Vom Narzissmus zum »neuen Miteinander«: eine Corona-Nebenwirkung? Zwischen gesundem Selbstbewusstsein als zentraler Wert der neoliberalen Gesellschaft und der narzisstischen Persönlichkeit als Pathologie.
VON RAINER GROSS
Die Einhaltung der aktuellen Bestimmungen fordert von jeder und jedem Einzelnen Disziplin und Selbstkontrolle – auch bei größtem Unabhängigkeitsdrang befolgen die meisten Menschen die von der Politik getroffenen Anordnungen. Trotzdem aber kann sich niemand darauf verlassen, dass die eigene Anstrengung ausreicht, um eine Ansteckung zu verhindern: Jede/r muss sich auch auf seine Mitmenschen verlassen. Auch bisher war die völlige Autonomie der/des Einzelnen nur eine Illusion, jetzt aber ist die hochgradige Interdependenz von niemandem mehr zu leugnen. Niemand kann es »alleine schaffen« – selbst das größte ICH muss sich unter den Bedingungen der Krise aktuell auf ein WIR beziehen.
Die deutlich veränderte Balance zwischen Ich- und Wir-Identität kann man auch an der so massiv veränderten Definition des »Helden« beobachten. Das Rollenbild des heroischen Individuums wurde massiv umgeschrieben: Plötzlich schallt ausgerechnet dem Beruf Supermarkt-Kassierer, der bisher als Musterbeispiel für Mit bürger Innen in prekären Arbeitsverhältnissen herhalten musste, von überall Anerkennung und Applaus entgegen.
Neben diesen »HeldInnen des Alltags« werden auch »HeldInnen der Naturwissenschaft« über Nacht geboren: Wer kannte bisher MathematikerInnen, EpidemiologInnen oder VirologInnen – diese oft belächelten ExpertInnen sind plötzlich geachtet und gefragt, die Wissenschaft wird sogar zur »5. Macht im Staat« hochgeschrieben.
Das Ende des Narzissmus?
Wie peinlich inkompetent wirkt dagegen ein narzisstisch-grandioser Elefant wie Donald Trump (trotz noch immer hoher Umfragewerte für den »Kriegspräsidenten«): Erstmals kommt er mit seiner »Privat-Realität« nicht mehr durch, erstmals muss er sich dem Rat dieser von ihm so verachteten ExpertInnen beugen. Auch wenn er sich noch »nicht vorstellen kann, Diktatoren mit Schutzmaske zu empfangen«. Aber seine »alternative facts« erweisen sich als das, was sie immer schon waren: Illusio nen. Fast schon tragikomisch erlebt die Nation jetzt seine Versuche, die Realität umzuschreiben, wenn er sie als Bedrohung für sein Selbstwertgefühl erlebt (laut S. Akhtar ein typisches Verhalten narzisstischer Persönlichkeiten).
Aber nicht nur bei Trump als »Posterboy« eines grandiosen Narzissmus, sondern auch unter seinen »Followern« spürt man eine Veränderung: Auf einmal ist es nicht mehr cool und bewundernswert, dauernd »ich, ich, ich« zu schreien. Zur Klarstellung: Natürlich werden die großen und kleinen NarzisstInnen auch nach Corona nicht zu achtsamen, gemeinwohlorientierten AltruistInnen mutieren. Aber: Der narzisstisch-egoistische Gestus von Stärke und Rücksichtslosigkeit funktioniert nicht mehr als Distinktionsfaktor. Es könnte sein, dass wir in den letzten Wochen den – virusbedingten – Anfang vom Ende eines zentralen neoliberalen Wertes miterleben. Ist das »Zeitalter des Narzissmus« vorbei?
Jedenfalls sollte man bei der Verwendung psychoanalytischer Begriffe und Konzepte, die in die Alltagssprache eingesickert sind, prinzipiell vorsichtig sein. Was verstehen eigentlich die Psychoanalytiker unter Narzissmus und was bedeutet der Begriff in der Alltagssprache?
