Wie könnte die neue internationale Arbeitsteilung aussehen – transnational statt multilateral?
VON KURT BAYER
Kurz zum Rekapitulieren: Der grenzüberschreitende internationale Handel ist bis zur Finanzkrise 2008 ff. ca. doppelt so rasch gewachsen wie die globale Wirtschaftsleistung und hat in unterschiedlichem Ausmaß die gesamte Welt erfasst. Schon frühere Phasen der internationalen Arbeitsteilung, etwa der ungleiche Austausch von Bodenschätzen gegen Industriewaren (Textilien) in der Kolonialisierung, der durch die Industrialisierung bis zum Beginn des Ersten Weltkriegs ausgelöste Globalisierungsschub und schließlich die Entfesselung der Kapitalströme anfangs der 1980er Jahre haben den Warenaustausch befördert. In den letzten Jahren kommt durch elektronische Kommunikation (Datenaustausch) ein neuer Treiber hinzu. Seit den l980er Jahren sehen wir durch die Aufspaltung der Produktionsprozesse in viele Einzelteile den Aufbau von »globalen Wertschöpfungsketten«, wo einzelne Komponenten etwa in der Autoindustrie weltweit ausgelagert werden, eben dorthin wo es am billigsten ist. Der eben erschienene »Weltentwicklungsbericht 2020« der Weltbank stellt fest, dass bereits 50 Prozent des Welthandelsvolumens aus diesem Komponentenhandel stammen. Damit würden viele weniger entwickelte Länder leichter in die Weltwirtschaft eingebunden werden können, da deren Unternehmen nicht mehr komplizierte ganze Güter herstellen können müssten, sondern sich auf die Herstellung einzelner, einfacherer Komponenten »spezialisieren« könnten.
Der Kapitalismus in Form des neoliberalen Mainstreams und der Interessen der hauptsächlich Multinationalen Konzerne sieht diese Globalisierung als uneingeschränkt positiv. Er bestimmt damit die Wirtschaftspolitik der Welt. Schlagworte wie Kosteneffizienz (wir investieren dort, wo die Rohstoff- und Arbeitskosten am günstigsten sind), trickle-down (von unseren Investitionen in Billiglohnländern profitieren alle, bei uns und dort), offene Grenzen, Armutsbekämpfung (die internationalen Finanzinstitutionen wie der Internationale Währungsfonds, die Weltbank, und andere sehen in der Einbindung der weniger entwickelten Länder in den Welthandel den primären Weg zur Armutsbekämpfung), günstige Transportmittel (subventionierte Straßen- und Bahnverbindungen, Ausnahme von Flugkerosin von der Besteuerung) bestimmen die Agenda.
Zwar wurde in Sonntagsreden anerkannt, dass diese Globalisierung auch Schattenseiten hat, etwa internationale Kriminalität, Drogen- und Menschenhandel; diese könnten jedoch leicht bekämpft werden bzw. müssten als »Kollateralschäden« in Kauf genommen werden, damit der »freie Handel« mit Waren und Dienstleistungen möglichst ungehindert fließen könne. Die derzeit grassierende Covid-19 Krise, die nunmehr die ganze Welt erfasst, hat allerdings dieser Euphorie einiges an Anziehungskraft genommen. Vielen wird erst jetzt bewusst, dass das Dogma der immer weitergehenden Globalisierung auch Schattenseiten hat: ohne Warenhandel, ohne offene Grenzen, ohne AusländerInnentourismus keine Pandemie! Diese ist, wie der Kapitalismus, weltweit.
