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Die chilenische Gesellschaft entdeckt wieder die Empathie. Aktivist*innen von Chile desperto in Wien berichten über Hintergründe der aktuellen Umwelt- und Protestbewegung in Chile.
Von ALEXANDER STOFF
Die gegenwärtige Protestbewegung in Chile hat ihren Ausgang genommen, als Schüler*innen gegen die Erhöhung der Fahrpreise im öffentlichen Nahverkehr protestierten. Doch schnell hat die Bewegung auf den Rest der Gesellschaft übergegriffen und die Forderungen haben sich dabei vervielfältigt. Nach einer Verschnaufpause über die Weihnachtsfeiertage, an denen die Menschen ihre Kräfte sammelten, gehen heute immer noch viele auf die Straße, inzwischen besser organisiert, so Gabriela Jorquera. Neue, kreative Protestformen sollen zeigen, dass die Menschen füreinander einstehen. Auf Plätzen und Straßen wurden etwa große Tische aufgestellt und Gemeinschaftsessen veranstaltet. Im Dezember ist besonders die feministische Bewegung sichtbarer aufgetreten und hat anderen Gruppen der Protestbewegung Raum gelassen, um sich neu zu formieren. So hat sich die Performance »Un violador en tu camino« (Ein Vergewaltiger auf deinem Weg) des Kollektivs Las Tesis aus Valparaiso wie ein Lauffeuer über Chile hinaus weltweit verbreitet.
Breite Proteste
Auch wenn bisher durch die Protestbewegung auf politischer Ebene nur bedingt etwas bewirkt wurde und die Regierung mit kleinen Zugeständnissen wie Lohnerhöhungen und einer Neubesetzung von Regierungsämtern reagiert hat, wurde innerhalb der chilenischen Gesellschaft etwas verändert. Die gegenwärtige Protestbewegung führt dazu, dass in den Familien wieder mehr geredet und Empathie stark gemacht wird, sagt Vanessa Saavedra. Der Neoliberalismus in Chile hat einen Individualismus hervorgebracht, der den Leuten vermittelte, dass jede*r es zu etwas bringen könne, solange er*sie etwas leiste. Doch die Menschen erkennen nun, dass dem nicht so ist. Obwohl sie ihr Leben lang in die privaten Pensionskassen eingezahlt haben, bekommen die Menschen am Ende nichts heraus. Für Schulbildung und Gesundheitsversorgung müssen sich viele hoch verschulden. Auch über Klassenunterschiede hinweg wird heute mehr aufeinander geschaut, stellt Gabriela Jorquera fest. Bemerkenswert ist, dass die Protestbewegung sehr breit aufgestellt ist und sich auch Menschen daran beteiligen, die früher für Pinochet waren und kein Problem mit der Diktatur hatten. Die Hoffnung, etwas bewegen zu können, treibt die Leute weiter an, auf die Straße zu gehen. Die beschränkten Maßnahmen der Regierung reichen nicht, um die Menschen zufrieden zu stellen, denn sie kämpfen für grundlegende Veränderungen. In den vergangenen Jahrzehnten dominierte in Chile eine große Angst vor den Staatskräften. Die Menschen zogen sich ins Private zurück, jede*r kämpfte für sich und wollte Ruhe. Doch »jetzt haben die Leute keine Angst mehr. Sie gehen auf die Straße und wissen, sie können angeschossen werden, ihre Augen oder ihr Leben verlieren. Aber sie gehen weiter auf die Straße«, sagt Gabriela Jorquera.
Menschenrechtslage
Die Dynamik der Proteste entwickelte sich bald nach dem Beginn im Oktober 2019 zu einem Ausbruch, bei dem es auch zu Randale und Sachbeschädigung kam. Doch die chilenische Regierung und Staatskräfte reagierten darauf mit Gewalt und es kam zu unzähligen Menschenrechtsverletzungen durch die Polizei und während des vorübergehend verhängten Ausnahmezustandes auch durch das Militär. Mindestens 23 Menschen wurden im Zuge der Proteste getötet, tausende eingesperrt und viele misshandelt, darunter auch Kinder. Neben sexualisierter Gewalt gegen Frauen und LGBTIQ-Personen durch Staatskräfte wurden auch Menschen wie in Diktaturzeiten verschleppt, ohne dass ihr Aufenthaltsort bekannt ist. Mittlerweile haben mehr als 350 Menschen ein oder beide Augen verloren, nachdem sie durch Geschoße der Polizei verletzt wurden. Die Regierung leugnet in der Öffentlichkeit, dass Menschenrechte in Chile verletzt werden.
Polizisten, die Menschenrechte verletzen, haben de facto mit keinen Konsequenzen zu rechnen. Regierung und Vorgesetzte lassen den Tätern freie Hand. Die Berichte von Amnesty International und der UN werden durch die Regierung nicht ernst genommen. Juristische Ermittlungen gegen einzelne Polizisten und sogar gegen Präsident Piñera sind im Laufen. Vertreter*innen von Chile desperto erwarten sich internationale und europäische Unterstützung, auch durch die Zivilgesellschaft, und hoffen darauf, dass politischer Druck auf die chilenische Regierung ausgeübt wird, damit die Verantwortlichen für Menschenrechtsverletzungen zur Rechenschaft gezogen werden, so Sergio Patricio.
Was will die Protestbewegung?
Inzwischen richtet sich die Protestbewegung gegen das neoliberal-kapitalistische Regime als Ganzes und eine zentrale Forderung ist der Rücktritt der Regierung des rechtsextremen Präsidenten Sebastian Piñera. Die Kritik wendet sich auch gegen die Vorgängerregierungen, die in den fast 30 Jahren seit dem Ende der Diktatur von Augusto Pinochet an den sozioökonomischen und politischen Kontinuitäten wie der massiven sozialen Ungleichheit nichts geändert haben.
In den cabildos genannten Versammlungen trifft sich die Bevölkerung und es wird über verschiedene gesellschaftliche Themen debattiert. Schließlich werden Vorschläge zu Papier gebracht, von denen sich die Menschen eine Lösung sozialer Probleme erwarten, und den parlamentarischen Gremien wie dem Kongress vorgelegt. Auch die während der Pinochet-Diktatur beschlossene und immer noch gültige Verfassung ist Gegenstand von Diskussionen. Stimmen nach einer neuen Verfassung werden laut. Die Rechte der indigenen Mapuche und ihre Territorien werden aufgegriffen. Dazu kommt der Umgang mit den natürlichen Ressourcen, besonders Wasser. Die Wasserversorgung wurde privatisiert und vor allem spanische und transnationale Konzerne haben darauf Zugriff. Diese arbeiten rein profit-orientiert und bringen den Großteil des Wassers außer Landes. Ein weiterer Punkt ist die soziale Sicherheit. Denn in Chile sind die meisten Bereiche privatisiert, was auch als neoliberales Erbe auf die Diktatur zurückgeht. Soziale Versorgung erhält nur, wer es sich leisten kann, und lebenswichtige Bereiche wie das Bildungs- und Gesundheitswesen sind extrem teuer.
Die Protestbewegung richtet ihre Kritik auch gegen die manipulative Berichterstattung der bürgerlichen Medien in Chile. Gezeigt werden Bilder von ausgebrannten Autos und Zerstörungen, was nur Randphänomene bei den Protesten sind. »Es wird immer die Seite der Polizisten gezeigt. Verletzte Polizisten werden mit Kameras im Spital besucht. Aber diejenigen, die ihre Augen verloren und 60 Schrotkugeln im Körper haben, werden nicht besucht und gefilmt«, sagt Gabriela Jorquera. Auch versuchen Medien, alte Ängste vor einer kommunistischen Verschwörung aus Venezuela und Kuba zu schüren. Regierungsvertreter*innen hatten zuvor behauptet, Außerirdische und eine koreanische Popband seien verantwortlich für die Proteste. Doch all dies wirkt nicht, denn die Menschen auf der Straße lassen sich von solchen absurden Vorstellungen nicht beirren.
Jorquera stellt fest, dass Angehörige von indigenen Gruppen wie den Mapuche jetzt anders wahrgenommen werden. Es gibt mehr Selbstbewusstsein bei Indigenen, und die Protestbewegung erklärt sich solidarisch mit ihren Forderungen. Wo früher ein abwertender Blick auf »schmutzige« Indigene vorhanden war, wird heute anerkannt, dass in Regionen, wo die Mapuche leben, für die Umwelt gesorgt wird – das Wasser ist sauber, die Fischbestände bleiben erhalten und die Wälder werden nicht gerodet. Bei den Protesten wird auch ein anderer Umgang mit dem kolonialen Erbe sichtbar, denn Denkmäler von spanischen Konquistadoren und Heeresführern werden in vielen Städten niedergerissen oder verhüllt.
Solidarität
Sergio Patricio ist selbst noch während der Diktatur aufgewachsen und hat den politischen Übergang zur bürgerlichen Demokratie miterlebt. Er erinnert sich an ein Gefühl der Hoffnungslosigkeit in seiner Generation. Im Moment hat Sergio Patricio Hoffnung, dass die sozialen Bewegungen in Chile Veränderungen erreichen können. Dennoch ist die Situation schwierig, da Nachbarländer in der Krise sind. So gab es in Bolivien einen Putsch gegen Evo Morales. Für Sergio Patricio ist es eine erschreckende Erfahrung, nach der Diktatur ein zweites Mal in seinem Leben schwere Menschenrechtsverletzungen mitansehen zu müssen: »Für uns ist es wirklich wie ein zweites Trauma.«
Chilen*innen im Ausland, die sich über das Internet informierten und sich wegen der Gewalteskalation Sorgen machten, haben sich mittlerweile in 30 Ländern zusammengefunden und begonnen, sich zu vernetzen, um auf die Situation in Chile aufmerksam zu machen. Eine der Gruppen von Chile desperto ist auch in Wien tätig. Im Vergleich zu anderen Städten wie Barcelona und London ist die Gruppe in Wien allerdings von überschaubarer Größe. Dennoch konnten auch hier Aktionen wie eine Demonstration und Trauerkundgebung organisiert werden, an denen mehrere hundert Menschen teilgenommen haben. Für die nächste Zeit sind verschiedene Aktivitäten geplant wie eine asamblea (Versammlung), Filmabende und eine Veranstaltung über Militär und Polizei in Chile. Am internationalen Frauentag, am 8. März, soll die Performance von Las Tesis noch einmal in Wien aufgeführt werden.
Nach einem Großbrand in der Stadt Valparaiso zu Weihnachten sammelte der Verein der chilenischen Community in Österreich, der keine politischen Ziele verfolgt, Geld für Nahrung, Materialien und Ärzt*innen und schickte es nach Chile. Über berührende Momente bei Chile desperto sagt Gabriela Jorquera: »Es war schön, wie Menschen aus der älteren Generation von Chilen*innen auf uns zugekommen sind und meinten: Wir haben eigentlich gedacht, dass der Kampf mit uns sterben wird. Wir haben die Diktatur überlebt, sind ins Exil gegangen und haben Solidaritätsarbeit geleistet. Mit Tränen in den Augen haben sie gesagt, dass es schön zu sehen ist, dass es noch eine andere Generation gibt, die weitermachen wird.«
Die Erderwärmung als Herausforderung für Naturwissenschaften, Politik und Alternativen.
VON LUIS CORTÉS BARBADO
In den letzten beiden Jahrzehnten herrschte in den Naturwissenschaften nahezu uneingeschränkter Konsens zu den Kernaussagen den Klimawandel betreffend. Dieser Konsens wird im fünften Bewertungsbericht des Zwischenstaatlichen Expertengremiums für Klimaänderungen (IPCC) zum Ausdruck gebracht: Die Erderwärmung ist real, es ist höchstwahrscheinlich, dass ihre Hauptursache in menschlicher Aktivität liegt und dass sie schon in nächster Zukunft starke negative Auswirkungen auf Mensch und Umwelt haben wird. Den Temperaturanstieg auf unter 2 °Celsius zu senken ist unvermeidbar, sollen die schlimmsten Katastrophenszenarios verhindert werden. Außerdem stehen uns nur mehr zwölf Jahre zur Verfügung, um jene Schritte zu unternehmen, die notwendig sind, um die Treibhausgasemissionen drastisch zu verringern.
