaß, wer nie in den Dienst eines ausländi­schen Staates eingetreten war, und wer die Staatsangehörigkeit nie freiwillig zurückge­legt oder freiwillig eine andere Staatsange­hörigkeit angenommen hatten. War die Kette der »vererbten Staatsbürgerschaft« einmal unterbrochen, hatten auch Nachfahren kein Anrecht mehr darauf. So bekam etwa eine Frau Probleme mit den österreichischen Behörden, weil sie in ihrem Passansuchen als Berufsbezeichnung »Postbeamtin« angege­ben hatte. Die Behörden interpretierten die Arbeit als »Beamte« jedoch als Dienst für einen ausländischen Staat und verweigerten zunächst den Pass. Die Frau konnte dann jedoch nachweisen, dass sie lediglich Ange­stellte und nicht Beamtin der Post der DDR war und bekam ihren österreichischen Pass schließlich auch ausgehändigt.

Die DDR als Exilort

Ganz anders stellte sich die Situation für die­jenigen dar, die tatsächlich in die DDR immi­grierten. Kommunistische Wissenschaftle­rInnen und Intellektuellen, denen in Öster­reich aufgrund des antikommunistischen Kli­mas entsprechende Wirkungsmöglichkeiten verwehrt geblieben waren, setzten ihre wis­senschaftliche Laufbahn in der DDR fort, etwa der Philosoph Walter Hollitscher, der Historiker Leo Stern, der Musikwissenschaft­ler Georg Knepler oder der Biochemiker Mitja Rapoport. Der aus dem US-Exil zurück­gekehrte Komponist Hanns Eisler scheiterte 1948 daran, eine Lehrstelle am Konservato­rium der Stadt Wien zu erhalten, weshalb er 1949 ebenso in die DDR ging und dort deren Nationalhymne komponierte.

Eine wichtige Zäsur stellte dabei der Abschluss des Staatsvertrags im Jahr 1955 dar. Für viele österreichische Linke bedeu­tete dies den Verlust des Schutzes vor Anfeindungen konservativer Kreise und alter Nazis. Legendär wurde aber vor allem die Geschichte der KünstlerInnen des »Neuen Theaters in der Scala«, das nach dem Zweiten Weltkrieg von aus der Emigration zurückgekehrten antifaschistischen Künst­lerInnen als progressives und selbstverwal­tetes Sprechtheater gegründet worden war. Wolfgang Heinz, Karl Paryla, Emil Stöhr, Erika Pelikowsky oder Hortense Raky waren in der Schweiz im Exil gewesen und hatten am Zürcher Schauspielhaus gearbeitet, wo sie u. a. mit dem deutschen Schauspieler und Regisseur Wolfgang Langhoff zusam­menarbeiteten. Aus dem Londoner Exil kamen Otto Tausig und seine spätere Frau Lily Schmuck sowie der in erster Linie als Kabarettist bekannte Otto Stark an die »Scala«, andere kommunistische Theater­schaffende wie Trude Bechmann und Peter Sturm schlossen sich an. Als nach Abzug der sowjetischen Truppen die »Scala« trotz ihrer künstlerischen Erfolge geschlossen werden musste und die dort arbeitenden KünstlerInnen arbeitslos waren, engagierte sie Wolfgang Langhoff an das von ihm gelei­tete Deutsche Theater in Berlin.

In der Hauptstadt der DDR trafen sie andere österreichische KünstlerInnen, die in der NS-Zeit ebenfalls im Exil waren, sich aber in anderem Kontext in der DDR niedergelassen hatten: die Schauspielerin­nen Helene Weigel und Mathilde Danegger, der Intendant der Komischen Oper in Berlin, Walter Felsenstein, Otmar Suitner, der Film­komponist und Eisler-Schüler Andre Asriel, die SchriftstellerInnen Fred und Maxie Wan­der oder der erste Chef dramaturg der DEFA, Georg Klaren. Die österreichischen Künstle­rInnen in der DDR verstanden sich jedoch nicht als homogene Gruppe. Viele hatten, nicht zuletzt aufgrund der gemeinsamen Sprache, mit deutschen KollegInnen ebenso Kontakt wie mit Angehörigen anderer Nationen, etwa dem belgischen Filmema­cher Joris Ivens oder dem Schweizer Regis­seur Benno Besson. Die politische und künstlerische Identität dominierte die nationale und religiöse. Sie alle verstanden sich in erster Linie als Teil eines Netzwerks internationalistischer und kommunisti­scher, meist jüdischer Intellektueller, von denen die älteren schon seit Beginn der 1930er Jahre AntifaschistInnen gewesen waren und dies auch, ohne Anfeindungen ausgesetzt zu sein, bleiben wollten.

