Von Walter Baier
Der Angriffskrieg der Russischen Föderation gegen die Ukraine hat die von der EU-Spitze vor zwei Jahren gestartete Diskussion über die Zukunft Europas in den Hintergrund gerückt. Oder sollte man besser sagen, er hat sie entschieden? Riesige Ressourcen, die für eine ökologische Transformation erforderlich wären, wurden innerhalb weniger Wochen in Rüstungsprogramme umgeleitet. Während angeblich die Mittel für den Ausbau der Gesundheitssysteme und eine anständige Bezahlung der dort beschäftigten Menschen fehlen, sollen nationale Heeresbudgets verdoppelt werden. Kein Mensch glaubt mehr an eine strategische Autonomie der EU, findet ihr Umbau in ein Militärbündnis doch im Rahmen der NATO und der von den USA vorgegebenen Maximen statt.
Abschied von der friedlichen Integration
Ist das erste Opfer des Krieges die Wahrheit, so ist in diesem Fall das erste politische Opfer der Gedanke an eine demokratische und friedliche Integration Europas. Es fragt sich, wie es möglich ist, dass ein solcher Wechsel ohne eine öffentliche Erörterung stattfinden konnte. Die Gründe sind vielfältig: Zum einen warteten die Aufrüstungspläne bereits in den Schubladen auf ihre Verwirklichung, aber erst Wladimir Putins Angriffskrieg schuf eine politische und psychologische Atmosphäre, in der sie als alternativlose Reaktionen auf eine geänderte Lage präsentiert werden konnten. Und schließlich auch die Haltung der politischen Parteien, insbesondere der Grünen, die sich etwa in der Resolution des Europaparlaments ausdrückte, deren Chauvinismus wert wäre, als Anhang von Karl Kraus’ Die letzten Tage der Menschheit verewigt zu werden.
Demokratie und nationale Selbstbestimmung bestehen eben nicht nur in abstrakten Begriffen des Verfassungs- und Völkerrechts, sondern können nur im Zusammenhang mit den politischen Kräfteverhältnissen beurteilt werden, denen sie zum Ausdruck verhelfen. Der ausschlaggebende Maßstab ist, in welchem Ausmaß sie die Räume für politische Auseinandersetzungen und Entscheidungen bereitstellen, die zur Lösung drängender gesellschaftlicher Probleme führen. Dies betrifft sowohl die nationale als auch die europäische Ebene. So erfordert die Bewältigung der Klimakrise enorme Investitionen, die in neue Richtungen gelenkt werden müssen. Dazu sind Eingriffe in die Verteilungsverhältnisse und die Eigentumsordnung notwendig. An ihnen muss die Demokratie gemessen werden.
Darüber hinaus aber, wenn die Gesellschaften des Nordens sich tatsächlich am Prozess einer friedlichen, globalen Transformation beteiligen wollten, müsste die Notwendigkeit einer globalen Umverteilung von Ressourcen und Lebenschancen auch von den Bevölkerungen akzeptiert werden. Diese werden Änderungen der Lebensweise und eine umfassende kulturelle und mentale Anpassung an eine neue globale Realität erfordern. Wir sprechen hier von der Bildung eines neuen politischen Willens und einem tiefgreifenden Wandel der Kultur.
Dekonstruieren liberaler Mythen
Vor dem Ukraine-Krieg versuchten sich die Liberalen und die Grünen als die Vertreter*innen einer kosmopolitischen Weltsicht vorzustellen. Heute betreiben und verteidigen sie eine Politik, die de facto auf die Zerschlagung der globalen Wirtschaftsordnung und ihre Ersetzung durch eine in Blöcke fragmentierte Welt hinausläuft. Ein wachsender Teil der Weltöffentlichkeit entschlüsselt die liberalen Mythen als das, was sie tatsächlich sind: als Ideologie des Wohlstandschauvinismus, mit dem die kapitalistischen Staaten des Nordens den Anspruch auf Weltbeherrschung rechtfertigen.
