Entfremdung in der heutigen Arbeitswelt scheint als analytischer und politischer Begriff scheinbar verschwunden zu sein. Dies hängt zusammen mit Erosionserscheinungen der klassischen industriellen Produktivkraftentwicklung (Produktivkraftentwicklung).
Von MARIO BECKSTEINER
Marx beschrieb in seiner Passage zur Werkzeugmaschine, dass der technische Kern dieser Produktivkraftentwicklung darin bestand, mit Hilfe von Energie einen kontinuierlichen mechanischen Prozess der Kraftnutzung zu organisieren, dem die menschliche Arbeitskraft untergeordnet wurde. Die daraus entstehenden Systeme entfremdeten den Menschen insbesondere auch vom Arbeitsprozess. Wie ich im Folgenden zeigen werde, sollte man den Begriff der Entfremdung aber nicht aufgeben. Mein Argument ist, dass gerade im Kontext digitalisierter und informatisierter Arbeitsumgebungen der Entfremdungsbegriff entlang der neuen Produktivkraftentwicklung theoretisch wiederbelebt werden sollte.
Vorgeschichte
Der Zusammenhang der Entfremdung des Menschen mit der industriellen Produktivkraftentwicklung schien ab den 1990er Jahren unscharf zu werden. Die Unterordnung der ArbeiterInnen unter die Logiken der »großen Industrie« schienen passé und wurden im Produktionsprozess durch Formen der indirekten Steuerung der Arbeitskraft ersetzt. In deren Windschatten entwickelte sich Information in einem neuen Gravitationszentrum der kapitalistischen Produktivkraftentwicklung, ein Fanal in Hinblick auf heutige Digitalisierungstechniken. Indirekte Steuerung funktioniert über unterschiedliche Mechanismen, u.a. durch handlungsanleitende Informationssysteme. Es entstanden viele Konzepte und »Tools«, die diese Form der Steuerung unterstützten wie zum Beispiel Balanced Scorecards. Ein Strang der BWL, der sich theoretisch und praktisch mit dem Verhalten von Beschäftigten auseinandersetzt (Verhaltensorientiertes Controlling), formuliert das explizite Ziel: Durch strukturierte und strategische Information soll das »Wollen« und »Können« der Beschäftigten verändert werden. Das Rückgrat hierfür sind betriebliche Informationssysteme wie z.B. SAP. Sie waren die ersten, tendenziell noch analogen, betrieblichen Datenkraken. Tatsächlich wurden damit Phänomene der unmittelbaren Entfremdung gegenüber dem Arbeitsprozess zurückgedrängt. Doch eine andere Art der Entfremdung rückte in den Vordergrund, in deren Zentrum Information und die daran gekoppelten Steuerungsprozesse stehen. Die neuen Steuerungssysteme sind darauf angewiesen, dass die Information von den Beschäftigten zumindest hingenommen wird und sie ihre Handlungen daran orientieren. Die Information ist aber geprägt von den Interessen des Unternehmens und der Vorgesetzten und widersprechen oft dem Erfahrungs- und Prozesswissen der Beschäftigten. Damit entstehen unterschiedliche Phänomene. 1. Beschäftigte entfremden sich gegenüber der »offiziellen betrieblichen Realität«. 2. Informationsbasierte Steuerung konstituiert ein Konfliktfeld zwischen Steuerungsansprüchen des Betriebs und den »Realitäten« der Beschäftigten. Derartig gelagerte Steuerung gleicht oft einem permanenten Kleinkrieg um Wahrheits- und Wirklichkeitsdefinition im Betrieb.
Information als neues Gravitationszentrum der Produktivkraftentwicklung hebt das hervor, was Marx als die Entfremdung vom Gattungswesen bezeichnet. Das Gattungswesen ist bei Marx nicht essentialistisch, sondern es ist der »wahre, weil wirkliche Mensch« (MEW 40, S.574). Wahr und wirklich ist der Mensch, da er von sich aus die Befähigung hat, eine Wahrheit über sich und sein Verhältnis zu seiner Umwelt zu konstituieren und darauf aufbauend zu handeln, also SEINE Wirklichkeit zu entfalten. Und genau darauf zielt die Steuerung des Wollens und Könnens. Digitale Technologien unterziehen diese Systeme und die Entfremdungstendenzen nun einem digitalen Doping.