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Im Jahr 1949 wurde die Deutsche Demokrati­sche Republik mit dem rot-schwarz-goldenen Emblem Hammer-Sichel-Zirkel gegründet, das als Arbeiter-Bauern-Wissenschaftssymbol gedacht war.

Erinnerungen von BÄRBEL DANNEBERG.

Ich kam 1949 gerade in die Schule und wohnte mit meinen Eltern im amerika­nisch besetzten Teil Berlins. Meine zwei Jahre ältere Cousine Jutta war im östlichen, sowjetischen Teil zu Hause. Wir sahen uns oft, hüben wie drüben. Wir sangen gemein­sam unsere alten Kindheitslieder. Erst später unterschieden sie sich. Während ich »Abend­stille überall ...« sang, hatte Jutta das sozia­listisch geprägte Liedgut im Repertoire: »Unsere Heimat ...« mit dem aufdringlichen Refrain: »... wir schützen sie, weil sie unserem Volke gehört.« Unsere Welten begannen sich zu teilen. Juttas Mutter, eine Alleinerzie­hende und SED-Genossin, nahm mich zusam­men mit ihrer Tochter als »ihr« Kind mit ins Ferienlager der Jungen Pioniere nach Babe auf Rügen.

Meine Mutter war froh darüber, sie hatte vier Kinder durchzufüttern und Essen war damals knapp bei uns. Deshalb ging sie immer »nach drüben« in den HO einkaufen. In der staatlich verwalteten Handels Organi­sation (so etwas Ähnliches wie später bei uns die Konsum Genossenschaften) gab es die staatlich gestützten Grundnahrungsmittel für uns Westler zu einem Spottpreis. Das ging damals noch problemlos: Mit der S-Bahn von Schöneberg bis Friedrichstraße fahren, die zum östlichen Teil Berlins gehö­renden Stationen wurden ohne Halt durch­fahren. Typischer Ost-Geruch war für mich neben Calciumcarbit der köstlich frische des Brotes, das meine Mutter aus dem HO mit­brachte.

Widerstand vs. Wohlstand

Meine Mutter bedauerte sehr den 17. Juni 1953, der später zum »Tag der deutschen Einheit« erklärt wurde, denn er riss ein Loch in ihr Haushaltsbudget. Es war nun nicht mehr so leicht möglich, im Osten einzukau­fen. Ich war gerade zehn Jahre alt und ver­stand nicht, warum es jetzt so schwierig wurde, meine Cousine Jutta zu sehen. Der »Arbeiter- und Bauernaufstand« in der Täterä, wie man Walter Ulbrichts sächsi­schen Dialekt hämisch nachäffte, wurde in den westlichen Nachrichten ausgiebig als »Volksaufstand« kommentiert und die sow­jetischen Panzer als »Aggression Moskaus«, während Walter Ulbricht von den »Bonner Ultras« und den »Revanchisten« sprach. Im West-Radiosender RIAS war von einem »Terrorstaat« die Rede, wenn es um die DDR ging, und in Westberlin wurden die Streiks der Bauarbeiter in der Stalin-Allee von den Düsenjägern der AMIS mit Überschall-Geknalle begleitet, sodass bei uns etliche Fensterscheiben zu Bruch gingen. Es gab 55 Tote, es war das Jahr, in dem Stalin starb. Mein Vater sagte bitter: Fängt das jetzt schon wieder alles an? Es waren gerade einmal acht Jahre seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs vergangen. Nun hatten wir einen neuen, einen Kalten Krieg.

Initiationsriten hüben wie drüben: Ich ging in den evangelischen Konfirmanden­unterricht und wurde eingesegnet; meine Cousine war in der sozialistischen FDJ und bekam die Jugendweihe.

Noch konnte man in der viergeteilten Stadt Berlin zwischen Ost und West hin- und herfahren. Meine Cousine sah ich aber kaum noch. Jutta studierte im Osten Mathe­matik, ich erlernte nach meiner Schneider­lehre im Westen den Beruf Krankenschwes­ter. In meinem Krankenhaus arbeiteten auch viele »Ostärzte«, sie wohnten im östli­chen Teil Berlins und tauschten ihr bei uns im Westen verdientes Geld eins zu acht um. Ein Ungleichgewicht ökonomischer Ver­hältnisse zum Vorteil des Westens und zum Nachteil des Ostens, bei dem krasse Un ­gleichheit nicht am Programm stand. Und so löste der 13. August 1961 bei uns im Spi­tal große Empörung aus, denn in einer Nacht- und Nebelaktion wurde mitten durch Berlin eine Mauer gebaut! Ulbricht nannte das den »Antifaschistischen Schutz­wall«. Nun war es in meinem Spital vorbei mit den billigen »Ostärzten«, sie durften nicht mehr hin- und herpendeln. Wir spür­ten diesen Fachkräftemangel deutlich.