Obwohl wesentliche Erkenntnisse über den – durch Gasemissionen infolge menschlicher Aktivität verursachten – Treibhauseffekt vorliegen, die weiten Teilen der Bevölkerung auch relativ gut bekannt sind, gibt es andere wichtige Aspekte, über die ein breites Publikum wenig weiß. Ich möchte hier auf zwei wichtige hinweisen.
Irreversible Treibhausgasemissionen
Wenn wir die Emissionen verringern oder sie gar ganz abstellen, kann es uns gelingen den Temperaturanstieg zu verlangsamen oder ihn sogar aufzuhalten; aber alle Veränderungen, die wir letztlich herbeiführen, werden für lange Zeit irreversibel sein. Sind die Treibhausgase einmal in die Atmosphäre gelangt, verfügen wir über keine bekannte Methode, sie auf effiziente Art und Weise zu beseitigen; weder gibt es eine natürliche Möglichkeit noch kann dies unter Einsatz der heute bekannten technischen Hilfsmittel noch mit jenen, die in der nächsten Zukunft entwickelt werden, gelingen.
Selbstverstärkender Temperaturanstieg
Der Temperaturanstieg kann sich ab einem bestimmten Punkt auf unkontrollierbare Weise selbst verstärken; dies deshalb, weil es unter den Folgen des globalen Temperaturanstiegs einige gibt, die die Temperatur noch weiter steigen lassen. Der Gehalt an Wasserdampf (einem natürlichen Treibhausgas) in der Atmosphäre nimmt zusammen mit der Temperatur zu. Das Schmelzen des Eises in den Polargebieten führt zu einer höheren Absorption an Sonnenlicht und in der Folge zu mehr Erwärmung. Das Auftauen des Permafrosts setzt große Mengen an Methan (einem weiteren Treibhausgas) frei. Das Ausmaß und die Ausbreitung von Waldbränden aufgrund höherer Temperaturen tragen durch die Verbrennungsprozesse zu Treibhausgasen bei und zerstören die Wälder, die CO2 absorbieren. Ein derart sich selbst verstärkendes Katastrophenszenario, würde – ungeachtet, ob wir es schaffen, die menschengemachten Emissionen zu stoppen – den Temperaturanstieg nicht verhindern, selbst wenn die Expert* innen des IPPC proklamieren, dass dies mit seiner Absenkung des Temperaturanstiegs auf unter 2 °Celsius erreicht werden könne.
Politische statt wissenschaftlicher Herausforderung
Alles, was die Naturwissenschaften sagen mussten, ist bereits gesagt. Sie werden uns weiterhin neue Dinge sagen und als Werkzeug erhalten bleiben, die wir sicher brauchen werden, um die auf uns zukommenden Herausforderungen zu bewältigen. Zum aktuellen Zeitpunkt ist unsere Herausforderung aber eine ausschließlich politische.
Die Naturwissenschaften haben genug Material zur Verfügung gestellt, das die Politik schon längst zum Handeln veranlasst haben müsste. Was heute den Klimawandel betreffend als wissenschaftlicher Konsens gilt, wurde von dem Physiker Svante Arrhenius Ende des 19. Jahrhunderts als wissenschaftlich begründete Hypothese aufgestellt, obwohl zum damaligen Zeitpunkt die negativen Folgen eines Temperaturanstiegs noch nicht vorhersehbar waren. Im Laufe des 20. Jahrhunderts gewann seine Hypothese mit den Fortschritten, die die Wissenschaft machte, an Plausibilität. Sie überdauerte alle zwischenzeitlich auftauchenden Kontroversen, die ihr den Weg verstellten, manche von ihnen aus wissenschaftlicher Sicht berechtigt, die meisten allerdings falsch und von den Interessen der großen Energiekonzerne geleitet. Bereits 1988 brachte der Physiker James Hansen seine ersten berüchtigten Warnungen über die schädlichen Auswirkungen der Erderwärmung vor.
Die Vorhersagen treten ein
Aktuell sind wir mit den ersten negativen Auswirkungen der bereits vor Jahrzehnten vorhergesagten Erderwärmung konfrontiert: Massenauswanderungen aus Zentralasien und Zentralamerika aufgrund von Dürren und anderen Veränderungen des Klimas oder die noch immer nicht eingedämmten Waldbrände in Australien sind deutliche Beispiele. Es ist wichtig, dass diejenigen, die noch immer Zweifel an den wissenschaftlichen Vorhersagen haben, Folgendes erkennen: Vergleichen wir die Vorhersagen der Wissenschaft mit dem, was sich bis 2020 tatsächlich ereignet hat, können wir feststellen, dass diese Prognosen äußerst genau waren. Aber selbst wenn die Prognosen wahr werden und eine kritische Situation eingetreten ist, sehen wir aufseiten der herrschenden Politik und Wirtschaft nur Tonnen an Propaganda, in denen sie ihre guten Absichten bekunden, aber kein konkretes Handeln. Die große Enttäuschung der jüngsten COP25-Konferenz ist der letzte Beweis dafür.
Markt vor Klima
Die Erderwärmung ist das beste Beispiel dafür, wie die kapitalistische Ökonomie auf drastische Art und Weise dabei versagt, sich den Herausforderungen unserer Zeit zu stellen. Wir wissen, dass es viele weitere Beispiele dafür gibt, etwa die Zunahme von gesellschaftlicher Ungleichheit, die Langlebigkeit der strukturellen Armut oder die rassistische und sexistische Diskriminierung. Während diese Probleme aber von den Sozialwissenschaften behandelt werden und dort (oftmals nur vordergründig) kritisiert werden, ist die Erderwärmung unbestreitbar ein Phänomen, das die Naturwissenschaften angeht.
Wir sollten dieses Faktum als Speerspitze gegen die entfesselte Marktökonomie einsetzen, die von sich weiterhin behauptet, sie sei überlegen darin, das Schicksal der Menschheit zu lenken. Das bedeutet allerdings nicht, dass wir alle anderen sozialen Probleme als zweitrangig sehen. Eine Bewältigung des Klimawandels, die den Großteil der Gesellschaft zurücklässt, wäre nicht nur höchst ungerecht. Sie wäre auch unmöglich, da sie die politische Unterstützung und Mobilisierung derjenigen braucht, die am meisten unter den Folgen jenes Wirtschaftsmodells leiden, das wir ändern müssen.
Was soll die Linke tun?
Angesichts der Dimension der Herausforderung wissen wir, dass ein vollständiger und schneller Wandel vonnöten ist. Aber diese Forderung auf den Straßen zu rufen, reicht nicht aus, die gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse erlauben keine abrupte Kehrtwende in der nötigen Kurzfristigkeit. Was also tun? Natürlich hat niemand eine Antwort darauf. Aber wir können vielleicht auf ein paar Dinge hinweisen, die wir nicht tun sollten. Aufzugeben angesichts dessen, was ein vor uns liegendes tödliches Schicksal ist, ist aus Prinzip keine Option für uns. Auch mag die Rolle des Außenseiters, der die harte Wirklichkeit beklagt und darauf wartet, dass die Dinge nur noch schlimmer werden, so dass sich die Menschen uns anschließen, verlockend klingen. Aber meines Erachtens ist dies genauso falsch. In einer gänzlich verzweifelten Situation sind die Menschen eher versucht, die Sirenenrufe der extremen Rechten mit ihren eingängigen Slogans zu hören als die bittere Wahrheit, zumindest bis es zu spät ist.
Österreich und Spanien: zwei verschiedenen Ansätze der Klimapolitik
Unsere linken Prinzipien über Bord zu werfen, nur um ein Programm mit scheinbar grünen Maßnahmen zu unterstützen, das aber bloß das herrschende Wirtschaftsmodell weiter stärkt, mag angesichts des Notstands nicht nach der allerschlechtesten Option klingen. Dies scheint der Weg zu sein, den die österreichischen Grünen mit ihrer Regierungskoalition eingeschlagen haben. Ich möchte jedoch diese Möglichkeit mit jener der gerade in Spanien zwischen der Sozialistischen Partei und der alternativen linken Partei von Unidas Podemos eingegangenen Koalition vergleichen.
In beiden Regierungsprogrammen kommt den Maßnahmen grüner Politik offenbar ein ähnlich starkes Gewicht zu. Die österreichische Regierung wird allerdings den Weg der Steuersenkungen und »Marktanreize« für die Unternehmen, die ökologische Praktiken umsetzen, beschreiten; das bedeutet mehr Reichtum und Macht für jene, die dafür verantwortlich sind, dass wir uns in der gegenwärtigen Situation befinden. Im letzten Jahrzehnt ist die Zahl der Milliardäre in Europa ebenso wie deren Reichtum in einem geradezu überbordenden Ausmaß gestiegen, während die übrige Gesellschaft mit einer Krise kämpfte. Sind es wirklich noch mehr »Anreize«, die sie brauchen, um grün zu werden?
Die Regierung in Spanien hat sich im Gegensatz dazu für eine (zugegebenermaßen geringe) Steueranhebung für die Spitzeneinkommen entschieden, um mehr öffentliche Ressourcen für die Umsetzung der notwendigen Politik, auch jener gegen den Klimawandel, zur Verfügung zu haben. Das geht in Richtung Schwächung der Macht der Großkonzerne, um sie in die Hände von demokratisch gewählten Einrichtungen zu legen. Können Sie erraten, welche Richtung eingeschlagen werden sollte, wenn wir erwarten, eines Tages die Befugnis zu bekommen, die wirklich alternativen Politiken umzusetzen, die es eher früher als später braucht?
Luis Cortés Barbado ist Physiktheoretiker und Mitglied der Kommunistischen Partei Spaniens
Die Beiträge von Dr. HELGA KROMP-KOLB zur Klimaproblematik, die seit Jahren vor der vernichtenden Entwicklung warnt, sind bisher auf wenig Gehör gestoßen. Hat das Thema im türkis-grünen Regierungsprogramm mehr Gewicht?
Die wissenschaftlichen Aussagen zum Klimawandel sind seit langem eindeutig; die Wissenschaft weist spätestens seit 1985 auf die Notwendigkeit einer Klimapolitik hin, um der Zunahme der Treibhausgaskonzentrationen durch Reduktion der Treibhausgasemissionen Einhalt zu gebieten. Vergebens. Erst die Schüler_innen, die in Sorge um ihre Zukunft auf die Straße gingen, änderten das Bild. Ganz deutlich in Österreich: Bei den Wahlen 2017 war Klima kein Thema, eineinhalb Jahre später dominierte es die Wahlen. Jetzt bemüht sich eine türkis-grüne Regierung, einen für beide Koalitionspartner tragbaren Weg zu finden.
Positive Klimaschutzansätze
Das Regierungsprogramm ist hinsichtlich Klimaschutz vielversprechend: Die Ziele, das Pariser Klimaabkommen umzusetzen, den von der neuen EU Kommission vorgeschlagenen Green Deal zu unterstützen und in Österreich bis 2040 auf Netto Null Treibhausgasemissionen zu kommen, sind aus wissenschaftlicher Sicht notwendig und zugleich ambitioniert. Es ist begrüßenswert, dass deren Erreichung die Verantwortung der gesamten Regierung ist, nicht nur bestimmter Ressorts. Das ist nicht nur politisch wichtig – auch der Bundeskanzler wird an der Zielerreichung gemessen werden, nicht nur der Vizekanzler oder die Umweltministerin –, es ist auch inhaltlich gerechtfertigt, werden doch in allen Ressorts Maßnahmen nötig sein, um die Ziele zu erreichen.
In diesem Sinn ist auch positiv, dass zentrale Klimaschutzmaßnahmen über verschiedene Ressorts verteilt sind, nicht alles einer Ministerin zugeteilt wurde. Dennoch wurde die Zusammenführung einiger Schlüsselbereiche im Umweltressort fortgesetzt – angesichts der fruchtlosen Diskussion über 140 km/h Tempolimits wahrscheinlich notwendig. Ein im Kanzleramt angesiedeltes Klimakabinett soll eine zentrale Steuerung der Klimapolitik ermöglichen. Grundsätzlich ist das begrüßenswert, allerdings hängt seine Wirksamkeit wesentlich davon ab, welchen Stellenwert der Kanzler diesem Kabinett zugesteht. Dazu gibt es derzeit keine Aussagen und naturgemäß keine Erfahrungswerte.