Ein Mythos sind die Vereinigten Staaten von Europa. Was sollte das sein? Könnte sich die EU zu einer Republik erklären und sich nach Osten ausdehnen, um ihre letzte Grenze am Ural zu suchen? Zumindest sollten wir es nach der Tragödie in der Ukraine und den Debakeln in Transnistrien und Georgien besser wissen.
Verwandte, Parteifreund*innen und Nachbar*innen kann man sich bekanntlich nicht aussuchen. Ob es uns gefällt oder nicht, Sicherheit und Frieden in Europa können nur dadurch erreicht werden, dass es wieder zu einer Koexistenz mit Russland kommt. Aus der Sicht der USA ist dies vielleicht kein vorrangiges Anliegen. Aus europäischer Sicht ist es das aber sehr wohl. Dieser Unterschied bedeutet, dass eine echte strategische Autonomie eine von den USA und der NATO emanzipierte Sicherheitsarchitektur erfordert, die sowohl EU-Mitgliedstaaten als auch Staaten umfasst, die in absehbarer Zukunft nicht Mitglied der EU werden. Daher sind gesamteuropäische Rahmenwerke wie der Europarat und die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit (OSZE), die in der öffentlichen Wahrnehmung von der Europäischen Union überschattet werden, von immer größerer Bedeutung.
Die Erkenntnis, dass EU und Europa unterschiedliche Dinge sind, ist nicht nur von realpolitischer Bedeutung, sondern könnte auch dazu beitragen, das einseitige Verständnis von Integration zu korrigieren. Stellen wir uns vor, den Mitgliedstaaten der OSZE gelänge es, ein Abkommen zu schließen, in dem Europa zur atomwaffenfreien Zone erklärt wird, wie sie etwa in Lateinamerika besteht. Wäre das nicht ein enormer Schub für die europäische Integration, möglicherweise sogar von größerer Bedeutung als die Einführung des Euro?
Zweiter Mythos: Die europäische Integration könne nur auf den Trümmern der Nationalstaaten verwirklicht werden. Warum sollte das so sein? Die sozialistische Linke hat immer das Prinzip der nationalen Selbstbestimmung anerkannt. Das bedeutet auch, die Vielfalt in Bezug auf die EU zu akzeptieren. Mag es für Norwegen aufgrund seiner intensiven Handelsbeziehungen mit dem Vereinigten Königreich und seines Reichtums an natürlichen Ressourcen besser sein, außerhalb der EU zu bleiben, trifft das aber nicht unbedingt auf Irland zu. Daher bedeutet die Anerkennung des Rechts, außerhalb der EU zu bleiben oder sie sogar zu verlassen, aus einer fortschrittlichen internationalistischen Position heraus auch nicht notwendigerweise, dass man für die Zerstörung der EU kämpft. Es könnte sich sogar mit dem Kampf für einen demokratischen Wandel in der EU verbinden.
Europa ist jedenfalls noch lange nicht fertig mit der so genannten »nationalen Frage«. Den Beweis liefern die kontinentweit wachsenden Nationalismen. Nationalismus kann nicht mit abstrakten Appellen bekämpft werden, sondern mit einer Sozialpolitik, die Arbeit, soziale Sicherheit und ökologische Sanierung sicherstellt. Darüber hinaus aber ist eine radikale Demokratisierung der nationalen Beziehungen auf der Grundlage des Selbstbestimmungsrechts erforderlich. Im Rahmen der EU erfordert dies eine effektive und klare Kompetenzverteilung zwischen nationalen und europäischen Institutionen.