Später war es möglich, mit einem Passier­schein, den man auf einem westlichen Amt beantragen musste, in den Osten zu fahren. Meiner Cousine Jutta brachte ich Perlon­strümpfe und Kaffee mit, und sie schenkte mir Bücher und Schallplatten. Punkt 24 Uhr musste man die Besuche in der DDR beendet haben, und am Grenzübergang Friedrichstraße herrschte jedes Mal großes Gedränge, um rechtzeitig wieder zurück in den Westen zu kommen. Jutta, mittlerweile fertige Mathematikerin, war stolz auf »ihre Heimat«. Und ich, von der Fabriksnäherin zur Krankenschwester aufgestiegen, auf »meine«. Sie hatte den Sozialismus und ich die Freiheit, wurde uns gesagt. Als 1969 der Fernsehturm als höchstes Bauwerk Deutsch­lands fertiggestellt wurde, führte sie mich stolz nach oben und wir bewunderten beide ihre Stadt und meine Stadt, die uns zu Füßen lag. Die Teilung war klar sichtbar. Wir sahen uns wieder öfter.

Antifaschismus vs. Antikommunismus

Von den politischen Hintergründen, der industriellen Demontage und den Reparati­onsleistungen in Milliardenhöhe, die von der DDR geleistet wurden, oder von dem Mar­shallplan, der den Westlern einen wirtschaft­lichen Startvorteil verschaffte, hatte ich damals keine Ahnung. Wir im Westteil waren das Schaufenster zum Osten, wir fühlten uns im steigenden Wirtschaftswunderkonsum als »was Besseres«. Viele Studierende trieb es in den 1960er Jahren nach Westberlin, denn dort entgingen sie dem Bundeswehrdienst. Die StudentInnenbewegung dieser Zeit hat mich »Nichtstudierte« dann politisch voll erwischt. Die Nazivergangenheit wurde für mich plötzlich zum brennenden Thema. Wurde bei uns über diese Zeit geschwiegen, machte ich bei meinen Besuchen im Ostteil der Stadt die Erfahrung, dass Antifaschismus hier nicht nur in Straßennamen anzutreffen ist. Von Konzentrationslagern habe ich hier zum ersten Mal gehört. Ich hatte in der Schule ja noch vom »verlorenen Krieg« und vom Vorteil der Autobahnen, die Hitler gebaut hat, gelernt. Der kulturelle Bruch zwischen Ost und West sprang mir nicht zuletzt in den Buchläden ins Auge: Literatur war ein Kulturgut und gab es zum Spottpreis, und meine Cousine besorgte uns für meine Besuche oft Theaterkarten.

Dass ich später Kommunistin wurde, nach­dem mich die 1968er-Bewegung in Westber­lin in einem Klima des Antikommunismus als Staatsdoktrin voller Elan und Widerstands­geist mitgerissen hatte, hat mit vielen Mosaiksteinchen einer deutsch-deutschen Geschichte zu tun, die ich mir mühsam zusammengesucht habe. Den Mauerfall habe ich in Wien erlebt. Wehmut und Erinnerung an meine Kindheit und Hoffnung auf eine künftig bessere Welt verdichteten sich zu der Erkenntnis, dass die deutsche Wiedervereini­gung eine unerfüllte Sehnsucht und vertane Chance blieb.

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Der Umbau der ostdeutschen Hochschulen nach der deutschen Einheit.

Von PEER PASTERNACK

Mit dem Zusammenbruch der DDR im Herbst 1989 setzte eine zunächst spontane demokratische Entwicklung an den Hochschulen ein. Sie führte zur Auflö­sung der SED- und FDJ-Strukturen sowie zur Entsorgung ideologischer und (para-) militärischer Studienanteile, stellte die studentische Selbstverwaltung wieder her und hob die Beschränkungen der Wissen­schaftsfreiheit auf. Die Einführung des freien Studienzugangs war eine durchaus befreiende Erfahrung nach 40 Jahren rigi­der Zulassungspolitik. Mit dem 3. Oktober 1990 setzte dann eine Komplettumgestal­tung der ostdeutschen Hochschulen ein.