Die negativen Seiten der Globalisierung
Allerdings haben KritikerInnen der schrankenlosen Globalisierung schon lange auf negative Aspekte, die essenziell mit dem freien Waren-, Personen-, Kapital- und Dienstleistungsaustausch verbunden sind, hingewiesen: so stammen fast zehn Prozent der weltweiten CO2-Emissionen aus dem grenzüberschreitenden Gütertransport; so zerstört der weltweite Tourismus nicht nur großflächig die Natur, sondern auch eigenständige Kulturen und unterwirft immer weitere Lebensbereiche dem Kommerz; so fallen die »Früchte« aus der Globalisierung hauptsächlich den Leitunternehmen in den Industrieländern zu, während sich die Einkommens- und Vermögensverteilungen sowohl in den Herkunfts- als auch den Zielländern der Globalisierung so stark verschlechtert haben, dass die Stabilität der Gesellschaften durch Armutsrevolten (man denke an den sog. »Arabischen Frühling« anfangs des letzten Jahrzehnts) und durch rechtsradikale Populismusbewegungen gefährdet ist. Zwar hat es durch den unglaublichen Aufstieg Chinas zur zweitgrößten Wirtschaftsmacht der Welt in den letzten 25 Jahren eine teilweise Ausnahme zu diesen Ausbeutungs- und Verarmungstendenzen gegeben, jedoch ist dies auch mit einem gravierenden Verbrauch von Umweltkapital und strenger Verhaltenskontrolle verbunden.
Ende der Pax Americana
Chinas Aufstieg hat das geopolitische System erschüttert: die seit 1945 vornehm (und falsch) so genannte »Pax Americana«, in der die USA und ihre Alliierten das Weltgeschehen weitgehend dominiert haben, besonders seit 1990 als die Sowjetunion als alternatives Gesellschaftssystem aufgelöst wurde, geht zu Ende. Die USA fühlen sich nicht erst seit Präsident Trump, der sich aus den globalen Institutionen und Verträgen zurückzieht, bedroht. Auch wenn China immer wieder betont, dass es – im Gegensatz zu den USA – keine Hegemonialbestrebungen hat, nutzt es sowohl »hard power« (militärische Aufrüstung, Stützpunkte im südchinesischen Meer) als auch »soft power« (Belt and Road Initiative, Hilfslieferungen an viele Länder während der Pandemie, viele Zeichen Guten Willens in den Globalen Institutionen), um sich als Responsible Global Player zu zeigen. Sein Handling in der Covid-19 Krise hat diesen Ruf allerdings ramponiert, auch wenn viele Länder gerne die Finanzierungen und Gaben Chinas annehmen.
Notwendigkeit globaler Kooperation
Es ist unbestritten, dass es eine ganze Reihe von globalen Problemfeldern gibt, die optimalerweise – oder vielleicht auch ausschließlich – auf globaler Ebene, in globaler Zusammenarbeit der Staaten gelöst werden können. Dazu gehören die Stabilität der Weltwirtschaft (inklusive Regelung der Kapitalströme, der Wechselkurse, des notwendigen Aufholens der armen Länder), die Klimabedrohung, die Bekämpfung der grenzüberschreitenden Kriminalität mit besonderer Betonung der internationalen Steuerflucht durch Multinationale Unternehmen, die Migration und – aktuell – die Bekämpfung globaler Epidemien. Für alle diese Bereiche bestehen auf dem Papier viele globale Institutionen, die seit dem Ende des 2. Weltkrieges geschaffen wurden, und in denen die USA und ihre FreundInnen weitgehend das Sagen haben. Diese Institutionen sind vielfach unwirksam geworden, da sich die Verhältnisse seit ihrer Gründung verändert haben, besonders aber, da ihre »globale Legitimität« durch den Ausschluss vieler anderer Länder aus den Entscheidungsstrukturen nicht mehr besteht. Dazu kommen die stärker gewordenen nationalistischen Tendenzen in vielen Teilen der Welt, deren Führungspersonen diese Institutionen nur insoweit akzeptieren wollen, als sie ihren je eigenen Interessen dienen – für globale Institutionen ein Rezept in den Abgrund.