Steuern – klassisches Politikfeld
Ein ganz zentrales Element jeder Klimapolitik muss eine sozial-ökologische Steuer sein, d.h. eine Steuer, die das tut, was Steuern tun sollen, nämlich das Verhalten der Einzelnen, von Institutionen und der Wirtschaft steuern, d. h. lenken. Die Politik muss Rahmenbedingungen schaffen, die es einfacher und billiger machen, klimafreundlich zu handeln, als klimaschädlich. Das Freisetzen von Treibhausgasen muss etwas kosten, und zwar spürbar. Das trifft alle, die Produkte oder Dienstleistungen in Anspruch nehmen, die mit fossilen Energien erzeugt wurden – das sind derzeit praktisch alle. Im Schnitt werden die Mehrkosten für Wohlhabende höher sein als für Einkommensschwächere, weil diese weniger Leistungen in Anspruch nehmen. Aber selbst geringe Mehrkosten können für Einkommensschwache eine größere Belastung sein, als hohe Kosten für Wohlhabende. Daher muss darüber hinaus sichergestellt werden, dass wenigstens ein Ausgleich stattfindet, wenn dies nicht sogar als ein Instrument für die notwendige Umver teilung genutzt wird. Dementsprechend sind die lukrierten Steuereinnahmen einzusetzen. Es gibt verschiedene, auch bereits erprobte Möglichkeiten; welche gewählt wird, hängt von Wertvorstellungen ab und ist eine klassische Aufgabe der Politik.
Angesichts der Langfristigkeit der Aufgabe – es ist von den nächsten 20 bis 30 Jahren die Rede – wäre es vernünftig, bezüglich der Ausformung der sozial-ökologischen Steuer parteienübergreifenden Konsens herzustellen. Soll das Klima noch stabilisiert werden, müssen die Emissionen bis 2030 auf die Hälfte und bis 2040 auf Netto-Null gesenkt werden. Da kann man sich keinen Zick-Zack-Kurs bedingt durch Regierungswechsel leisten. Insofern macht es Sinn, sich dafür zwei Jahre Zeit zu nehmen, wie das im Regierungsprogramm vorgesehen ist. Tatsächlich sieht das Programm auch vor, die anderen Parteien einzubinden. Ob das allerdings auch für die Taskforce gilt, die zur Ausarbeitung der sozial-ökologischen Steuer vorgesehen ist, bleibt abzuwarten. Wichtig wäre überdies, dass in dieser Taskforce die Wissenschaft sehr stark vertreten ist, sollte es doch um von parteipolitischem Kalkül losgelöste Lösungen gehen.
Der Zeitfaktor
Dass die sozial-ökologische Steuer gegenüber den versprochenen Steuererleichterungen zeitverschoben umgesetzt wird, lässt allerdings befürchten, dass die zwei Jahre eher der Verzögerung dienen. Ein Kalkül könnte sein, dass der einen Partei die sofortigen Erleichterungen, und der anderen die potentiellen späteren Belastungen angelastet werden sollen. Damit würde Österreich, insbesondere der österreichischen Wirtschaft, ein schlechter Dienst erwiesen. Je später Planungssicherheit herrscht und je später die Treibhausgasemissionen reduziert werden, desto schneller muss es gehen und desto weniger sozial- und wirtschaftsverträglich wird der Prozess sein.
Das Regierungsprogramm sieht auch ein Klimagesetz mit CO2-Budget vor, d. h. dass festgelegt wird, wieviel Treibhausgase insgesamt noch emittiert werden dürfen. Das ist wichtig, weil dieser Ansatz auch dem Pariser Klimaabkommen zugrunde liegt und weil das wissenschaftlich die entscheidende Größe ist: Der Temperaturanstieg wird primär bestimmt durch die über die Jahre kumulierten Emissionen, nicht so sehr durch die Geschwindigkeit, mit der diese erfolgen. Dass alle Gesetze, Verordnungen, Förderungen etc. auf ihre Kompatibilität mit den Klimazielen geprüft werden, ist notwendig, es müsste nur auch sichergestellt werden, dass das Ergebnis handlungsrelevant wird.
Das Regierungsprogramm enthält noch eine Fülle sinnvoller und notwendiger Maßnahmen – etwa die klimaneutrale Verwaltung, die Vorbildrolle der öffentlichen Hand, den raschen Ausbau erneuerbarer Energien und des öffentlichen Verkehrs, das 1-2-3-Ticket, die dramatische Senkung des Flächenverbrauches, usw. Alle wesentlichen Handlungsfelder, die z.B. im Nationalen Energie- und Klimaplan angeführt sind, der als Referenz für die Politik und Gesellschaft von der Wissenschaft ausgearbeitet und publiziert wurde (Ref-NEKP), sind im Regierungsprogram angesprochen. Einige sind besser gelungen, andere weniger. So sind z.B. die Abschnitte zu Bildung und Forschung wenig innovativ, und auch die grüne Handschrift ist kaum erkennbar. Auch zur Einbindung der Bevölkerung findet man im Programm wenig Konkretes.
Druck auf Politik und Systemfrage
Als sehr problematisch müssen die Vorhaben zur fast vorbehaltlosen Digitalisierung angesehen werden, auch aus Klimasicht. Digitalisierung hat ungeheures Potential, die Ressourceneffizienz zu steigern, aber noch viel größeres, den Ressourcenverbrauch zu erhöhen. Damit die Digitalisierung tatsächlich einen Beitrag zu einer nachhaltigen Zukunftsentwicklung leistet, muss die Entwicklung gelenkt werden. Annehmlichkeiten, die jetzt niemandem fehlen, werden, wenn einmal zur Selbstverständlichkeit geworden, nicht mehr wegzubringen sein. Hier bedarf es vorausschauender Politik mit sehr viel Fingerspitzengefühl und die Einbindung unterschiedlicher Disziplinen und Stakeholder.
Ganz entscheidend ist natürlich die Frage, wie sichergestellt werden kann, dass das Programm auch umgesetzt wird. Ein wesentlicher Faktor für den Wahlerfolg der Grünen Partei war die Präsenz der Schüler_innen, später auch anderer Gruppierungen auf der Straße. Nur der Druck des Themas hat diese Koalition möglich gemacht. Es wird wichtig sein, dass die Umsetzung des Regierungsprogrammes in Hinblick auf die Klimapolitik kontrolliert und immer wieder eingefordert wird. Die Klimawissenschafter_innen werden die Entwicklungen jedenfalls sehr genau verfolgen. Angesichts der Kräfteverhältnisse in der Regierung und im Parlament muss aber der Druck auf die Politik trotz guten Programmes unbedingt aufrecht erhalten bleiben.
Abschließend sei noch die viel grundlegendere Frage angesprochen, ob die erklärten Klimaziele innerhalb des herrschenden Wirtschafts- und Gesellschaftssystems überhaupt erreichbar sind? Wenn man diese Frage mit »nein« beantwortet, dann muss man sich die Frage stellen, ob eine Ablöse des »Systems« so unmittelbar bevorsteht, dass man die Lösung der Klimaproblematik auf die Zeit nach einem Systemwechsel verlegen kann, denn die Zeit ist kurz. Dafür sind keine überzeugenden Anzeichen zu erkennen. Das bedeutet, dass man jedenfalls unter den gegebenen Randbedingungen beginnen muss. Setzt man einen ernsthaften Willen voraus, die Klimaziele zu erreichen, werden sich zwangsläufig Veränderungen im System ergeben. Die im Referenz NEKP dargelegte Vision gibt einen Hinweis darauf, wie solche Veränderungen aussehen könnten. Sie sind noch viel tiefgreifender, wenn man alle 17 nachhaltigen Entwicklungsziele der UNO (SDGs) mitberücksichtigt. Selbst diese Veränderungen mögen manchen nicht weit genug gehen. Aber von allen derzeit möglich erscheinenden Pfaden in die Zukunft erscheint der Weg über die Pariser Klimaziele und die SDGs als der erfolgversprechendste. Es wird eine der großen Herausforderungen der nächsten Jahre sein, die unvermeidbaren Veränderungen im gesellschaftlichen Konsens in nachhaltigere Bahnen zu lenken.
Helga Kromp-Kolb ist emeritierte Professorin an der Universität für Bodenkultur, Meteorologin und Klimaforscherin.
MELINA KEROU wirft einen Blick auf den von der GUE/NGL, der linken Fraktion im Europaparlament, veröffentlichten »Grünen und Sozialen New Deal für Europa«. Der Plan beharrt darauf, dass Klimaschutz und soziale wie wirtschaftliche Transformation Hand in Hand gehen müssen, soll eine Chance auf Erfolg bestehen.
CO2-Reduktion im Energiesektor
Durch den Vorschlag eines steileren Ziels in Form einer 70%igen Emissionsreduktion bis 2030 und einer gesetzlichen Bindung von Kohlendioxidneutralität an negative Emissionen bis 2050 kommt der Plan schnell zur Sache: der Forderung, alle Energiebereiche in öffentliches Eigentum zu überführen und die Bürger*innen an einer ›Klimaregierung‹ zu beteiligen. Es soll beim Übergang zu einem vollständig auf erneuerbaren Energien fußenden Energiesystem nicht mehr »Wachstum« und Profite für die Eliten der Wirtschaft generiert werden, während für die Arbeiter*innenklasse nur die Misere übrigbleibt. Es soll ein »gerechter Übergang« stattfinden, der dem Schutz der Natur einerseits, den Rechten und Bedürfnissen der Menschen andererseits Vorrang einräumt. Daraus ergibt sich alles Übrige: leistbare und verfügbare erneuerbare Energie mit staatlicher Preisregulierung für alle, kostenloser öffentlicher Verkehr, die Erfüllung verbindlicher Emissionsziele, nachhaltige Arbeitsplätze, verbesserte Lebens- und Arbeitsbedingungen, öffentliche Investitionen in neuartige und effizientere erneuerbare Energie, Kohlendioxidabscheidung und Technologien zur Müllverwertung.
Unternehmen vs. Klima
Die Hauptfeinde des gerechten Übergangs sind jene 20 Unternehmen, die fossile Brennstoffe erzeugen und für einen CO2-Ausstoß im Wert von fast 480 Milliarden Tonnen, umgerechnet einem Drittel aller Kohlendioxid-Emissionen seit 1965, verantwortlich sind. Dazu kommen die fünf größten fleisch- und milchproduzierenden Unternehmen, die zusammen die jährlichen Treibhausgas (THG)-Emissionen von Exxon, Shell oder BP übertreffen und die Giganten der agrochemischen Industrie, wie z. B. Bayer, die stickstoffhaltige Dünger und Spritzmittel produzieren und für den Großteil des in der Landwirtschaft anfallenden Distickstoffmonoxids (N2O) verantwortlich sind.
Der jedem Vorschlag für ein Klimaschutzgesetz zugrundeliegende Schlüssel besteht in der »Zähmung« dieser Industriegiganten, deren Bruttogewinne bei weitem das EU-Budget übertreffen, das für Klimaschutz vorgesehen ist. Die fünf größten börsennotierten Unternehmen (BP, Chevron, ExxonMobil, Shell, Total) geben jährlich 200 Millionen Dollar für Lobbying aus, um Klimaschutzpolitik zu verzögern oder offen zu blockieren. Dieser politische Hebel hat ihnen bisher ermöglicht, ihr ›Business as usual‹ fortzusetzen und sich enorme Summen via Steuerflucht zu ersparen. Gleichzeitig wandten sie nur magere Anteile an ihren Gewinnen für Straf- und Kompensationszahlungen aufgrund des Verursacherprinzips und für den äußerst problematischen Emissionshandel, und noch geringere für die Forschung im Bereich erneuerbarer Energien auf. Die Wiederaneignung des Energiesektors, eine der lukrativsten Quellen kapitalistischen Wachstums, kann deshalb nicht ohne die Rücknahme der neoliberalen Politiken, Regulierungen und Verträge erfolgen, die die Grundlage des Vorgehens der EU bilden. Bezeichnenderweise bestand eine der Forderungen der (aus Institutionen wie der Europäischen Zentralbank, der Europäischen Kommission und dem Internationalen Währungsfonds bestehenden) Troika gegenüber den von Austeritätspolitik und Krisen geschüttelten Ländern wie Griechenland in der Deregulierung und Privatisierung der staatlichen Wasser- und Energiesektoren. Darin besteht einer der bedeutendsten Kämpfe, mit denen die Linke konfrontiert ist.