Die Rahmenbedingungen des Hochschul­wesens wurden vor allem in zweierlei Hin­sicht verändert. Einerseits änderten sich im Zuge eines weitgehenden West-Ost-Trans­fers die kompletten Strukturen: die Hoch­schulstrukturen, die Personalstruktur und das rahmensetzende Rechtssystem. Ande­rerseits setzte, durch Finanztransfers getrieben, eine deutliche Ausstattungsver­besserung der ostdeutschen Hochschulen ein. Parallel dazu, 1990/91, erfasste die Hochschulen ein Großkonflikt, als die so genannten Abwicklungen verfügt wurden. Abwicklung bedeutete die Schließung von Einrichtungen, die als sachlich überflüssig oder politisch erneuerungsbedürftig galten. Das vorhandene Personal konnte sich zwar für Stellen bewerben, die für die anstelle der alten Einrichtungen neu errichteten Institute ausgeschrieben wurden. Dies war allerdings mit dem Makel behaftet, sich aus einem abgewickelten Zustand heraus zu bewerben. Entsprechend selten führte es zum Erfolg.

Abwicklung und Arbeitsplatzverlust

Zunächst begannen so genannte Integri­tätsüberprüfungen, d. h. Personalkommis­sionen und Ministerien unternahmen poli­tische Bewertungen der WissenschaftlerIn­nen und ihrer Biografien. Der Sache nach waren diese Überprüfungsverfahren Beur­teilungen individualbiografischer Vergan­genheit mit dem Ziel, eine Sozialprognose über die Eignung (bzw. Nichteignung) für den Öffentlichen Dienst der Bundesrepu­blik Deutschland zu gewinnen. Das wurde völlig gegensätzlich bewertet. Die einen vertraten die Ansicht, dies stehe im vollen Einklang mit demokratischen Erfordernis­sen. Andere sahen Defizite, die sich etwa aus zu großer Eile ergaben. Wieder andere sahen solche Defizite auch, meinten aber, es sei der Übergangszeit geschuldet, was es hinnehmbar mache.

In einer nächsten Stufe wurden in den meisten ostdeutschen Ländern alle Hoch­schullehrerstellen neu ausgeschrieben. Die bisherigen StelleninhaberInnen konnten sich auch bewerben, doch dies nun in offe­ner Konkurrenz mit westdeutschen Mitbe­werberInnen, die im Blick auf Publikatio­nen, Auslandserfahrungen und Vernetzun­gen bessere Voraussetzungen mitbrachten. Im Ergebnis gab es erhebliche Unterschiede zwischen den Fächern. Die Sozial- und Geis­teswissenschaften wurden sehr viel stärker verwestlicht als die Medizin und als Mathe­ matik, Naturwissenschaft und Technik. Innerhalb der letzteren hatten ostdeutsche Professoren in den Ingenieurwissenschaf­ten die größten Verbleibschancen, wäh­rend die Verhältnisse an den medizini­schen und mathematisch-naturwissen­schaftlichen Fakultäten stärker ost-west-ausgeglichen waren. Bereiche wie die Poli­tikwissenschaft wurden nahezu vollständig westdeutsch besetzt, da es ein Fach dieses Namens in der DDR nicht gab.

Parallel zu den Neubesetzungen der Pro­fessuren setzte an den Hochschulen ein politisch verfügter Personalstellenabbau ein, der vor allem (Ost-)Berlin und Sachsen betraf. Dort hatte die DDR fast 50 Prozent ihres gesamten Wissenschaftspersonals konzentriert. An der Universität Leipzig, der TU Dresden und der Humboldt-Univer­sität zu Berlin, um drei Beispiele zu nennen, hatten daraufhin jeweils zwei Drittel des 1990 beschäftigten Personals ihren Arbeits­platz räumen müssen. Dies betraf nun auch die WissenschaftlerInnen unterhalb der Pro­fessuren. Insgesamt verloren bis zum Ende der 1990er Jahre etwa 60 Prozent des wissen­schaftlichen Personals aller ostdeutschen Hochschulen ihren Arbeitsplatz.