Die Covid-19 Krise
Die Covid-19 Krise führt in den reichen Industrieländern zu teilweiser Abkehr vom Dogma des all seligmachenden internationalen Handels. Die Tatsache, dass 90 Prozent der pharmazeutischen Grundstoffe in China und Indien produziert werden, die Tatsache, dass die höchstentwickelten Länder nicht in der Lage sind, genügend Schutzkleidung für ihr medizinisches und Pflegepersonal bereitzustellen, aber auch die Tatsache, dass die Vernichtung von virtuellem Firmenkapital durch den Absturz der Börsenkurse eine Einladung an »Ausländer« ist, die »Filetstücke« der heimischen Unternehmen billig aufzukaufen, führt zur Abkehr von der Vergötterung des sog. freien Handels und der freien Direktinvestitionen. Plötzlich erlaubt sogar die besonders außenhandels-affine Europäische Union (ein Beispiel für »Turbo-Globalisierung« © Robert Baldwin) zusätzliche Schutzmechanismen gegen ausländische Firmenübernahmen. Diese sind eindeutig gegen China gerichtet. Bislang hatte allerdings niemand etwas gegen Firmenaufkäufe durch die USA oder andere »befreundete« Regime, obwohl auch diese sich um die nationalen Schutzinteressen der Zielländer keinen Deut scheren.
Geopolitik
In dieser geopolitischen Situation, wo ein alternder »Hegemon« sich durch einen Newcomer bedroht fühlt, haben globale Institutionen und globale Kooperationen auf breiter Ebene keine Zukunft. Umfassende Organisationen wie die UNO, der IMF oder die Weltbank, oder auch das Nuklear-Proliferationsverbot werden zwar weiter bestehen bleiben, aber immer zahnloser werden, da sie ihre Beschlüsse nicht gemeinsam fassen, bzw. umsetzen können. Der politische Wille, gemeinsam eine »bessere Welt« zu schaffen, existiert nicht. »My country first« scheint vielfach zu dominieren. Ich bin der Meinung, dass es statt globaler Institutionen zu Einzelkooperationen von je nach Problem und Materie »willigen Ländern« kommen wird, die in Einzelbereichen gemeinsame Beschlüsse fassen, aber offen für etwaige neu Hinzukommende sein werden. Es wird also zu einer weiteren Fragmentierung des ohnehin sehr übervölkerten Portefeuilles an internationalen Institutionen kommen, die entweder auf regionaler Ebene (z. B. EU, afrikanische Union, Mercosur, ASEAN) oder auf der Ebene einzelner Sachbereiche (Beispiele: Klima, Steuerflucht, Investitionen, Pandemien) agieren werden. Solche »Koalitionen der Willigen« werden jedoch in Zukunft viel stärker Nicht-Regierungsinstitutionen, also etwa Sozialpartner und andere, nicht-organisierte Gruppen der Zivilgesellschaften einbinden müssen. Das in den Gründungszeiten der bestehenden globalen Institutionen existierende größere Vertrauen der Bevölkerungen in ihre Regierungen hat einem Misstrauen, aber auch viel breiterem Wissen und Wunsch nach Mitbestimmung und Mitentscheidung Platz gemacht. Wird diesem nicht Rechnung getragen, gehen wir einem ungeregelten Chaos entgegen, in welchem noch stärker als bisher das Recht des Stärkeren dominieren und zu massiven Verwerfungen führen wird. Statt wie bisher multilaterale wird es transnationale Institutionen geben, die auf vielfältigen Organisationsformen, die über den Nationalstaat hinausgehen, aufgebaut sein werden.
Kurt Bayer, Studien in Rechtswissenschaft, Internationale Beziehungen und Volkswirtschaft, Berufliche Tätigkeit im Österreichischen Institut für Wirtschaftsorschung, im Finanzministerium, in der Weltbank und der Europäischen Bank für Wiederaufbau und Entwicklung, derzeit freiberuflich. Verheiratet, zwei erwachsene Kinder.