Eine Komplikation der nationalen Beziehungen liegt darin, dass sie sich im derzeitigen Gefüge von Staaten und EU nicht angemessen widerspiegeln. Dies gilt für die Machthierarchie im Europäischen Rat, es gilt für die Völker, die innerhalb der bestehenden Staaten Selbstbestimmung fordern (Schottland, Katalonien, Baskenland, Korsika etc.), aber auch für neue nationale Minderheiten, die durch Migration entstanden sind. Manche von ihnen verteilen sich auf mehrere Staaten, wie etwa die Kurd* innen und die Türk*innen, und umfassen mehr Personen als die Bevölkerungen kleinerer EU-Mitgliedstaaten. Dies wirft die Frage nach ihrer kulturellen, religiösen und politischen Repräsentation auf europäischer Ebene auf. Die Frage kann, wenn sie nicht politisch angegangen wird, zu einem Einfallstor für religiöse und ethische Fundamentalismen und die extreme Rechte werden.
Krise der europäischen Integration
Nationale Selbstbestimmung als solche ist nicht mehr als eine leere Worthülse, die auch für die nationalistische Rechte brauchbar ist. Worauf es ankommt, ist der soziale und wirtschaftliche Inhalt. Teil der Wirklichkeit sind auch die Unterschiede der politischen Gewichte. Das gleiche nationale Recht, das für Dänemark beansprucht wird, ist qualitativ etwas völlig anderes als für Frankreich. »Österreich zuerst« kann als ein Witz betrachtet werden, während »Deutschland zuerst« ein Alptraum wäre, zumal dann, wenn es mit Ersterem zusammenfällt.
Die Krise der europäischen Integration reicht von der Friedenspolitik über die Gesundheitsversorgung bis zur Ökologie, von der Industriepolitik bis zu den Sozialsystemen. Sie kann nur in dieser Komplexität verstanden werden. Im Kern aber ist sie politisch! Die heutige EU stellt eine seltsame Mischung dar: Einerseits ist sie eine Freihandelszone mit einer gemeinsamen Währung, die mit einem Gerichtshof und einer, ihr zu Diensten stehenden Bürokratie gekoppelt ist, und andererseits leistet sie sich ein schwaches Parlament, das weder über die Fähigkeit verfügt, die Märkte zu regeln noch die Bürokratie zu kontrollieren. Das Übergewicht der Regierungen, die über den Europäischen Rat die EU kontrollieren, hier auch die Souveränität der EU über die Außen- und Militärpolitik ausüben, ist mit einem wirk lichen Parlamentarismus nicht zu vereinbaren.
Eine Neugründung Europas auf der Grundlage einer radikaldemokratischen Vision erfordert daher in erster Linie, dass das Europäische Parlament zum Zentrum der Entscheidungsfindung in den Angelegenheiten wird, für die die EU zuständig ist. Realpolitisch ist ein ungeordnetes Auseinanderbrechen der EU trotz wachsender desintegrativer Tendenzen ein unwahrscheinliches Szenario. Ob dies bei einer Eskalation des Krieges und einer Konfrontation mit China so bleiben würde, ist eine andere Frage. Doch niemand kann ernsthaft glauben, dass auch nur ein einziger Mitgliedstaat der EU in der Lage ist, die Herausforderung, vor denen die Gesellschaften stehen, allein zu bewältigen, zumal selbst die größeren Länder der EU im Vergleich zu tatsächlichen Großstaaten wie China, Indien, den USA, Pakistan, Indonesien oder Nigeria nur mittelgroße Länder sind.
Wir stehen also vor der Frage, wie das Zusammenleben der europäischen Völker geregelt werden kann, und in welchen institutionellen Formen die dazu erforderlichen Entscheidungen getroffen werden. Letztlich geht es darum, in welchem politischen und institutionellen Rahmen die europäischen Völker über ihre Zukunft entscheiden wollen. Der Krieg und seine absehbaren wirtschaftlichen, ökologischen und sozialen Auswirkungen hat die Klärung dieser Frage nur dringender gemacht.
Walter Baier ist Vorstandsmitglied von transform! europe. In der April-Ausgabe der Volksstimme veröffentlichte er »12 Punkte für den Frieden