Begriffsgeschichtliches
1914 schrieb Freud von jenen »selbstgenügsamen« Personen, die viel mehr auf sich selbst zentriert sind als auf andere Menschen, gerade dadurch aber oft besonders souverän oder attraktiv wirken. Für viele AnalytikerInnen aber bedeutet Narzissmus nicht nur die Selbstliebe, sondern vielmehr die Liebe zum Bild von sich selbst. In der Öffentlichkeit wurde der Begriff erst ab 1975 bekannt durch die »narzisstische Persönlichkeitsstörung« – von Otto Kernberg als massive Pathologie beschrieben. Solche »malignen Narzissten« sind für ihn weder liebesfähig noch empathiefähig, im Verhalten zu anderen Menschen sind sie egoistisch, manipulativ und ausbeuterisch. Ernst Kohut hingegen betont die Bedürftigkeit und innere Unsicherheit dieser Menschen.
Für die TherapeutInnen also eine schwere und schwer behandelbare Symptomatik. Was bedeutet es aber, wenn nicht nur Individuen, sondern eine gesamte Gesellschaft von narzisstischen Normen beherrscht wird? Dann wäre ja das Verhalten der »malignen Narzissten« mehrheits fähig und auch adaptiv. Warum also Charakterzüge behandeln, die Erfolgschancen verbessern?
Die Diagnose einer narzisstischen Gesellschaft wurde mit Christopher Laschs »The culture of narcissism« 1979 zum Schlagwort. Seither wird das Adjektiv »narzisstisch« medial und privat ausschließlich negativ verwendet zur Diskreditierung und Pathologisierung auffälliger Personen oder Verhaltensweisen. In seiner düsteren Prognose sorgt sich der Autor um eine politische Krise des Kapitalismus und des Gemeinwesens. Für Lasch sind Narzissten geprägt vom Verlangen nach Anerkennung, ja Bewunderung.
In den Jahrzehnten danach erlebten wir die globale Hegemonie eines neoliberalen Zeitgeistes, der schon kurz nach Lasch mit der Ära von Reagan und Maggie Thatcher mit ihrer Demontage des Sozialstaates begann. Spätestens seither war für viele Menschen Solidarität nichts mehr als eine Schwäche, sei doch jeder im Konkurrenzkampf auf sich und seine Leistung angewiesen. Die entstehenden wirtschaftlichen Strukturen führten zu einer Priorisierung, ja Sakralisierung der Autonomie bei gleichzeitiger massiver Verminderung der sozialen Sicherheit und Einbindung.
Bis heute faszinieren Narzissten trotz moralischer Ablehnung: Hunderte Websites warnen vor der »dunklen Triade« von Narzissmus, Psychopathie und Machiavellismus. Im Gegensatz dazu aber preisen ebenso viele Ratgeber weiterhin den gesunden Egoismus und vor allem das intakte Selbstwertgefühl als unabdingbar im Job und in unseren privaten Beziehungen.
Die Symbiose von Elefanten und Schneeflocken
Aus psychoanalytischer Sicht ist dies ein Spaltungs-Prozess zwischen gesundem Selbstbewusstsein und pathologischem Narzissmus. Dazu kommt eine Tendenz zur Projektion: Der Narzisst ist immer der Andere! Die Gesunden hingegen beanspruchen nur die ihnen gebührende Anerkennung.
Eine Differenzierung des englischen Psychoanalytikers Herbert Rosenfeld scheint mir hier hilfreich. Er unterscheidet grandiose von vulnerablen Narzissten: Die grandiosen Narzissten (»thick-skinned«) entsprechen dem Bild des rücksichtslosen, gierigen Elefanten à la Donald Trump. Seine Charakteristik der vulnerablen Narzissten (»thin-skinned«) erinnert mich an die »Schneeflocken« – so der abwertende Begriff für die allzu empfindlichen und sensiblen Millennials. Diese seien sich zwar ihrer Einzigartigkeit sehr bewusst (denn jede Schneeflocke ist einzigartig …), seien aber gleichzeitig hypersensibel gegenüber Mikro-Kränkungen. Auf anderem Wege führt dies bei den »Snowflakes« zum gleichen Effekt wie bei den grandiosen »Elefanten«: Beide können die Alterität ihrer Objekte nur schwer akzeptieren. Andere Menschen sind für sie kaum als getrennt und unabhängig von ihnen selbst erlebbar.