Keine Chance für den DDR-Wissenschafts­nachwuchs

Ein besonderes Problem waren die Schwie­rigkeiten, die der Transformationsmodus der jüngeren und mittleren ostdeutschen WissenschaftlerInnengeneration bescherte. Deren Angehörige hatten noch in der DDR ihre ersten Schritte in der Wissenschaft absolviert, dann mit dem Umbruch ihre aka­demischen LehrerInnen und Netzwerke ver­loren, und nun waren sie zudem mit dem Stigma versehen, in der DDR wissenschaft­lich sozialisiert worden zu sein. Aus beiden Generationen gelang es nur wenigen, sich in die neuen Strukturen zu integrieren.

Weitgehend erfolglos blieb das Vorhaben, ForscherInnen aus Akademieinstituten in die Hochschulen zu integrieren. Dem lag eine folgenschwere Fehleinschätzung zugrunde. Ihr zufolge habe es in der DDR eine weitgehende Trennung von Forschung und Lehre entlang einer Linie zwischen Hochschulen und Akademien gegeben. Die DDR-Hochschulen, so die fehlerhafte Annahme, seien weitgehend nur Lehranstal­ten gewesen, während die eigentliche (Grundlagen-)Forschung an den Akademie-Instituten stattgefunden habe. Dies war zwar ein Ziel der SED-Wissenschaftspolitik seit 1968 gewesen. Es wurde aber nicht umgesetzt, da sich die Hochschulen subku­tan dagegen wehrten, zu reinen Lehranstal­ten degradiert zu werden. Nun sollten über ein groß angelegtes Sonderprogramm, das Wissenschaftler-Integrations-Programm (WIP), 1.700 AkademieforscherInnen in die Hochschulen integriert werden. Tatsächlich aber hatten die Hochschulen beträchtliche eigene Forschungspotenziale und mussten im übrigen Personal abbauen. Daher fielen die meisten der vormaligen Akademiefor­scherInnen, die sämtlich positiv evaluiert waren, nach Auslaufen der WIP-Förderung wieder aus den Strukturen heraus.

Der weitgehende Verzicht auf das vor­handene Personal und auf die fast kom­plette ostdeutsche Nachwuchskohorte hatte eine wesentliche Voraussetzung: Die akademische Grundversorgung Ostdeutsch­lands konnte vergleichsweise problemlos aus den vorhandenen personellen Ressour­cen der westdeutschen Wissenschaft erfol­gen. Dies verschaffte auch AnwärterInnen eine Chance, die nach menschlichem Ermessen in der westdeutschen Normalsi­tuation ihre Chancen ausgereizt hatten, ohne auf eine Professur gelangt zu sein.

Kollision der Wissenschaftskulturen

Hinzu traten hierarchische Unterschiede. Die ostdeutschen WissenschaftlerInnen saßen nach dem Umbau an den Hochschu­len typischerweise auf C3- statt C4-Stellen, waren häufiger an Fachhochschulen als an Universitäten anzutreffen, eher Stellvertre­ter denn Chefs. Insgesamt hatte nahezu jede/r Wissenschaftler/in in Ostdeutsch­land seit 1990 eine Veränderung des beruf­lichen Status erfahren: »Beendigung oder Neudefinition der Karrieren nahezu aller DDR-Wissenschaftler«, fasste dies Dieter Simon, seinerzeit Wissenschaftsratsvorsit­zender, zusammen. Für einige in der DDR benachteiligte WissenschaftlerInnen hatte der Vorgang auch zuvor undenkbare Chan­cen geboten. Gleichzeitig wurden aber auch früher benachteiligte Wissenschaftler von der allgemeinen Welle des Stellenabbaus erfasst.

Die deutsch-deutsche Wissenschaftszu­sammenführung war auch eine Kollision zweier extrem fremder Wissenschaftskultu­ren. Gemäß der Einschätzung von Wolfgang Kaschuba, Ethnologe an der Humboldt- Universität zu Berlin, könne die Situation durchaus im Stile eines ethnologischen Feldtagebuchs beschrieben werden: »Fremde rücken in das Gebiet einer indige­nen Stammeskultur vor, sie übernehmen dort die Schlüsselpositionen der Häuptlinge und Medizinmänner, zerstören einheimi­sche Traditionen, verkünden neue Glau­benssätze, begründen neue Riten. Das klas­sische Paradigma also eines interethni­schen Kulturkonflikts, nur dass sein Schau­platz nicht in Papua-Neuguinea liegt, son­dern ganz unexotisch nah, in Berlin, Unter den Linden.« Auswirkungen hatte dies vor allem in Konkurrenzsituationen, in denen Ost- und Westdeutsche aufeinanderstießen. Hier kam es zu einer wechselseitigen Befestigung zweier Tatbestände: Die hierar­chische Untergeordnetheit verursachte eine schwächere Vertretung der Ostdeut­schen in örtlichen wie in überregionalen akademischen und wissenschaftspoliti­schen Gremien. Das behinderte sie darin, ihre unzulängliche Verfügung über symbo­lisches, (wissenschafts-)politisches und ökonomisches Kapital aufzuholen. Infolge­dessen wurde wiederum die Unterreprä­sentanz in Entscheidungsgremien perpe­tuiert.