Landwirtschaft und Lebensmittelproduktion neu denken
Ein zweites, den gesamten Grünen und Sozialen New Deal für Europa der GUE/NGL ebenso wie den Grünen EU-Deal durchziehendes Thema ist die Notwendigkeit einer radikalen Veränderung der Lebensmittelproduktion. Die von der EU vorgeschlagene »Vom-Erzeuger zum-Verbraucher«-Strategie zielt darauf ab, die Landwirtschaft, den Fischfang und die angeschlossenen Distributionsketten in Richtung Nachhaltigkeit umzugestalten, während gleichzeitig der Lebensunterhalt von Bauern und Bäuerinnen und Fischer*innen gesichert ist.
Die damit verknüpften Probleme sind zahlreich und komplex: Die industrialisierte Landwirtschaft ist aufgrund von Überdüngung mit Stickstoffdüngern, einem Prozess, der auch die nitratbedingte Verunreinigung des Grundwassers verursacht, für 75 Prozent der von Menschen erzeugten Distickstoffoxid (N2O)-Emissionen verantwortlich, eines Treibhausgases mit einem um ein 300-faches höheren Erderwärmungspotenzial als CO2. Ein Großteil der Feldfrüchte wird zur Verfütterung an Tiere angebaut, um unsere zumeist auf Fleischkonsum abgestellte Ernährung aufrechtzuerhalten, was wiederum für 25 Prozent der menschengemachten Methanemissionen durch Rinder verantwortlich ist. Zusätzlich dazu setzt der veränderte Gebrauch des Bodens weg von Waldnutzung hin zu landwirtschaftlicher oder Weidenutzung Kohlenstoff aus der Erde frei.
Umstellung der Eiweißversorgung
Die Förderung organischer, kleinflächiger Landwirtschaft und die Sorge um das Wohlergehen der Tiere sind löblich. Der von der GUE/NGL vorgelegte Plan berührt ein weiteres heikles Thema: Wie kann ein Wandel in der Eiweißversorgung (»Proteine Transition«) herbeigeführt werden? Die weltweite Bevorzugung einer an tierischem Eiweiß reichen Ernährung, in Kombination mit der Bevölkerungswachstumsrate, ist nicht nachhaltig. Daher wird die Förderung einer gesunden Ernährung, die wenig tierisches Eiweiß enthält und aus leistbaren, lokal erzeugten Lebensmitteln besteht, die den transportbedingten CO2-Fußabdruck möglichst vermeiden und ohne die exzessive Verwendung von Kunstdüngern und Spritzmitteln erzeugt werden, eine ebenso große Herausforderung für die kommenden Jahre darstellen wie die Lebensmittelüberproduktion und -konsumtion in der westlichen Welt. Wie zu erwarten, sind unsere primären Gegner diejenigen, die die Lebensmittelproduktion kontrollieren: die fleisch- und milchproduzierende Industrie, die Giganten der Agrochemie, die für die Lebensmitteldistribution zuständigen Monopole. Angesichts des Scheiterns der jüngsten europaweiten Kampagnen zur Regulierung der auf Glyphosat basierten Unkrautvernichtungsmittel von Monsanto (jetzt im Besitz von Bayer) wird diese Umstellung alles andere als leicht werden.
Bodenschutz
Der Plan der GUE/NGL schlägt eine Rahmenrichtlinie zum Schutz der Böden vor. Bodenerosion als Folge von durch den Klimawandel bedingte unregelmäßige Niederschläge und Temperaturmuster verringert ebenso wie die Änderung der Bodennutzung infolge intensivierter Landwirtschaft und der Stadterweiterung ins Umland die Kapazität des Bodens, als Kohlendioxidsenke zu fungieren, d. h. CO2 zu binden. Die Abnutzung von bereits landwirtschaftlich genutztem Ackerland führt zu niedrigeren Ernteerträgen, wodurch wiederum mehr Dünger eingesetzt werden muss, um die Produktionsziele zu erreichen.
Die Neudefinition von Landwirtschaft als »Versorgung des Ökosystems«
Eine Umstellung auf organische Landwirtschaft mit nachhaltigen Praktiken wird zu verringerten Ernteerträgen führen, wenngleich begleitet von einer Verbesserung der Lebensmittelqualität. Einer Studie zufolge, die für England und Wales ein Modell-Szenario erstellt hat, ist im Falle einer Umstellung mit einer Verringerung der Ernteerträge um 40 Prozent und mit einer Reduktion der Emissionen um 20 Prozent zu rechnen. Das gefährdet das bäuerliche Einkommen, weshalb die Rolle der Bauern und Bäuerinnen neu bestimmt werden muss, die weniger als Lebensmittelproduzent* innen denn als »Dienstleister*innen am Ökosystem« gesehen werden müssen, deren Aufgabe etwa in der Wahrung der Biodiversität, der Anwendung von Techniken der Kohlendioxidbindung und der Bewahrung und Verbesserung der Boden- und Wasserqualität besteht, wofür sie von der Gemeinsamen Agrarpolitik der EU (GAP) belohnt werden sollen. Dafür ist eine radikale Neuorientierung der GAP notwendig, weg von den extensiven und destruktiven monokulturellen Praxen der Vergangenheit, von einem problematischen Förderungssystem und der Begünstigung der Konzentration von Ackerland in den Händen von Konzernen und regionalen Monopolen.
Die globalen Folgen berücksichtigen
Der abschließende Punkt des GUE/NGL-Plans sieht eine radikale Veränderung der internationalen Rolle Europas vor. Weg von einem Manager von Freihandelsabkommen, die eine Zunahme von Exporten und steigendes Wachstum zum Ziel haben, und hin zu einem Garanten für Menschenrechte und Wegbereiter eines weltweiten ›Grünen und Sozial Gerechten Wandels‹. In erster Linie umfasst das den Rückzug aus destruktiven Projekten auf der ganzen Welt, etwas, was der EU derzeit nicht möglich scheint – siehe das jüngste Scheitern von Bestrebungen, die Investitionen von Siemens in die australische Kohlebergbauinfrastruktur zu verhindern. Der Ruf nach fairen und gerechten internationalen Handelsbeziehungen, die Klima- und soziale Ziele berücksichtigen, erfordert ein Abgehen von Vorstellungen des »unbegrenzten Wachstums«, wie sie in den EU-Gründungsverträgen festgeschrieben sind.
Schließlich sind die kühnsten Forderungen jene nach Schaffung des Status des »Klimaflüchtlings« und des internationalen Verbrechens des Ökozids, die lang erwartete Anerkennung einer schrecklichen Wirklichkeit, die schon längst menschliche Migrationsmuster hervorruft und die Welt, die wir kennen, verändert, wobei die Verantwortung für Verbrechen gegen die Natur in aller Deutlichkeit dem einzigen, sei es auch noch so verdeckten Verursacher zugeschrieben wird, dem Kapitalismus.
Melina Kerou ist Senior Scientist an der Universität Wien, Fakultät für Lebenswissenschaften, Department für Ökogenomik und Systembiologie.
Mein Körper gehört mir – welche oder wer dies glaubt, weiß nichts oder sehr wenig, denn diese Ansage ist purer Mythos.
von LISBETH N. TRALLORI
Die Versuche, den weiblichen Körper anzueignen und ihn für andere Interessen auszubeuten, lassen sich über Jahrhunderte hinweg verfolgen und durchziehen die gesamte westliche Wissenschaftsgeschichte. Nunmehr steht ein Wissen zur Verfügung, mit dem problemlos die Vereinnahmung erfolgen kann und des Weiteren die Vermarktung des Frauenkörpers zulässt. Spricht man von Vermarktung, dann tauchen die üblichen Bilder zu Prostitution, Sexismus, Verschleppung und Frauenverkauf oder zu realer wie auch virtueller Pornografisierung auf (Ekman 2016). Zumal diese Bilder eingerahmt sind von der neoliberalen Ökonomie, welche wiederum auf einem pervertierten Begriff von scheinbarer Selbstbestimmung fußt.
Einmal davon abgesehen, zeigen sich patriarchal erhobene Zuständigkeiten über den Frauenkörper ganz deutlich. Im Visier von Medizin, Naturwissenschaften, Biologie, diverser Religionen, konservativer Gesellschaftspolitik steht die weibliche Gebärfähigkeit, ebengleich zum privatim ernannten Freund, Partner, Ehemann.
Einzug in die Warenwelt
Neben diesen androzentrisch zu bewertenden Ansprüchen, die sich zumeist herrschafts-ideologisch artikulieren – »es war schon immer so«, »von Natur aus programmiert« oder »du gehörst mir« etc. – stellt sich die Frage, wie kommt es, dass aus biologischen Grundtatsachen, wie die eines Köpers, in einer demokratischen Gesellschaft Waren werden können und der Einzug in die Warenwelt gelingt? Seit dem rasanten Aufstieg einer repro-genetisch formierten Biopolitik kennen wir auch die Antwort. Es ist der Technologieeinsatz unter den Bedingungen einer biokapitalistischen Verwertungsmaschinerie und Industrie (vgl. Trallori 2015).
Ich möchte daran erinnern, dass bis dahin das menschliche Fortpflanzungs-Potential zu jenen Bereichen gehörte, die eben nicht-marktförmig organisiert waren, vielmehr galt die generative Reproduktion als eine intime Angelegenheit und fern jeglicher durchökonomisierter Warenwelt. Unter Anwendung repro-genetischer Technologien und unter dem Aspekt der Profitmaximierung gelang der Vorstoß in das Innere des Körpers, zielgerichtet auf menschliche Fortpflanzungsorgane. Dabei handelt es sich nicht nur um die Produktion von heterosexualisierten Verhältnissen, vielmehr von einer beliebigen, zellulären, technobasierten Aneignung zum Zwecke jeglicher reproduktiver Möglichkeiten zwischen allen Geschlechtern. Die Ausdehnung des Marktes resultiert auch aus dem Einbezug jener Personengruppen, die vormals von der Fortpflanzung ausgeschlossen waren, wie Angehörige der lesbian, gay, bisexual, intersexual bzw. transgender communities. Hochtechnisierte Verfahren zielen auf solche medizinische Interventionen, die für den Erhalt von Ovarien und Eierstockgewebe, Spermien oder von embryonalen Zellen zuständig sind. Danach erhalten sie ihren Status als Ware, die im Rahmen von Kliniken, Labors und Gewebebanken regulär vermarktet werden.
In diesem Zusammenhang sei darauf verwiesen, dass es kaum ein Labor auf der Welt gibt, das nicht mit jenen von Henrietta Lacks, einer Afroamerikanerin, stammenden Gebärmutterzellen bestückt ist und damit handelt (Skloot 2010). Ohne deren Wissen und Einwilligung sind ihre Tumorzellen entnommen und später patentiert worden. Seither sind diese »HeLa-Zellen« die am häufigsten kommerziell genutzten Körpersubstanzen in der biotechnologischen Forschung. Es handelt sich dabei um einen Unternehmenssektor, der stetig zugelegt hat. Derzeit beläuft sich der Gesamtmarkt für menschliches »Biomaterial« auf schätzungsweise 90 Milliarden US-Dollar (Kunow 2015, 58). Angesichts dieser Tatsachen erhebt sich eine Frage: Was ist eigentlich aus der humanistisch-feministischen Grundvorstellung von einer Unantastbarkeit des Leibes geworden? Und es ist davon auszugehen, dass diese Frage auch für die kommenden Generationen von Bedeutung sein wird.
Eizellen, Leih- und Mietmütter
Aus feministischer Sicht drängen sich beispielhaft zwei relativ neue Märkte auf: der Eizellenmarkt und der Leih- bzw. Mietmuttermarkt. In diesem marktintensiven Verwertungszusammenhang zeigt sich die biokapitalistische Ausrichtung der Life-Sciences-Industrie. Bei dieser Art der Vernutzung verschwinden faktisch Frauen als Personen hinter repro-genetischen Technologien und biokapitalistischen Interessen, denn aus ihnen werden »Rohstofflieferantinnen« für die Fortpflanzungsindustrie. Betrachten wir nur einmal die zum Geschäftsobjekt reduzierten weiblicher Eizellen, die aus einem Frauenkörper erst herausgenommen bzw. operativ entfernt werden müssen, um sozusagen einen »Marktwert« zu erlangen. Eine vitale, repromedizinische Industrie verlangt die fortlaufende Ernte dieser Fortpflanzungszellen, die als Rarität auf dem Markt gelten. Der in der englischen Sprache übliche Begriff »Egg-Donation« im Sinne einer freiwilligen Spende kann komplett aus unserem Vokabular gestrichen werden, vielmehr gibt es eine Reihe von ausweichenden Benennungen für die jeweilige marktübliche Bezahlung, so die sogenannte »Aufwandsentschädigung« oder Reisekosten- und/oder Hotelkosten-Ersatz etc. Ein unentgeltlicher Deal auf »freiwilliger« Basis ist illusorisch, Eizellen werden im Zuge von gynäkologischen Operationen »kalt« angeeignet oder günstig eingekauft bzw. auf globaler Ebene gegen Geld erworben.
