Nachdem das Europaparlament mit nur 66 Gegenstimmen eine geschichtsfälschende Resolution verabschiedete, haben LUCIANA CASTELLINA (Il Manifesto) und WALTER BAIER (transform!europe) einen Appell gestartet, den über 100 Intellektuelle unterzeichnet haben. Sie appellieren an Europa, sich korrekt an seine Geschichte zu erinnern.
Das Europäische Parlament hat unter dem Titel »Die Bedeutung des europäischen Gedenkens für die Zukunft Europas« am 19. September mit einer großen Mehrheit eine Resolution angenommen, die ein politisches und kulturelles Zeichen setzt und daher entschieden abgelehnt werden muss.
Erstens ist es nicht die Aufgabe einer institutionellen oder politischen Organisation, mittels Mehrheitsentscheidung eine bestimmte Lesart der Geschichte festzuschreiben. Die Instrumentalisierung durch das Dekretieren einer revisionistischen Interpretation der wichtigsten Ereignisse des 20. Jahrhunderts kann nicht die Methode einer ehrlichen Demokratie sein. Wenn die bisherige Interpretation dieser Ereignisse überarbeitet werden soll, so kann dies nur nach wissenschaftlicher Forschung und einer breiten Debatte in der Gesellschaft geschehen.
Zweitens enthält die Resolution inakzeptable Fehler, einseitige Sichtweisen und Verzerrungen. So die Behauptung, es sei der Molotow-Ribbentrop-Pakt zwischen Nazi-Deutschland und der Sowjetunion vom 23. August 1939 gewesen, der den Weg zum Ausbruch des Zweiten Weltkriegs geebnet habe. Diese Behauptung klammert aus, dass es die liberalen westlichen Demokratien waren, die durch ihr Verhalten die Nazi-Expansion erlaubten, so bei der Invasion Äthiopiens (1935), dem Spanischen Bürgerkrieg, in dem Deutschland und Italien den rechtsradikalen Staatsstreich des General Franco unterstützten (1936), dem »Anschluss« Österreichs (1938) und der Politik des Appeasement in München, die die Zerstörung und Zerstückelung der Tschechoslowakei, nicht nur durch Deutschland, sondern auch durch Polen und Ungarn zur Folge hatte.
Darüber hinaus wird in der Resolution der enorme Anteil der Sowjetunion (mit mehr als 20 Millionen Toten) am Sieg über den Nationalsozialismus, der für das Schicksal Europas und der Menschheit maßgeblich war, verschwiegen, ebenso wie der Beitrag derjenigen Menschen, die für die Ideale und unter den Symbolen der unterschiedlichen Strömungen der internationalen kommunistischen Bewegung Hitler und seine Helfer_innen in Europa und überall auf der Welt bekämpft haben. Die Resolution »vergisst« Altiero Spinelli, italienischer kommunistischer und politischer Gefangener zwischen 1927 und 1943, Mitautor des Manifests von Ventotene, der als einer der Gründerväter der europäischen Integration als Namensgeber eines Gebäudes des Europäischen Parlaments geehrt wird.
Die Resolution bringt zustande, Auschwitz zu nennen, ohne zu erwähnen, dass es die Sowjetarmee war, die es befreite und die zur Vernichtung bestimmten Häftlinge rettete.
Bewusst unterschlagen wird, dass in vielen Ländern, Italien, Frankreich, Jugoslawien, Griechenland und anderen, die Kommunist_ innen die Hauptkomponente des Widerstandes gegen Nationalsozialismus und Faschismus bildeten und einen wesentlichen Beitrag zur Wiedergeburt der Demokratien ihrer Länder leisteten, womit die politischen, gewerkschaftlichen, kulturellen und religiösen Freiheiten wiederhergestellt wurden.
Diese Tatsachen in Erinnerung zu bringen, bedeutet nicht, die schändlichen Aspekte des Stalinismus, die Fehler und Schrecken, die in seinem Namen verübt wurden, zu ignorieren oder zu verschweigen. Doch es bleibt ein fundamentaler Unterschied bestehen: Der Nationalsozialismus verwirklichte durch seine schonungslose Diktatur, die jegliche Freiheit, Demokratie, ja Mitmenschlichkeit außer Kraft setzte und die Ausrottung religiöser, ethnischer und sexueller Minderheiten plante, seine offen deklarierten Ziele, während die kommunistischen Regierungen, die sich schwerwiegender und annehmbarer Verletzungen der Freiheit und der Demokratie schuldig machten, damit ihre eigenen Ideale, Werte und Versprechungen verrieten. Das wirft ernste Fragen auf, die weitere Untersuchung und Überlegung erfordern – aber angesichts des Beitrags, den die Aktivist_innen und die UdSSR zum Sieg über den Faschismus geleistet haben, ist die Gleichsetzung von Nazismus und Kommunismus, die Hauptaussage der Resolution, genauso unzulässig wie es, angesichts der Vielfalt seiner unterschiedlichen Strömungen, unzulässig ist, den Kommunismus mit dem Stalinismus zu identifizieren.
Solche Verfälschungen und Auslassungen können niemals Grundlage für ein »gemeinsames Gedächtnis«, noch weniger einen gemeinsamen Lehrplan für die Geschichte in Schulen bilden, wie der Antrag empfiehlt. Sie können auch nicht die Plattform für einen europäischen Gedenktag für die Opfer totalitärer Regime abgeben. Noch weniger dürfen sie die Rechtfertigung für die Entfernung von Denkmälern und Erinnerungsstätten (Parks, Plätzen, Straßen etc.) im Namen des Kampfes gegen einen unbestimmten Totalitarismus sein, der in der Realität einen Vorwand abgibt, die eindeutigen Lehren der Geschichte auszuradieren und die Erinnerung an diejenigen auszu löschen, die sich für den Sieg über den Faschismus aufopferten.
Wir nehmen zur Kenntnis, dass die Resolution des Europaparlaments im Bemühen, ihre Stoßrichtung auszugleichen, einige unvermeidliche Gesten setzt, wie, dass sie sich für einen Kampf gegen das Wiederaufleben des Faschismus, des Rassismus, der Fremdenfeindlichkeit und anderer Formen der Intoleranz ausspricht. Aber dieser notwendige Aufruf zum Kampf gegen Faschismus und Rassismus kann nicht von einer Verdrehung und Verfälschung der Geschichte ausgehen und einbekannter Weise darauf zielen, die Wurzel einer fundamentalen Kraft des Antifaschismus, die Kommunist_innen, abzutrennen. Die Völker Europas dürfen das nicht zulassen.
Mehr Informationen und die Liste der Unterzeichnenden: www.transform-network.net