Die Interaktion dieser beiden Typen kann sozialpsychologisch bzw. gesellschaftlich durchaus explosiv werden: Auf Ebene einer kritischen Massenpsychologie wäre der grandiose Narzisst der gierige Monopol-Kapitalist in einer Libido-Ökonomie. Er will möglichst alle verfügbaren Ressourcen an Anerkennung für sich allein akkumulieren, monopolisieren, sodass für alle anderen in seiner narzisstischen Inszenierung nur die Rolle des bewundernden Publikums bleibt. Aber die Sensiblen, Vulnerablen, so oft Gekränkten können auch durchaus narzisstischen Gewinn aus der Bewunderung und Unterstützung solcher Führer ziehen: Wenn schon sie selbst so schmerzlich weit entfernt sind von der Erfüllung ihrer eigenen narzisstischen Größenphantasien, wenn sie sich so schmerzlich missachtet und beschämt fühlen, dann können sie immer noch dem schamlosen Populisten zujubeln, der sich straflos alles nimmt, was sie sich nur vergeblich wünschen können …
Passend zu dieser Aufteilung in grandiose und dadurch auffällige NarzisstInnen und ihre unauffälligeren dünnhäutigen BewunderInnen scheint mir auch die so umfassend positive Rolle, die im öffentlichen Diskurs dem Begriff der Anerkennung zuteilwird: Oft wird vergessen, dass (zumindest nach Hegel und Axel Honneth) Anerkennung immer nur in Gegenseitigkeit funktionieren kann. Daher auch die so bitteren Konflikte und Ressentiments im »Kampf um Anerkennung«, daher der große Wunsch nach Resonanz.
Die Corona-Krise als Hoffnungsträger einer solidarischen Zukunft?
Im bisherigen Verlauf der Corona-Krise wurde die Anerkennung (oft erstmals) auch jenen »SystemerhalterInnen« zuteil, die in der beinharten Konkurrenz um Aufmerksamkeit und Einkommen bisher immer das Nachsehen hatten. Innerhalb weniger Wochen sind im Sinne einer Umwertung nicht aller, aber vieler Werte auch Ideen wie Solidarität und Gemeinwohl populär geworden, die noch im Februar 2020 von einer überwiegenden Mehrheit als Ausdruck veralteter Gewerkschafts-Mentalität oder gutmenschlicher Träumerei verachtet wurden. So schaffte es sogar das gute alte bedingungslose Grundeinkommen zu neuer, möglicherweise aber nur kurzlebiger Blüte als »Virus-Grundeinkommen«.
Es wäre ein »Corona-Kollateralwunder«, wenn nach der Krise wirklich die jetzt beschworene globale Solidarität ausbrechen würde oder auch nur eine vorsichtige Humanisierung des Arbeitslebens als neues Miteinander. Der vielfach beschworene Bewusstseinswandel wird jedenfalls eher am Lohnzuwachs der Kassiererin und der Pflegehelferin ablesbar sein als am Betroffenheitsgrad der Kommentare.
Im Guten wie im Bösen: Diese globale Krise hat bewiesen, wie verblüffend rasant Vieles, was bisher so alternativlos erschien, weggefegt werden kann. Veränderung kann also schnell gehen – ihre Richtung kann aber derzeit noch niemand verlässlich einschätzen. Umso mehr sind wir aufgefordert, nicht nur das Wieder eröffnen der Geschäfte, sondern die Wiederherstellung der bürgerlichen Freiheiten zu beobachten.
Rainer Gross ist Psychiater und Psychoanalytiker in Wien.