Das Doping
Die neuen Techniken und die daraus resultierenden Anwendungen sind für viele undurchsichtig. Anders als mechanische Prozesse wie sie früher vorherrschend waren, entziehen sich digitale Informationstechniken und ihre Prozesslogik einer direkten Beobachtung. Diese Systeme basieren auf der Datensammlung und einem Prozess, der aus Daten Informationen macht. Daten werden in der heutigen Arbeitsumgebung an unzähligen Punkten gesammelt und es entsteht ein permanenter Strom von Daten. Die Umformung dieser Daten in Informationen kann von Menschen nicht mehr vollzogen werden und schon gar nicht in einem permanenten (real-time) Prozess. Deshalb wird Informations produktion von algorithmischen Prozessen übernommen. Etwas oberflächlich formuliert sind Algorithmen, die aus Big-Data Informationen machen, nichts anderes als (hoch entwickelte) statistische Verfahren. Das, was schon im analogen Zeitalter galt – traue nie einer Statistik, die du nicht selbst gefälscht hast – gilt auch im digitalen Umfeld. Die Auswertung der Daten ist nicht neutral. Die Frage, nach welchen Parametern wann, wo, wie und warum Information produziert wird, ist für betriebliche Machtverhältnisse immer zentraler, denn in die Informationsstruktur schreiben sich die Interessen derer ein, die über die Parameter bestimmen. Während eines Interviews mit einem Digitalisierungsexperten einer Unter nehmensberatung fragte ich, was Algorithmen machen, und die Antwort war überraschend klar. »Die Grundausrichtung unserer Algorithmen kann man mit Marx beschreiben: G – W – G‘. Alles andere ist funktionale Ausdifferenzierung.« Diese Orientierung betrieblicher Informationssysteme ist nicht neu. Neu ist aber, die gewonnene Information erlangt wegen ihres maschinellen Zustandekommens einen Nimbus der Objektivität. Vormals soziale Prozesse der Dateninterpretation werden technisch geschlossen. Die Information als zentraler Moment der Verhaltenssteuerung wird für Beschäftigte damit schwieriger kritisierbar. Nicht selten ziehen sich Vorgesetzte auf den Standpunkt zurück: »Die Zahlen stammen nicht von mir, sie kommen aus dem System!« Zur maschinellen Informationskonstruktion kommt noch eine weitere Komponente hinzu, die Informationsvermittlung oder das Mensch-Maschine Interface.
Entfremdungstendenzen
Digitale Technologien verändern die Prozesse, in denen Informationen in Betrieben weitergegeben werden. Viele soziale Interaktionen wie Meetings, Feedbackschleifen oder oft nur Arbeitsanweisungen werden heute durch technische Informationsvermittlung erledigt. Dabei werden wiederum vormals soziale Prozesse, aber auch Orte der Aushandlung technisch geschlossen. Dem aber nicht genug, denn auch die äußere Form der Information verändert sich. Basis dafür sind App basierte Mensch-Maschine Schnittstellen. Alle AnbieterInnen betrieblicher Informationssysteme werben damit, dass Excel-Tabellen oder schriftliche Anweisungen der Vergangenheit angehören und künftig animierte Grafiken, Piktogramme oder ähnliche Konzepte einen Großteil des Informationsflusses durchdringen werden, auch um den Informationsimpuls aus der Statik der Tabelle o. ä. herauszulösen und besser in die Logik des permanenten Informationsflusses zu integrieren. Dies sind auf den ersten Blick keine großen und durchaus praktisch-funktionale Veränderungen. Doch sie haben gravierende Folgen für das Verhältnis zwischen Informationsimpuls und EmpfängerIn. Informationsvermittlung wird mit einer App-Basierung in den permanenten betrieblichen Informationsfluss eingebaut. Die Zeiten zwischen Informationsimpuls und der einer gewünschten Reaktion auf den Impuls verringern sich. Piktogramme, (animierte) Grafiken oder ähnliches verringern auch die subjektive Distanz zwischen Informationsimpuls und EmpfängerIn, ebenfalls mit dem Ziel, die Steuerungswirkung der Information zu erhöhen.
Zu guter Letzt verändert sich mit der Masse an Daten auch die Struktur der Information, die in den Systemen erzeugt wird. Die Verknüpfung unterschiedlicher Daten ermöglicht Messung des Wirkungsgrades der Tätigkeit von Einzelnen oder von Gruppen im Kontext eines gesamten Produktionsprozesses oder Projektverlaufes. Dieses Ziel wurde auch früher schon verfolgt, doch nie mit so vielen Daten. Ebenfalls zu beobachten ist, dass immer öfter Forecast-Techniken zum Einsatz kommen. So werden für Prozesse, Projekte u.a. digitale Zwillinge geschaffen, die permanent alternative Szenarien für z. B. Projektverläufe erstellen und Risikowarnungen ausgeben oder Optimierungsmöglichkeiten vorschlagen. Die Reichweite der Informationsstruktur und der maschinell erstellten Forecasts übersteigen dabei das, was eine einzelne Person erfassen kann, und damit kommt die Möglichkeit des Widerspruchs weiter unter Druck.
Mit der aktuellen Welle an Digitalisierung kann beobachtet werden, wie sich Entfremdungstendenzen, die sich schon früher in der Informatisierung angekündigt haben, heute ausarten. Damit gerät die Fähigkeit des Gattungswesens Mensch, sich die Umwelt auf mentaler Ebene und daran anschließend auf der Handlungsebene anzueignen und selbstbewusst Wirklichkeit zu konstituieren, unter enormen Druck. Die Folgen dieser Muster der Entfremdung im digitalen Kapitalismus harren bisher noch einer eingehenden Erforschung, auch über den Bereich der Arbeit hinaus.
Mario Becksteiner ist Arbeitssoziologe und promoviert an der Universität Göttingen zu Fragen der Bürokratisierung und Subjektivierung im Betrieb, am Beispiel von Controllingsystemen.