Auf den internationalen Geschäftsfeldern für reproduktive Körpersubstanzen werden wahre Schlachten um weibliche Eizellen geschlagen, weil diese im Vergleich zu den milliardenhaft vorhandenen und leicht zu gewinnenden männlichen Keimzellen eine Kostbarkeit darstellen. Denn nur in den fruchtbaren Jahren reifen im Körper der Frau insgesamt 300 bis 500 Eizellen zum befruchtungsfähigen Stadium heran (vgl. Werner-Felmayer 2008). Da die Nachfragen wesentlich größer als die Angebote sind, gestaltet sich die Preisbildung gemäß der kapitalistischen Logik in ungeahnten Höhenlagen bis zu 120.000 Dollar – allerdings gilt dies nur für gebildete, weiße, junge New Yorker Frauen, die sich damit das Studium finanzieren können. Unter einer hinlänglich bekannten Rassifizierung können hingegen Frauen aus Ostländern oder Asien mit einem Entgelt von 500 Euro rechnen. Auf die profitable Ausnutzung sozialer, kultureller und ökonomischer Unterschiede macht der Dokumentarfilm »Google Baby« von Zippi Brand Frank aufmerksam. Der Trend zur ReproduktionsOrganisation mit eigenen Zulieferungs-, Verteilungs- und AbnehmerInnenketten rund um den Globus scheint unaufhaltsam zu sein. Darauf verweisen Reproduktionsfirmen wie beispielsweise Global-Art-Kliniken, die auf dem europäischen Markt, etwa in Rumänien, als auch auf anderen Kontinenten, so in den USA, in Lateinamerika, Asien und in Ländern wie Israel agieren.
Zudem kommt, dass mit dem Verfahren von »Egg Freezing« für eine gezielte Lebensplanung, speziell für junge Frauen, geworben wird. Ihnen wird die medizinische Prozedur zur Eizellentnahme aus ihrem Körper nahe gelegt, um diese in tiefgekühlten Bio-Depots, klarerweise gegen erhebliche Lagerungsgebühren, einzufrieren. Nach etlichen Jahren könnte dann, bei Bedarf, noch immer die gefrorenen Eizellen aufgetaut, im Labor fertilisiert, dann mit speziellen Maschinen bebrütet und danach in den Uterus eingesetzt werden. – So jedenfalls die Werbung für ein Verfahren, das auch von Konzernen wie Google oder Apple unterstützt wird.
Verdinglichung weiblicher Körperlichkeit
Klarerweise zeigt sich auch auf den Mietmuttermärkten die rasant vorangeschrittene technologische Verdinglichung von weiblicher Körperlichkeit. Auch diese Märkte sind durch enorme Unterschiede zwischen den Preisen des An- und Verkaufs gezeichnet. An weiblicher Armut und Ungleichheit, besonders in den Niedriglohnländern, wird profitiert. Die austragenden Mietmütter verrichten die vielfach unterbezahlte Schwangerschafts- und Gebärarbeit für die reiche Klientel aus der westlichen Welt. Vertragstexte schreiben ihnen den Tagesablauf, Kontroll-Untersuchungen, sexuelle Enthaltsamkeit, Gefühllosigkeit und zumeist einen Kaiserschnitt vor – ehe sie das neugeborene Baby abliefern müssen. Bei Fehlgeburten oder einem »nicht-normgerechten Baby-Produkt« gehen sie ohnedies leer aus. Insofern ist mit der Vorstellung, dass eine global organisierte Mietmutterschaft nichts anderes als schöne Babys und selbstlose Frauen seien, aufzuräumen; die Mietmutterindustrie ist eine rücksichtslose Industrie, deren Kassen vom menschlichen Elend, Täuschung, schlechter Gesundheit und Kindern als Waren anschwellen (Klein 2018).
Im beschönigenden Marketing wird niemals auf die ernsthaften potentiellen Gesundheitsrisiken für die jungen Frauen hingewiesen, die als »Trägerinnen der Schwangerschaft« dienen. Vor allem fehlt es m. E. in den öffentlichen Debatten an fundierten Informationen über diese Thematik. Selbst wenn solche Debatten stattfinden, dann bleibt oftmals unterbelichtet, dass es sich um eine eklatante Missachtung von Frauen- und Menschenrechten handelt, denn Frauen sind menschliche Wesen und keine Waren! So ist auch evident, dass kleinere gesetzliche Korrekturen oder partielle Verbote nichts bringen – hier geht es insgesamt um eine komplette Transformation auf den Grundlagen einer neuen links-feministischen Gesellschaft.
Literatur:
Ekman, Kajsa Ekis (2016): Ware Frau: Prostitution, Leihmutterschaft, Menschenhandel, Berlin: Orlanda.
Klein, Renate (2018): Mietmutterschaft. Eine Menschenrechtsverletzung, Hamburg: Marta Press.
Kunow, Rüdiger (2015): »Wertkörper. Zur Ökonomisierung des menschlichen Körpers im Zeichen von Globalisierung und Neoliberalismus«, in: Prokla 178, 51–66.
Skloot, Rebecca (2010): Die Unsterblichkeit der Henrietta Lacks, München.
Trallori, Lisbeth N. (2015): Der Körper als Ware. Feministische Interventionen, Wien: Mandelbaum.
Werner-Felmayer, Gabriele (2008): »Menschliche Eizellen, ein kostbares Gut«, in: Andreas Exenberger/Josef Nussbaumer (Hg.), Von Körpermärkten, Innsbruck: university press, 99–118.
Warum sollte abseits des Plattform-Kapitalismus nicht auch etwas Plattform-Sozialismus möglich sein? Digitale Plattformen des 21. Jahrhunderts könnten dazu dienen, eine Selbstverwaltung auf der Höhe der Zeit umzusetzen. Große Körperschaften wie Krankenkassen, ORF oder Unis ließen sich durch alle Teilhabenden autonom selbst regieren.
Von HANS CHRISTIAN VOIGT
Unsere Zeit kennt den Begriff des Plattform-Kapitalismus. Seit Jahren existieren Begriff und Konzept eines Plattform-Kooperatismus. Da wäre es naheliegend, dass ein Begriff des Plattform-Sozialismus Ausgangspunkt von Debatten wäre. Es gibt ihn nicht. Kein Ansatz, keine Debatte, nicht einmal Neugier. Wieso? Hier geht es um die Skizze, was wir unter Plattform-Sozialismus diskutieren könnten.
AirBnB, Alibaba, Amazon … bis Zalando: Die ungeheure Organisationsleistung großer Unternehmen steht heute außer Zweifel. Das gilt auch für eine prekäre Ausnahme im Venture-kapitalisierten Plattform-Kapitalismus wie Wikipedia. All den Plattform-Unternehmen ist das Internet die Plattform, auf der ihre disruptiven Geschäftsmodelle aufbauen. Die Realität der herrschenden Plattformen enthält freilich eine Anklage: Wieso so turbokapitalistisch?
An das Unbehagen sollte die Aufforderung geknüpft werden, das Produktions- und Distributionsmittel Plattform anders zu denken als in der herrschenden, zu Gig-Economy und Monopolisierung führenden Logik. Wieso nicht etwas mehr als nur alternativen Kooperatismus in der Nische denken. Wieso nicht plattform-sozialistische Organisation von Arbeit, von Produktion, von Dienstleistung durch alle Teilhabenden wagen?
Selbstverwaltung und Resilienz
Vor über hundert Jahren schienen Rätesysteme denkbarer als heute. Selbstverwaltung von Krankenkassen war unmittelbar vorstellbar, ohne Umweg über Repräsentation via Kammern und Gewerkschaft. Selbstverwaltung ist für die Sozialversicherung immerhin in der österreichischen Bundesverfassung gesetzlich verankert.
Die Umsetzung seit ›45 blieb freilich vom Bild tatsächlicher Mitsprache und Mitbestimmung dermaßen entfernt, dass ein Bewusstsein der Selbstverwaltung für die Masse der Versicherten gar nicht existiert. Eingriffe schwarzblauer Regierungen in die Selbstverwaltung werden nicht als die Enteignung wahrgenommen, die sie sind. Wie viel resilienter wäre da eine plattform-sozialistisch selbstverwaltete Sozialversicherung, die Versicherte und für das Unternehmen Arbeitende vereint.
Alle Teilhabenden auf einer Plattform? Was würde die Selbstverwaltungsplattform etwa einer Sozialversicherung zu einer solchen konstituieren? Welche Funktionen sollte sie haben? Und nicht nur die der Sozialversicherung, sondern auch jede der öffentlich-rechtlichen Rundfunkorganisation, der Unis, des sozialisierten Telekomanbieters, Wasser- oder Stromversorgers, der Wohnbaugenossenschaft oder Gemeindebauten, der ÖBB oder der Wiener Linien.
Vier Säulen fluider Selbstverwaltung
Eine Organisation wie die Uni Wien stellt für alle Teilhabenden bereits seit langem Accounts zur Verfügung. Am E-Mail-Korb hängen weitere Funktionen. Die digitale Infrastruktur wird von der Uni selbst gestellt. Die Geschichte des Internets in Österreich hat hier ihren Ausgang genommen. Über die Jahre und Jahrzehnte kommen Funktionen hinzu, die am eigenen Benutzer_innenkonto hängen. Spielen wir das weiter und nehmen zusätzlich an, dass alle Teilhabenden das unabdingbare Recht auf einen Account und gleichberechtigten Zugang zu allen zentralen Funktionen der Selbstverwaltung haben.
Als Teilhabende seien definiert, alle Arbeitenden, ob in Produktion oder Verwaltung, ob unbefristet angestellt oder temporär als atypisch Beschäftigte, alle Nutzer_innen, Beitragszahlende oder ihren Beitrag via Arbeit für die Organisation Leistende. Vier Säulen seien als zentrale Funktionen der plattformunterstützen Selbstverwaltungen definiert:
Erstens die Säule der Deliberation: Die Möglichkeit, mit anderen Beziehungen zwischen Benutzer_innen-Konten einzugehen, Nachrichten auszutauschen, in Diskussionsforen zusammenzukommen, Arbeitsgruppen zu bilden, Dialog zu führen.
Zweitens die der Kontrolle: Das Berichtswesen wäre entlang der Zeitleiste fluid und nicht auf finanzielle Angelegenheiten beschränkt. Was und in welcher Form, im Sinne von Checks and Balances, zwischen Organisationsteilen und den Teilhabenden an Feedbackschleifen eingerichtet ist, wäre aus der Verfassung abgeleitet, die sich die Organisation selber gibt.
Drittens die Säule, in der strategische Entscheide fallen: ähnlich wie Genossenschaften, Vereine oder AGs von Zeit zu Zeit Grundlegendes in ihren Generalversammlungen zur Abstimmung bringen. Nur dass im Plattform-Sozialismus die Vollversammlung aller Teilhabenden zu jeder Zeit via Plattform über Szenarien abstimmen kann, die zuvor durch die Säulen eins und zwei gegangen sind.
Viertens die Säule personeller Besetzungen: In einzelnen anstehenden Fällen ist dazu nicht die Vollversammlung zu bemühen. Ein jeweils per Zufall über die Plattform bestimmtes Wahlpersonen-Komitee von tausend Personen sollte aus den Kandidat_innen auswählen. Die Zufallsauswahl wird durch Quoten strukturiert, die je nach statutarischer Verfassung der Organisation Geschlecht, Einkommen, Bildungsabschlüsse, Alter, Region, Funktionen in der Organisation usw. betreffen.