Das gilt bis heute. Eine aktuelle Studie zur Zusammensetzung der Leitungen deut­scher Universitäten stellte jüngst fest: Aus den ostdeutschen Bundesländern stammt keiner der aktuellen UniversitätsleiterIn­nen. Da es 81 öffentliche Universitäten in Deutschland gibt und heute 20 Prozent der deutschen Bevölkerung in den östlichen Bundesländern inklusive Berlin leben, müsste man statistisch 16 Universitäts rektorinnen oder -präsidenten ostdeut­scher Herkunft erwarten.

Insgesamt wurde in den 1990er Jahren eine Systemintegration der ostdeutschen Hochschulen vollzogen, die jedoch nicht mit einer Sozialintegration einherging. Der ostdeutsche Hochschulumbau hatte sich als ein Anpassungsprozess an das normsetzende und strukturtransferierende westdeutsche Hochschulsystem vollzogen. Dieser Vorgang war gekennzeichnet durch einen (zu) engen Zeitrahmen, Schwächen der Problemdefinition, in ihrem An ­spruchsniveau stark differierende Zielsetzungen, ungleiche Organisiertheit der Interessen und dadurch dominierenden Einfluss von westdeutschen Interessen ­kartellen.

Peer Pasternack war 2002–2003 Staatssekre­tär für Wissenschaft im Senat von Berlin und ist Direktor des Instituts für Hochschulfor­schung an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg.

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Die Treuhandanstalt trug maßgeblich dazu bei, dass eine Angleichung der Wirtschafts­produktivität des Ostens an den Westen unterblieb.

VON JÖRG ROESLER

Dieses Wahlergebnis hatte kaum jemand in der DDR erwartet: Am 18. März 1990 holte sich die von Helmut Kohl initiierte »Allianz für Deutschland« 45,2 Prozent der Stimmen (die CDU allein 40,9 Prozent) und ließ die Gegenkandida­ten Oskar Lafontaine (SPD) und Hans Modrow (PDS) weit hinter sich. Eine Mehrheit der WählerInnen wollte offen­sichtlich keine Experimente, wie sie die Modrow-Regierung zu Jahresanfang begonnen hatte, sondern mehr Konsum und so rasch wie möglich die D-Mark. Der Soziologe Rainer Kollmorgen kommen­tierte die Wahlentscheidung bissig: »Viele Ostdeutsche hätten im März 1990 einer Art ›implizitem Gesellschaftsvertrag‹ zugestimmt: Wir lassen uns ganz gern enteignen, wenn wir dafür den Wohlstand des Westens bekommen.«

Damit war der Weg frei für die von Lothar de Maiziere geführte Koalitionsre­gierung der Ost-CDU, die genau das aus­führte, was Kanzler Kohl und was die Kon­zerne der Bundesrepublik wollten. Im Mai akzeptierte die neue DDR-Regierung die »Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion«. Kohl hatte mit seinen Vorstellun­gen von der raschen und radikalen Ein­führung der Marktwirtschaft in der DDR auf der ganzen Linie gesiegt.

Die Treuhand als »Privatisierungsdienststelle«

Dass die Bundesregierung an der Treu­handanstalt (THA) festhielt, kam für man­che BeobachterInnen überraschend. Die Regierung Modrow hatte am 12. März 1990, dem letzten Tag der Amtszeit, eine »Anstalt zur treuhänderischen Verwal­tung des Volkseigentums« gegründet, damit die Anfang März 1990 aus dem Sys­tem staatlicher Kontrolle entlassenen Volkseigenen Betriebe (VEB) weder »her­renlos« noch die bisherigen Leiter zu de facto EigentümerInnen werden würden.

Bundesfinanzminister Theo Waigel (CSU) sah in ihr ein brauchbares Instru­ment »bei der Privatisierung des Indus­trie- und Grundvermögens«, wie er ver­lautbarte. Damit waren die Vorstellungen von Eigentumsvielfalt und verschiedenen Formen des Gemeineigentums, die die SchöpferInnen der Treuhand zunächst vertreten hatten, passé.