Andere digitale Architekturen sind möglich
Eine digitale Plattform dieser Funktionalität mit mehreren Hunderttausend oder Millionen Benutzer_innen-Profilen, wenn wir an die Selbstverwaltung eines ORF oder der Sozialversicherung denken, wäre gleichermaßen revolutionär wie pragmatisch naheliegend. Sie ist nichts eigentlich Besonderes, gemessen an der Realität bestehender Social-Media-Plattformen. Außergewöhnlich wäre der Zweck: Einmal nicht Disruption bestehender Geschäftsmodelle zur Senkung der Produktionskosten und zur Schaffung neuer Monopole, sondern die sozialistische Selbstorganisation von Daseinsvorsorge in vielen großen autonomen Körperschaften und damit mehr Autonomie von Staat und Kapital.
Die digitale Plattform ist die geringere Herausforderung. Die Revolution würde sich in den Beziehungen zwischen Menschen und Menschengruppen, der Kultur von Organisationen, in den Herrschaftsverhältnissen abspielen. Die Plattform ist schließlich nur Produktionsmittel. Organisationen würden sich dagegen von Grund auf ändern und auf allen Ebenen. Das erklärt sich freilich im Begriff bereits von selbst. Sozialistische Selbstverwaltung ist für sich genommen revolutionär, ob mit digitaler Plattform oder à la neunzehntes Jahrhundert.
Im Plattform-Sozialismus wäre der Demos, der die Herrschaft über die Organisation von etwas ausübt, über stetige digitale Teilhabe konstituiert, nicht über repräsentative Wahlen alle paar Jahre. Das bedeutet ebenso Hürden wie auch mehr Inklusion. Den digital gap wird es nie nicht geben. Bildung wird immer relevant bleiben. Abgebaut würden dafür andere Ausschlüsse. Wenn alle Sozialversicherung Zahlenden automatisch und gleichberechtigt dem relevanten Demos zugehörten, der über die Selbstverwaltung bestimmt, haben automatisch die staatsbürgerlichen Privilegien, Migrationshintergrund, Vermögen und Einkommen deutliche weniger Einfluss.
Im Binnengefüge der plattform-sozialistisch regierten Körperschaft verschieben sich Prioritäten: Eingeführt, ausgeweitet und aufgewertet werden muss die Moderation der Vielstimmigkeit. Information muss kuratiert, übersetzt und in aufbereiteten Formen dargestellt werden. Die Form der Kommunikation, das Gespräch, muss sich von exkludierend auf inklusiv verändern. Das Arbeitsfeld der Moderation rückt quantitativ und qualitativ ins Zentrum der Körperschaften. Der Zweck der Selbstverwaltung strukturiert die Kommunikation. Obwohl auch sozialistische Plattformen soziale Netzwerk-Funktionen wie Twitter oder Facebook haben, geht es auf ihnen nicht um nichts oder alles, sondern um eine greifbare gemeinsame Sache.
Nach außen bekommt diese gemeinsame Sache das Gewicht, das eine Organisation ausspielen kann, die nicht auf Lobbyismus, Klientelverbindungen und Werbung setzen muss, sondern mehrere hunderttausend Nutzer_innen auf einer autonomen Plattform versammelt. Soll die aktive Teilhabe auf einer Plattform ruhig bei nur drei Prozent liegen. Das wären immer noch sehr viele Aktive. Und es würden schnell mehr, sobald es um die allen eigenen Interessen geht.
Autonome und offene digitale Architektur
Selbst wenn die eigentliche Hürde die menschliche Organisation ist, auch die digitale Architektur wird nicht über Nacht programmiert werden können. Irgendwo muss ein Anfang gemacht werden. Irgendwann sollte Plattform-Sozialismus bedeuten, dass die Grundarchitekturen unserer Plattformen public code sind und dass die Digitalwirtschaft ein völlig neues, bedeutendes Betätigungsfeld gewinnt, in dem es um freie Software vom Server bis zur App, um liquid-feedback-Systeme, um inklusive Architekturen und sorgsamen, sparsamen Einsatz personenbezogener Daten geht.
Sozialistische Selbstverwaltung auf der Höhe des 21. Jahrhunderts kann nur heißen, dass die Teilhabenden die Kontrolle über Daten und Code haben. Die Arbeit von Informatiker_innen und Systemadministrator_innen ist hier so zentral wie die Arbeit der Moderation. Es braucht eine eigene Spezialisierung, eigene Server, eigenen Code. Dafür gibt es Vorläufer. Liquid feedback Software nach dem Konzept von liquid democracy. Dezentrale Social-Media-Architekturen in freier Software. Eine lebendige Tradition der Netzkultur, die gegen Überwachung und Kommodifizierung kämpft.
Die politische Forderung dazu lautet, dass wir die Körperschaften unserer Daseinsvorsorge selber verwalten wollen. Das Recht dazu haben wir.
Hans Christian Voigt ist ein Soziologe aus Wien mit besonderem Interesse an den Bedingungen der Möglichkeit für Dissidenz in sozialen Systemen (und erhöhter Aufmerksamkeit dafür, welche gesellschaftlichen Verschiebungen die digitale Revolution für Lohnabhängige, Arbeitnehmer_inneninteressen und die Organisierung der Arbeiterklasse bedeutet).
Im spanischen Baskenland sitzt mit Mondragón eine der wohl größten ArbeiterInnen kooperativen der Welt. 80.000 Menschen arbeiten für sie.
CHRISTIAN KASERER war für einen Lokalaugenschein vor Ort.
Seit die Arbeit am aktuellen Buchprojekt über selbstverwaltete Betriebe und Projekte begonnen hatte, war klar, der Besuch im Baskenland wird ein ganz besonderer Höhepunkt all dieser Reisen werden. Nicht nur, dass im kleinen Ort Mondragón die gleichnamige ArbeiterInnenkooperative »Mondragón Corporación Cooperativa« ihren Sitz hat – immerhin ein Betrieb mit etwa 80.000 Arbeiterinnen und Arbeitern. Sondern auch, weil der Region im Norden Spaniens in ihrer wunderbaren Natur und historischen Bedeutung ein einzigartiger Charakter innewohnt. Die Basken gelten als ältestes Volk Europas, ihre Geschichte jedoch ist geprägt von Fremdherrschaft und letztlich auch durch Teilung in ein spanisches und ein französisches Baskenland. Letztere haben seit der französischen Revolution keinerlei Selbständigkeit mehr und ihre Sprache ist, wie für alle regionalen Sprachen und Dialekte in Frankreich üblich, keine offiziell anerkannte Amtssprache. Anders verhält es sich in Spanien, wo das Baskenland nicht nur eine ausgedehnte Autonomie genießt, sondern auch das Baskische als offizielle Verkehrssprache gesetzlich zugelassen ist. Hier blühen gerade in den letzten Jahren die baskische Sprache und Kultur geradezu auf und machen die Besonderheiten der Region innerhalb der iberischen Nation besonders deutlich.
Von Bilbao über Gernika nach Mondragón
Entscheidet man sich für eine Anreise in die Region via Flugzeug, so nimmt sich Bilbao wohl als die naheliegendste Destination aus. Die frühere Industriestadt ist ein Fanal für die Folgen der Deindustrialisierung, aber zugleich auch ein positives Beispiel dafür, wie der vermeintlichen Ausweglosigkeit beizukommen sein kann. Nachdem die Industriebetriebe der unmittelbaren Umgebung der Stadt abgewandert waren und an allen Ecken Arbeits- und Obdachlosigkeit grassierte, entschied man sich dafür, das Stadtbild grundlegend zu verändern. Bilbao, auf Baskisch Bilbo, sollte zu einer Kultur- und Tourismusstadt werden, und so zog beispielsweise auch das berühmte Guggenheim-Museum hierhin. Heute ist Bilbao, exemplarisch für das ganze Baskenland, eine wachsende Stadt mit zunehmender Lebensqualität und vielen jungen sowie hochpolitisierten Menschen. Plakate, Sticker und Fahnen für die katalanische Unabhängigkeit beispielsweise findet man an allen Ecken. Bereits in Bilbao finden sich erste Anzeichen, dass Mondragón im Baskenland eine relevante Kraft ist. So ist etwa eine der Mondragón Universitäten, dazu später mehr, in der Stadt beheimatet. Das kleine Mondragón mit etwa 22.000 Einwohnern, baskisch Arrasate genannt, liegt etwas weniger als eine Stunde östlich, und ist man willens, die Fahrt um eine halbe Stunde zu verlängern und auf halbem Wege nördlich abzubiegen, so erreicht man den wohl berühmtesten Schauplatz des spanischen Bürgerkriegs: Gernika. 1937 flogen deutsche Einheiten der Legion Condor für die verbündeten Francisten einen der vernichtendsten Luftangriffe des Bürgerkriegs auf das kleine Städtchen, gemeinhin unter seiner spanischen Schreibweise Guernica bekannt, und zerstörten es zu großen Teilen. Heute erinnert wenig an die Geschehnisse von damals und Gernika ist ein pittoreskes Nest. Mondragón, respektive Arrasate, steht Gernika in seiner beschaulichen und geradezu romantischen Art um nichts nach und wenig würde auf den ersten Blick darauf hindeuten, dass hier, nicht einmal im in der Talsohle gelegenen Stadtzentrum, sondern am Hang eines der umgebenden Berge, das Hauptquartier einer global agierenden Genossenschaft liegen könnte.
»Sehen wir uns zuerst einen Film an«
Passend zur Umgebung ist auch das Gebäude der Genossenschaft bescheiden gehalten. Zierten nicht Name und Logo der Kooperative ein Schild vor dem Eingang, möchte man glatt glauben, es handle sich hierbei eher um ein kleines Bürogebäude. »Habla usted ingles?«, frage ich den Sicherheitsmann und bereite mich bereits darauf vor, mein schlechtes Spanisch, welches ich die Monate vor der Reise mir anzueignen begonnen hatte, hervorzukramen. »Un poquito.«. Ein bisschen Englisch kann er, welch Glück! Es dauert nicht lange bis uns, meine Lebensgefährtin und mich, Ander Etxeberria, Presseverantwortlicher von Mondragón, freundlich begrüßt: »Bevor wir mit den Fragen beginnen, sehen wir uns doch zuerst einen Film an, ja?« Ein hauseigener Werbefilm, weshalb nicht? Tatsächlich verfügt die Zentrale über ein eigenes Kino und wie Ander erklärt, besuchen jährlich über 2000 Menschen die Genossenschaft. »Einzelpersonen und Gruppen aus allen Teilen der Welt kommen zu uns und fragen, wie wir das hier aufgebaut haben, was unsere Geschichte ist. Leute von StartUps aus Californien ebenso wie Mitglieder europäischer Regierungen«, so Ander, bevor er den Film startet. Die 15 Minuten vergehen überraschend schnell und berichten uns über den Priester Jose Maria Arizmendiarrieta. Er gilt als Gründer von Mondragón. Arizmendiarrieta beschloss 1941, im Angesicht all der Zerstörung, die der spanische Bürgerkrieg im Baskenland hin entschloss er sich, mitsamt fünf Ingenieuren 1956 den Betrieb ULGOR zu gründen. ULGOR unterschied sich deutlich vom klassischen Bild eines Industriebetriebs: Wer hier arbeitete, war zugleich auch BesitzerIn und konnte somit gleichberechtigt mitbeckeln sollte. Ziel war es in erster Linie nicht, Kapital zu akkumulieren, sondern Menschen ein Auskommen zu verschaffen und mit dem Gewinn soziale Projekte zu fördern. Heute, über 60 Jahre später, heißt der kleine Betrieb, der den Menschen hier Hoffnung und eine Zukunft bringen sollte, Mondragón und arbeitet, trotz über 80.000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, immer noch nach denselben Prinzipien, welche terlassen hatte, sich nicht nur für die Seelsorge, sondern auch praktisch zu engagieren. Bildung und Mitbestimmung sollten der Schlüssel dazu sein, die Region wieder aufzubauen und überdies die tiefen Gräben zwischen FrankistInnen und RepublikanerInnen zuzuschütten. Dazu brachte er vor allem Jugendliche zusammen und organisierte Bildung und Freizeit mit ihnen. In Mondragón gab es dazumal lediglich einen großen Betrieb, welchem gar eine Schule angeschlossen war, die allerdings nur den Kindern der ArbeiterInnen offen stand. Der Priester wollte bewirken, dass die Schule allgemein geöffnet und überdies die ArbeiterInnen ein gleichberechtigtes Mitspracherecht im Betrieb bekommen sollten. Letzteres allerdings ohne Erfolg, und so stimmten, wohin der Betrieb sich entwiArizmendiarrieta dazumal aufgestellt hatte.
Wie demokratisch bleiben?
Die Entwicklung freilich ist beeindruckend, aber so eine kurze Präsentation hinterlässt vor allem Fragen, etwa: Wie demokratisch bleiben? »Mondragón ist nicht nur ein Betrieb, sondern sozusagen ein Konglomerat, ein Zusammenschluss aus verschiedensten Firmen. Sie alle halten sich allerdings, das ist die Bedingung, an unsere genossenschaftlichen Grundsätze. Wer bei uns arbeitet, der ist auch EigentümerIn und kann gleichberechtigt über die Abläufe im Betrieb mitbestimmen. Unsere Teilfirmen sind vor allem in der Industrie zu verorten, aber nicht nur. Eine riesige Konsumgenossenschaft, also sozusagen ein Supermarkt, gehört auch dazu. Jene Betriebe, die Teil von Mondragon sind, wählen kollektiv Vertreterinnen und Vertreter für den ganzen Zusammenschluss, und diese kommen daraufhin in regelmäßigen Abständen zusammen und beschließen, wohin wir uns alle entwickeln sollen. Transparenz, Partizipation und das Gemeinwohl stehen dabei immer an oberster Stelle. Den einzelnen Teilbetrieben steht es überdies frei, sofern sie sich demokratisch dazu entscheiden, Mondragon jederzeit zu verlassen und sich anders auszurichten«, so Ander.
Was passiert mit dem Gewinn? »Die Gewinne werden, je nach Beschluss, sozial investiert. Etwa in unsere Universitäten, die wir gegründet haben, damit Menschen – auch ohne mit uns irgendwas zu tun haben zu müssen – studieren können. Oder etwa in Kampagnen für die Umwelt. Es muss jedenfalls der jeweiligen Region, in welcher die Firma lokalisiert ist, zugute kommen. Ein Teil wird natürlich angespart, damit die finanziell erfolgreicheren Betriebe jenen, die aktuell Probleme haben, unter die Arme greifen können. Wir wollen nämlich niemanden bei uns entlassen. Und natürlich ist der Gewinn für die Arbeiterinnen und Arbeiter da.« Das macht hellhörig. »Jede Person zahlt eine gewisse Summe in die Genossenschaft ein. Sozusagen als Anteil. Gerne auch in Raten. Wenn Personen sich dann dazu entschließen, die Genossenschaft zu verlassen oder etwa in Rente gehen, dann erhalten sie ihren Anteil wieder zurück, jedoch deutlich höher, da der Wert des jeweiligen Anteils über die Jahre, entsprechend des Wachstums der Genossenschaft, gestiegen ist. In der Regel kommt da einiges zusammen.«
Ein spannendes Modell das interessant klingt, aber wie behauptet man sich so im Kapitalismus auf Dauer? »Dadurch, dass wir alle gemeinsam beschließen, was die nächsten Schritte sind, bündeln wir unser Wissen. Krisen wie etwa die letzte Finanzkrise haben wir somit deutlich besser überstanden als die meisten anderen Betriebe in unserer Umgebung. Das solidarische Miteinander hilft uns da sehr.« In einer neoliberalen Welt eine leider geradezu anachronistisch anmutende Aussage, die allerdings Hoffnung macht, dass auch andere diesem Beispiel folgen mögen.
Entfremdung in der heutigen Arbeitswelt scheint als analytischer und politischer Begriff scheinbar verschwunden zu sein. Dies hängt zusammen mit Erosionserscheinungen der klassischen industriellen Produktivkraftentwicklung (Produktivkraftentwicklung).
Von MARIO BECKSTEINER
Marx beschrieb in seiner Passage zur Werkzeugmaschine, dass der technische Kern dieser Produktivkraftentwicklung darin bestand, mit Hilfe von Energie einen kontinuierlichen mechanischen Prozess der Kraftnutzung zu organisieren, dem die menschliche Arbeitskraft untergeordnet wurde. Die daraus entstehenden Systeme entfremdeten den Menschen insbesondere auch vom Arbeitsprozess. Wie ich im Folgenden zeigen werde, sollte man den Begriff der Entfremdung aber nicht aufgeben. Mein Argument ist, dass gerade im Kontext digitalisierter und informatisierter Arbeitsumgebungen der Entfremdungsbegriff entlang der neuen Produktivkraftentwicklung theoretisch wiederbelebt werden sollte.
Vorgeschichte
Der Zusammenhang der Entfremdung des Menschen mit der industriellen Produktivkraftentwicklung schien ab den 1990er Jahren unscharf zu werden. Die Unterordnung der ArbeiterInnen unter die Logiken der »großen Industrie« schienen passé und wurden im Produktionsprozess durch Formen der indirekten Steuerung der Arbeitskraft ersetzt. In deren Windschatten entwickelte sich Information in einem neuen Gravitationszentrum der kapitalistischen Produktivkraftentwicklung, ein Fanal in Hinblick auf heutige Digitalisierungstechniken. Indirekte Steuerung funktioniert über unterschiedliche Mechanismen, u.a. durch handlungsanleitende Informationssysteme. Es entstanden viele Konzepte und »Tools«, die diese Form der Steuerung unterstützten wie zum Beispiel Balanced Scorecards. Ein Strang der BWL, der sich theoretisch und praktisch mit dem Verhalten von Beschäftigten auseinandersetzt (Verhaltensorientiertes Controlling), formuliert das explizite Ziel: Durch strukturierte und strategische Information soll das »Wollen« und »Können« der Beschäftigten verändert werden. Das Rückgrat hierfür sind betriebliche Informationssysteme wie z.B. SAP. Sie waren die ersten, tendenziell noch analogen, betrieblichen Datenkraken. Tatsächlich wurden damit Phänomene der unmittelbaren Entfremdung gegenüber dem Arbeitsprozess zurückgedrängt. Doch eine andere Art der Entfremdung rückte in den Vordergrund, in deren Zentrum Information und die daran gekoppelten Steuerungsprozesse stehen. Die neuen Steuerungssysteme sind darauf angewiesen, dass die Information von den Beschäftigten zumindest hingenommen wird und sie ihre Handlungen daran orientieren. Die Information ist aber geprägt von den Interessen des Unternehmens und der Vorgesetzten und widersprechen oft dem Erfahrungs- und Prozesswissen der Beschäftigten. Damit entstehen unterschiedliche Phänomene. 1. Beschäftigte entfremden sich gegenüber der »offiziellen betrieblichen Realität«. 2. Informationsbasierte Steuerung konstituiert ein Konfliktfeld zwischen Steuerungsansprüchen des Betriebs und den »Realitäten« der Beschäftigten. Derartig gelagerte Steuerung gleicht oft einem permanenten Kleinkrieg um Wahrheits- und Wirklichkeitsdefinition im Betrieb.
Information als neues Gravitationszentrum der Produktivkraftentwicklung hebt das hervor, was Marx als die Entfremdung vom Gattungswesen bezeichnet. Das Gattungswesen ist bei Marx nicht essentialistisch, sondern es ist der »wahre, weil wirkliche Mensch« (MEW 40, S.574). Wahr und wirklich ist der Mensch, da er von sich aus die Befähigung hat, eine Wahrheit über sich und sein Verhältnis zu seiner Umwelt zu konstituieren und darauf aufbauend zu handeln, also SEINE Wirklichkeit zu entfalten. Und genau darauf zielt die Steuerung des Wollens und Könnens. Digitale Technologien unterziehen diese Systeme und die Entfremdungstendenzen nun einem digitalen Doping.
Das Doping
Die neuen Techniken und die daraus resultierenden Anwendungen sind für viele undurchsichtig. Anders als mechanische Prozesse wie sie früher vorherrschend waren, entziehen sich digitale Informationstechniken und ihre Prozesslogik einer direkten Beobachtung. Diese Systeme basieren auf der Datensammlung und einem Prozess, der aus Daten Informationen macht. Daten werden in der heutigen Arbeitsumgebung an unzähligen Punkten gesammelt und es entsteht ein permanenter Strom von Daten. Die Umformung dieser Daten in Informationen kann von Menschen nicht mehr vollzogen werden und schon gar nicht in einem permanenten (real-time) Prozess. Deshalb wird Informations produktion von algorithmischen Prozessen übernommen. Etwas oberflächlich formuliert sind Algorithmen, die aus Big-Data Informationen machen, nichts anderes als (hoch entwickelte) statistische Verfahren. Das, was schon im analogen Zeitalter galt – traue nie einer Statistik, die du nicht selbst gefälscht hast – gilt auch im digitalen Umfeld. Die Auswertung der Daten ist nicht neutral. Die Frage, nach welchen Parametern wann, wo, wie und warum Information produziert wird, ist für betriebliche Machtverhältnisse immer zentraler, denn in die Informationsstruktur schreiben sich die Interessen derer ein, die über die Parameter bestimmen. Während eines Interviews mit einem Digitalisierungsexperten einer Unter nehmensberatung fragte ich, was Algorithmen machen, und die Antwort war überraschend klar. »Die Grundausrichtung unserer Algorithmen kann man mit Marx beschreiben: G – W – G‘. Alles andere ist funktionale Ausdifferenzierung.« Diese Orientierung betrieblicher Informationssysteme ist nicht neu. Neu ist aber, die gewonnene Information erlangt wegen ihres maschinellen Zustandekommens einen Nimbus der Objektivität. Vormals soziale Prozesse der Dateninterpretation werden technisch geschlossen. Die Information als zentraler Moment der Verhaltenssteuerung wird für Beschäftigte damit schwieriger kritisierbar. Nicht selten ziehen sich Vorgesetzte auf den Standpunkt zurück: »Die Zahlen stammen nicht von mir, sie kommen aus dem System!« Zur maschinellen Informationskonstruktion kommt noch eine weitere Komponente hinzu, die Informationsvermittlung oder das Mensch-Maschine Interface.
Entfremdungstendenzen
Digitale Technologien verändern die Prozesse, in denen Informationen in Betrieben weitergegeben werden. Viele soziale Interaktionen wie Meetings, Feedbackschleifen oder oft nur Arbeitsanweisungen werden heute durch technische Informationsvermittlung erledigt. Dabei werden wiederum vormals soziale Prozesse, aber auch Orte der Aushandlung technisch geschlossen. Dem aber nicht genug, denn auch die äußere Form der Information verändert sich. Basis dafür sind App basierte Mensch-Maschine Schnittstellen. Alle AnbieterInnen betrieblicher Informationssysteme werben damit, dass Excel-Tabellen oder schriftliche Anweisungen der Vergangenheit angehören und künftig animierte Grafiken, Piktogramme oder ähnliche Konzepte einen Großteil des Informationsflusses durchdringen werden, auch um den Informationsimpuls aus der Statik der Tabelle o. ä. herauszulösen und besser in die Logik des permanenten Informationsflusses zu integrieren. Dies sind auf den ersten Blick keine großen und durchaus praktisch-funktionale Veränderungen. Doch sie haben gravierende Folgen für das Verhältnis zwischen Informationsimpuls und EmpfängerIn. Informationsvermittlung wird mit einer App-Basierung in den permanenten betrieblichen Informationsfluss eingebaut. Die Zeiten zwischen Informationsimpuls und der einer gewünschten Reaktion auf den Impuls verringern sich. Piktogramme, (animierte) Grafiken oder ähnliches verringern auch die subjektive Distanz zwischen Informationsimpuls und EmpfängerIn, ebenfalls mit dem Ziel, die Steuerungswirkung der Information zu erhöhen.
Zu guter Letzt verändert sich mit der Masse an Daten auch die Struktur der Information, die in den Systemen erzeugt wird. Die Verknüpfung unterschiedlicher Daten ermöglicht Messung des Wirkungsgrades der Tätigkeit von Einzelnen oder von Gruppen im Kontext eines gesamten Produktionsprozesses oder Projektverlaufes. Dieses Ziel wurde auch früher schon verfolgt, doch nie mit so vielen Daten. Ebenfalls zu beobachten ist, dass immer öfter Forecast-Techniken zum Einsatz kommen. So werden für Prozesse, Projekte u.a. digitale Zwillinge geschaffen, die permanent alternative Szenarien für z. B. Projektverläufe erstellen und Risikowarnungen ausgeben oder Optimierungsmöglichkeiten vorschlagen. Die Reichweite der Informationsstruktur und der maschinell erstellten Forecasts übersteigen dabei das, was eine einzelne Person erfassen kann, und damit kommt die Möglichkeit des Widerspruchs weiter unter Druck.