Die nunmehr als reine »Privatisierungs­dienststelle« konzipierte Treuhandanstalt nahm am 1. Juli 1990 ihre Arbeit auf. Die aus der DDR stammenden Kader, die unmittelbar nach der Gründung der Anstalt ihre Arbeit aufgenommen hatten, wurden einer »Reinigung« unterzogen. MitarbeiterInnen aus dem Westen besetz­ten rasch die oberen Ränge in den Ressorts. Sie prägten entscheidend die Art und Weise, wie – mit welchem Ziel und in welchem Tempo – die Treuhandanstalt die Privatisierung betrieb. Die von Wider­spenstigen gereinigte ostdeutsche Mit ­arbeiterInnenschaft hielt sich an die Weisungen ihrer Westchefs, auch wenn sie diese unter sich hinter vorgehaltener Hand als »Besserwessis« kritisierte.

Der Treuhand unterstanden im Dezem­ber 1990 fast 9.000 ehemalige VEB. Unge­fähr 50 Prozent dieser Betriebe wurden an PrivateigentümerInnen verkauft. Die übrigen befanden sich am Ende der Treu­handtätigkeit »in Liquidation«. Die Masse dieser Betriebe, die keine KäuferInnen gefunden hatten, wurden erst von der »Bundesanstalt für vereinigungsbedingte Sondervorhaben« (BvS), die 1995 Nachfol­gerin der Treuhand wurde, offiziell still ­gelegt. Das Firmensterben dieser ver­schmähten ehemaligen VEB hatte enorme Auswirkungen auf die Beschäftigung in den neuen Bundesländern. Aber auch in den aufgekauften Treuhandbetrieben wurde die Beschäftigtenzahl rücksichtslos reduziert.

Radikale Privatisierung und Deindustrialisierung

»Blühende Landschaften« wie in der Bun­desrepublik hatte Kanzler Kohl den Ost­deutschen versprochen, als er im März 1990 auf Wahlkampftour durch die DDR reiste. Die Bundesregierung versprach Mil­liardenkredite bereitzustellen, um das Auf­holen zu beschleunigen und die Anglei­chung an das westdeutsche Wirtschafts- und Wohlstandsniveau so bald wie möglich zu erreichen. Gegenüber Senatoren des US-amerikanischen Kongresses präzisierte Kohl: »In drei bis vier Jahren werde die DDR ein blühendes Land sein.«

Die tatsächliche Entwicklung verlief anders. Zunächst einmal ging es infolge der überstürzten Einführung der bundes­deutschen Marktwirtschaft und der radi­kalen Privatisierung der Industriebetriebe, bald auch als »Schocktherapie« charakteri­siert, mit der DDR-Wirtschaft abwärts. Als im Juli 1990 die zwischen der Bundesregie­rung und der Regierung de Maiziere ver­einbarten Regeln der »Wirtschafts-, Wäh­rungs- und Sozialunion« in Kraft traten, wurden etwa 5.000 von 8.000 Treuhandbe­trieben zahlungsunfähig, weil sie durch die Umtauschquote von Mark in DM außeror­dentlich benachteiligt wurden. Um weiter produzieren zu können, mussten sie Anträge auf Liquiditätskredite in Höhe von 23 Mrd. DM stellen. Beim Verkauf derjeni­gen Betriebe, für die es im Westen Interes­sentInnen gab, wurden Glieder aus dem arbeitsteiligen System der DDR-Wirtschaft nacheinander herausgebrochen und – in der Regel – als »verlängerte Werkbänke« in das Zuliefersystem der sie aufkaufenden Westunternehmen eingeordnet. Die ost­deutsche Wirtschaft verlor so ihren inne­ren Zusammenhalt, der sich in 40 Jahren DDR herausgebildet hatte. Ebenso wurden ihre nach 1945 aufgebauten günstigen Export- und Importverbindungen nach Osteuropa gekappt.

Die Zerstörung der arbeitsteiligen Strukturen blieb nicht ohne Auswirkun­gen auf den Abstand im Wirtschaftsniveau zwischen Ost- und Westdeutschland. Bis 1991 nahm der Rückstand in der Leis­tungskraft der ostdeutschen Wirtschaft – ganz anders als es die bundesdeutschen wirtschaftswissenschaftlichen For­schungsinstitute, auf deren Aussagen sich Kohl und Waigel stützten, verkündet hat­ten – nicht ab, sondern drastisch zu. Basierend auf den Angaben von zwei maßgeblichen bundesdeutschen For­schungsinstituten erreichte die DDR-Wirt­schaft 1989, gemessen am Niveau der Bundesrepublik (dieses = 100 gesetzt) in puncto Arbeitsproduktivität einen Wert von 56 Prozent. Ihre Wirtschaftskraft war also nicht viel mehr als halb so stark wie die der BRD, die allerdings wirtschaftlich an der Spitze aller westeuropäischen Staaten stand. Nach der gleichen Berech­nungsmethode erreichte die Wirtschafts­kraft der DDR 1991 nur noch einen Wert von 33 Prozent. Dieser steile Produktivi­tätsabfall widerspiegelt vor allem die ein­getretene Deindustrialisierung.

Massenarbeitslosigkeit und »Abwärtsmobilität«

Die Deindustrialisierung hatte nicht nur ihre ökonomische Seite, sondern auch eine soziale und eine kulturelle. Es trat eine Massenarbeitslosigkeit ein, wie sie der Osten Deutschlands seit der Weltwirt­schaftskrise Anfang der 1930er Jahre nicht mehr gekannt hatte. Hatte in Ost­deutschland die Zahl der KurzarbeiterIn­nen im zweiten Halbjahr 1990 schon eine dreiviertel Million und die der Arbeitslo­sen eine Viertelmillion betragen, so arbei­teten ein Jahr später bereits anderthalb Millionen kurz und fast eine Million Ost­deutsche waren arbeitslos. Für 1993 waren von den neuen BundesbürgerInnen »77 Prozent einer Abwärtsmobilität aus­gesetzt«, wie der Soziologieprofessor Michael Hofmann von der Universität Dresden einschätzt. Viele Ostdeutsche sahen ihr Lebenswerk zerstört, unter ihnen verbreiteten sich Enttäuschung, Verbitterung und Wut. Birgit Breuel, von 1992 bis 1994 Treuhandpräsidentin, gab 1992 in einem Artikel in der »Zeit« zu: »Die Menschen in Ostdeutschland sind einem Veränderungsprozess ausgesetzt, der schier unglaublich ist.«

Nachdem der erste Schock überwunden war, bewegte sich die ostdeutsche Wirt­schaft, die in ihrer Funktionsweise und mehr noch in ihrer Eigentumsstruktur der westdeutschen angeglichen wurde, wieder voran. 1995, als die Treuhand den Privatisierungsprozess in den neuen Bun­desländern weitgehend abgeschlossen hatte und die BvS die Verwaltung des Res­tes des früheren Volkseigentums über­nahm, hatte die Wirtschaft der neuen Bundesländer den Abstand zum »Westniveau« deutlich verringert. Statt 33 wur­den 59 Prozent der Wirtschaftskraft der alten Bundesländer erreicht. Der Anglei­chungsprozess vollzog sich in den folgen­den Jahren allerdings nur langsam. In der zweiten Hälfte der 1990er Jahre, als die Wirtschaftskraft der neuen Bundesländer auf nur 60 Prozent im Jahre 2000 stieg, war er kaum spürbar. Bis 2005 wurden 66 Prozent des Niveaus der alten Länder erreicht.

Damit trug die Treuhandanstalt ent­scheidend dazu bei, dass die Vereinigung beider deutscher Staaten in Bezug auf Wirtschaftsproduktivität und Wohl­standsniveau nicht zur Angleichung des Ostens an den Westen führte, wie von der Regierung in Bonn versprochen und von einer Mehrheit der DDR-Bürger 1990 mit ihrer Stimme für die Einheit Deutschlands bezweckt wurde. Neben der wirtschaft­lichen Deindustrialisierung führte dies in den neuen Bundesländern zu negativen Folgen im sozialen Bereich, etwa zu Mas­senarbeitslosigkeit und – infolge des weitgehenden Elitenausaustauschs – zur Unterrepräsentanz bzw. Unterord­nung der Ostdeutschen in der vergrößer­ten Bundesrepublik. Ihr Erleben, dass die »Besserwessis« im Umgang mit den »anderen Deutschen« in der Regel nur ihre erspähbaren eigenen unmittelbaren Vorteile vor Augen haben, trug entscheidend dazu bei, dass der Unmut der Ostdeutschen bis heute geblieben ist.

Jörg Roesler war Pro­fessor für Wirtschafts­geschichte an der Aka­demie der Wissenschaf­ten der DDR. Danach lehrte er als Gastpro­fessor in Kanada und den USA.

Literaturtipp: Jörg Roesler: Geschichte der DDR. Köln: PapyRossa 2018, 130 Seiten, 9,90 Euro

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