Mit der aktuellen Welle an Digitalisierung kann beobachtet werden, wie sich Entfremdungstendenzen, die sich schon früher in der Informatisierung angekündigt haben, heute ausarten. Damit gerät die Fähigkeit des Gattungswesens Mensch, sich die Umwelt auf mentaler Ebene und daran anschließend auf der Handlungsebene anzueignen und selbstbewusst Wirklichkeit zu konstituieren, unter enormen Druck. Die Folgen dieser Muster der Entfremdung im digitalen Kapitalismus harren bisher noch einer eingehenden Erforschung, auch über den Bereich der Arbeit hinaus.
Mario Becksteiner ist Arbeitssoziologe und promoviert an der Universität Göttingen zu Fragen der Bürokratisierung und Subjektivierung im Betrieb, am Beispiel von Controllingsystemen.
Nach Herzenslust Wikipedia-Artikel verfassen, komponieren, musizieren, Bücher schreiben oder Frei Software entwickeln.
Ein Beitrag von FRANZ SCHÄFER.
»Was sind ihre Hobbys?« wird man oft am Ende eines Vorstellungsgesprächs gefragt. Viele Menschen haben tatsächlich interessante und vor allem auch recht sinnvolle Hobbys. Linux, das Betriebssystem, das heute auf Milliarden von Servern, Smartphones und auch auf immer mehr Desktops läuft, hat auch als Hobby begonnen. Ein Hobby ist allerdings ein Luxus den sich nicht alle leisten können: Wer als Alleinerzieherin mehrere Jobs braucht, um die Wohnung bezahlen zu können, hat wenig Zeit für ein Hobby. Was die Hobbys aber zeigen: Menschen sind mit ihrer Lohnarbeit nicht zufrieden. Die wird meist nur als Mittel zum Zweck wahrgenommen: Damit man Geld hat, um Miete und Essen zu bezahlen. Das Produkt der Arbeit gehört jemand anderem, und selbst der Akt der Produktion wird fremdbestimmt. Marx prägte dafür den Begriff »Entfremdung«.
So genannte »Work-Life Balance«
Verräterisch ist dabei auch die Sprache der sozialdemokratisch dominierten Gewerkschaften. Die fordern gerne die so genannte »Work-Life Balance« und meinen damit, dass neben der stressigen Arbeit (»Work«) auch noch Zeit für Familie, Freunde und Hobbys (»Life«) bleiben soll. Das ist ja grundsätzlich eine gute Forderung, aber sie impliziert halt auch, dass »Work« und »Life« zwei verschieden Dinge sind und dass »Work« eben nicht zum »Life« gehört. Die Entfremdung wird hier als gegeben und unveränderlich vorausgesetzt und die Bullshit-Jobs als Status-Quo akzeptiert.
Da sind die Konzerne schon einen Schritt weiter: Google gibt den Mitarbeiter*innen die Möglichkeit, mit 20 Prozent ihrer Zeit für eigene Projekte zu verwenden (Die Ergebnisse gehören dann aber i.a. immer noch Google – wobei Google durchaus auch relativ viel zu Freien/Open-Source Projekten beiträgt). Die Firmen haben jedenfalls erkannt, dass die Entfremdung durchaus ein Problem darstellt und Kreativität gefragt ist. Die Management Literatur ist voll mit Methoden zur »MitarbeiterInnen-Motivation«.
First World Problems
Angesichts dessen, was der Kapitalismus sonst noch so anstellt (Umweltzerstörung, Klimakatastrophe, Krieg), erscheint das mit der »Entfremdung« als »Luxus-Problem«. Aber es gibt doch einen Zusammenhang. Die Überproduktion von unnötigen und schädlichen Produkten hängt halt schon auch damit zusammen, dass die Entscheidung über die Produkte von denen getroffen werden, die sie verkaufen wollen und nicht von denen, die sie herstellen. Auf der anderen Seite taucht in der Diskussion über das Grundeinkommen immer wieder die Frage auf: »Wer wird dann noch arbeiten«? Hoffentlich viel weniger Menschen – denn wir haben genug unnötigen Schrott, den keiner braucht – aber gerade Menschen, die ihren Lebensunterhalt nicht mehr durch den Verkauf ihrer Arbeitskraft bestreiten müssen, können endlich in Freiheit tätig sein. Nach Herzenslust Wikipedia-Artikel verfassen, komponieren, musizieren, Bücher schreiben oder Freie Software entwickeln.
Freie Software wie Linux wird heute zu einem sehr großen Teil in kommerziellen Firmen weiterentwickelt. Der Grund dafür ist, dass selbst große Konzerne es sich kaum mehr leisten können, ihr eigenes Süppchen zu kochen. Über Freie Software können die großen Firmen de-facto kooperieren, und Kooperation ist nun mal effizienter als Konkurrenz, aber da jede/r den Source-Code besitzt, ist niemand von den anderen abhängig.
Keimform
Aus der Sicht der Programmierer*innen ist das zwar immer noch Lohnarbeit und natürlich immer noch Entfremdung – letztlich gibt der/die Chef*in vor, was und wo entwickelt werden soll, aber zumindest »gehört« einem dann die Software – weil sie auch allen gehört. In der Oekonux Diskussion (die vor etwa zehn Jahren geführt wurde) unterschied man daher zwischen «Einfach Freier Software« und »Doppelt Freier Software«. Erstere war zwar frei, wurde aber von Unternehmen entwickelt, zweitere von freien Einzelpersonen (als »Hobby«). Wobei es eben gerade der Aspekt, dass Freie Software (die das wichtigste Produktionsmittel für die Schaffung neuer Software ist) eben auch von Unternehmen weiterentwickelt wird. Der Kapitalismus arbeitet hier an seiner eigenen Überwindung. Freie Software wird daher auch als »Keimform« bezeichnet – etwas, das im gegenwärtigen System keimt und wächst, aber auch schon die Überwindung dieses Systems in sich trägt. Ich denke, es ist nützlich, sich bei allen unseren Forderungen auch immer zu überlegen, ob diese Keimformqualität haben oder wie sie gestaltet werden könnten, damit sie diese haben. Bedingungsloses Grundeinkommen ist meines Erachtens eines der wichtigsten Keimformprojekte: Es ist initial durchaus mit Kapitalismus kompatibel, trägt aber seine Überwindung schon in sich. Es greift den Kapitalismus an seinem Kern an: dem Kapitalverhältnis – dass die meisten von uns vom Verkauf ihrer Arbeitskraft leben müssen, während wir doch nützlich (siehe die erwähnten Hobbys weiter oben) tätig sein könnten.
Monopole
Dass es so einfach wird, dass wir herumsitzen und abwarten, bis die Keimform-Pflanze gewachsen ist und dann den Kapitalismus-Drachen verschlingt, hat damals aber kaum jemand geglaubt. Zehn Jahre nach dieser Diskussion ist Linux und Freie Software zwar deutlich weiterverbreitet. In Smartphones, WLAN-Routern und den allermeisten Servern werkelt ein Linux und viele andere Freie Software. Aber Betriebssysteme und Anwendersoftware sind heute weniger relevant: Die Dienste wandern in die »Cloud«, werden also wie Gmail und andere Dienste einfach Online im Web genutzt. Und auch das ist schon wieder Schnee von gestern: Zunehmend werden die Dienste in Social-Media Plattformen integriert, und da zeichnet sich ab, dass wohl nur eine einzige übrig bleibt: Facebook. Selbst Google ist mit dem Versuch, ihre G+ Plattform zu etablieren, gescheitert. Das Ganze hebt auch die Entfremdung auf ein neues Niveau: Unsere soziale, menschliche Kommunikation wird nun selbst zu Ware. Der Kampf gegen die Monopolstellungen erscheint damit extrem schwierig. Auf der anderen Seite ändern sich die populären Apps heute oft relativ schnell. Die App, die vor zwei Jahren noch die wichtigste war, ist nächstes Jahr vielleicht schon wieder überholt.
Kampf gegen Social-Media Konzerne
Ein einfacher Aufruf, diese Netze nicht mehr zu verwenden, wird wohl nicht reichen. Ein FB-Account ist heute fast notwendig, um mit bestimmten Menschen und Gruppen in Kontakt bleiben zu können. Für uns Aktivist*innen ist die Sache natürlich doppelt schwer: Wenn wir nicht auf FB sind, dann erreichen wir die Menschen nicht. Aber wenn wir dort aktiv sind, dann setzten wir einen zusätzlichen Anreiz für alle anderen, dort auch eingeloggt zu sein. Alle Versuche, freie und dezentrale Alternativen zu Facebook zu etablieren, sind bis jetzt gescheitert. Kaum jemand kennt Diaspora*, Friendica oder Mastodon. Der Grund ist wohl weniger die Qualität dieser Netzwerke, sondern der Netzwerkeffekt: Solange dort keine Menschen aktiv sind, besteht auch für andere keine Motivation, dort einzuloggen. Ganz unmöglich erscheint es aber nicht, die Macht von FB zu brechen: Würde ein freies Social-Media Netzwerk eine gewisse Masse erreichen, wären vielleicht andere Konzerne (denen die Macht des Konkurrenten ein Dorn im Auge ist) bereit, ein freies Netzwerk zu unterstützen – nicht um damit direkt Gewinn zu machen, sondern um die Monopolmacht des Konkurrenten zu verhindern. Die Widersprüche innerhalb der verschiedenen Kapitalfraktionen zu nützen, scheint auch hier eine gute Strategie zu sein. Die großen Internet-Konzerne aus dem sonnigen Kalifornien sind den Rechten in den USA üblicherweise zu links-liberal/libertär. Was, wenn man sich Fox News ansieht, wohl relativ gesehen stimmen mag. Aus der Befragung von Zuckerberg durch die progressive Alexandria Ocasio-Cortez (AOC) wissen wir, dass Facebook zum »Fact Checking« eine Partnerschaft mit einer Rechtsextremen Medien Organisation namens »Daily Caller« eingegangen ist.
Freie Software-Lizenzen im Zeitalter der Cloud
Die Lizenzen Freier Software legen fest, was man mit der Software machen darf. Die GPL-Lizenz fordert, dass, wer die Software weitergibt, die Rechte nicht einschränken darf. Um zu verhindern, dass Menschen zwar ihre Website damit bauen, dann aber die Software, die hinter der Website verborgen bleibt, nicht weitergeben, wurde die AGPL geschaffen. Die fordert, dass, wer die Software benutzt, muss sie auch zum Download anbieten. Wer die Software verändert und verbessert, muss auch die veränderte und verbesserte Version anbieten. Wenig erstaunlich ist, dass Konzerne wie Google, die davon profitieren, anderer Leute Software für sich zu verwenden, die AGPL hassen wie die Pest.
Digitalisierung
Dank Digitalisierung und der laufenden Fortschritte im Bereich der Künstlichen Intelligenz wird unsere Arbeit bald nicht mehr notwendig sein. Die Notwendigkeit, Zugriff auf Sourcecode, Bauplan, Rezepte und die Eingebauten Algorithmen zu haben, ist wohl in Zukunft weniger eine Frage der Freiheit unserer Arbeit als eine Frage der Kontrolle. Ob diese neuen Technologien uns beherrschen oder ob wir sie kontrollieren. Und diese Kontrolle kann nicht erst entstehen, wenn diese Systeme etabliert sind, sondern muss gemeinsam mit ihnen aufgebaut werden und wachsen. Idealerweise würden wir alle Produzent* innen dazu verpflichten, ihre Baupläne, Sourcecodes, Rezepturen etc. offenzulegen und den Schutz so genannten »Geistigen Eigentums« weitgehend abzuschaffen. Nicht nur würde das die Produktivität enorm erhöhen, sondern auch unnötige Ressourcenverschwendung beseitigen (Dinge müssten nicht doppelt und dreifach erfunden oder entwickelt werden), sondern es würde uns eben auch deutlich mehr Kontrolle über die Technologien erlauben, die uns immer mehr beherrschen. Einfacher wäre natürlich, wenn wir PolitikerInnen hätten, die diese Themen verstehen und die im Kampf gegen »Geistiges Eigentum« und gegen Kapitalismus auf unserer Seite kämpften. In diesem Sinne sehe ich auch Bündnisse von Pirat*innen und Kommunist*innen als sehr wünschenswert an.