101 Jahre regiert die SPÖ, unterbrochen nur durch Diktatur und Faschismus, im Wiener Rathaus. Ein Weltrekord, der auch die bevorstehende Wahl überstehen wird. Die Historisierung ihrer Errungenschaften wird in der Wohnungspolitik durchbrochen, etwa 500.000 WienerInnen wohnen auch heute im Gemeindebau. Mutige Improvisation einst und die Orientierung an ein zahlungskräftiges Klientel jetzt offenbaren die Differenz.
VON WALTER BAIER
Sich am optimistischen Blick in die Vergangenheit aufzurichten, dafür bietet die Zwischenkriegszeit reichlich Stoff, zum Beispiel Otto Glöckels progressive Bildungsreformen. Bitter ist nur, dass sein Versuch, die gemeinsame Schule der 10- bis 14jährigen als Regelschule einzuführen, bis heute nicht verwirklicht ist, trotz SPÖ-Allein regierung in den 1970er-Jahren. Zu nennen sind auch die Errungenschaften im Wohlfahrts- und Fürsorgewesen, der Rückgang der Säuglingssterblichkeit, der Tuberkulose und der Syphilis sowie der ärgsten Auswüchse der Jugend- und Kinderverwahr losung. Dabei sollen aber auch die autoritären und patriarchalen Züge der von Stadtrat Julius Tandler geleiteten Familien politik, inklusive der abscheulichen eugenetischen Thesen, die er vertrat, nicht verschwiegen werden.
»Sprechende Steine«
»Wenn wir einst nicht mehr sind, werden diese Steine für uns sprechen«, mit diesen Worten eröffnete 1930 der Wiener Bürgermeister Karl Seitz den Karl Marx-Hof, den emblematischsten aller Superblöcke, der 5.000 Menschen ein neues, leistbares, menschenwürdiges Heim bot. Das Elend, das die 1919 gewählte Stadtverwaltung vorgefunden hatte, lässt sich mit statistischen Daten kaum beschreiben. Beinahe drei Viertel der Wohnungen bestanden aus Küche und Zimmer, allenfalls mit einem Kabinett. In neun Zehnteln der Wohnungen gab es weder elektrisches Licht noch Toiletten oder Fließwasser. Unter diesen elendiglichen Standards waren aber viele ihrer Inhaber_ innen gezwungen, Untermieter_innen und Bettgeher_innen aufzunehmen, die selbst sonst überhaupt keine Bleibe fanden.
Um der ärgsten Wohnungsnot nach dem Krieg Herr zu werden, adaptierte die Stadtverwaltung zunächst freigewordene Militär objekte. Auf der Schmelz wurde der erste kommunale Wohnungskomplex errichtet. Die Wirkung dieser Maßnahmen blieb beschränkt.
Zum wichtigsten Instrument im Kampf gegen die Wohnungsnot wurde das am 13. November 1918 im revolutionären Sturm vom Staatsrat erlassene Wohnungs anforderungsgesetz, das den Kommunen erlaubte, leerstehende oder unterbenützte Wohnungen Bedürftigen zuzuteilen. Bis zum Auslaufen dieses Gesetzes, das zu verlängern sich die rechte Regierung weigerte, hatte die Gemeinde Wien 45.000 Wohnungen zur Verfügung gestellt, was auch im Vergleich mit den 63.938 Wohnungen, die sie bis 1933 bauen ließ, eine beachtliche Zahl darstellt.
Klassenkämpferischer Spin der Finanzpolitik
Die eigentliche Geburtsstunde des Roten Wien schlug am 21. September 1923, als der Gemeinderat den denkwürdigen Beschluss fasste, in fünf Jahren 25.000 leistbare, gesunde, helle Wohnungen zu bauen. Ein gewaltiges Unternehmen wurde ins Werk gesetzt. In 384 kommunalen Wohnprojekten beschäftigte die Gemeinde neben den Architekten des Magistrats 189 freischaffende Architekten und eine Architektin, Margarete Schütte-Lhotzky. Was in der Rückschau wie die planmäßige Verwirk lichung einer auf die Großstadt projizierten sozialistischen Utopie ausschaut, stellt sich bei genauerer Betrachtung als geniale Kombination von durch die Umstände nahegelegten Improvisationen dar. Da die beabsichtigte Sozialisierung der großen Industrien an der Obstruktion des Großkapitals und der Christlichsozialen Partei gescheitert war und die Sozialdemokratie aus der Koalitionsregierung ausschied, konzentrierte sie sich notgedrungen auf die Wiener Stadtverwaltung.
Eine wesentliche Voraussetzung ihrer erfolgreichen Wohnungspolitik bildete der mitten im Krieg vom Kaiser eingeführte Mieterschutz. Nachdem die konservative Regierung 1922 mit ihrer Absicht gescheitert war, den Mieterschutz abzuschaffen, sahen sich die Hausherren und Spekulanten veranlasst, ihre so »entwerteten« Grundstücke zu einem Bruchteil der Vorkriegspreise abzugeben. Die Inflation, die die gesetzlich festgelegten Mieten nulli fizierte, tat ein Übriges, sodass die Gemeinde 1929 über nicht weniger als 39 Prozent der Gemeindefläche verfügte.
Eine weitere Voraussetzung wurde mit der 1922 vollzogenen Trennung Wiens von Niederösterreich geschaffen. Die politische Niederlage, die die Sozialdemokratie im Streit um die Bundesverfassung gegenüber dem Partikularismus der agrarischen Bundesländer erlitten hatte, erwies sich nun als segensreich: Erst die Steuerhoheit des Landes Wien ermöglichte nämlich jene Finanzpolitik, die für die Realisierung des Wohnbauprogramms erforderlich war.
Nicht nur wurde der Ertrag aus den Gemeindesteuern gegenüber der Vorkriegszeit beinahe verdreifacht, die Steuerpolitik erhielt mit den Luxussteuern und der ertragreichen Wohnbausteuer auch einen klassenkämpferischen Spin. So trugen die billigsten Wiener Wohnungen und Ge schäftslokale (82 Prozent der Miet projekte) nicht mehr als 22 Prozent zu ihrem Aufkommen bei, während die Steuer allein für die 86 teuersten Objekte so viel ausmachte wie die für 350.000 Proletarier_ innenwohnungen. Kein Wunder, dass der Finanzstadtrat Hugo Breitner zum Hassobjekt der Bourgeoisie und zur Zielscheibe antisemitischer Diffamierung wurde.
Als sich aber die Kräfteverhältnisse Ende der 20er-Jahre noch weiter nach rechts verschoben, war es gerade die Finanzpolitik, mit der dem Sozialismus in einer Stadt der Todesstoß versetzt wurde. Die Wohnbausteuer deckte nämlich nur ein Drittel der Aufwendungen für den Wohnbau. Der Rest kam aus dem allgemeinen Budget der Stadt, das wiederum zu 44 Prozent aus dem Ertragsanteil Wiens an den Bundessteuern gespeist wurde. Als die christlich-soziale Regierung 1930 dazu überging, diesen Ertragsanteil drastisch zu reduzieren und so der Stadt eine harte Austeritätspolitik aufzwang, kam auch der kommunale Wohnbau zum Erliegen. Davor musste auch Hugo Breitner kapitulieren, der im Herbst 1932 aus »gesundheitlichen Gründen« zurücktrat.
Trotz seiner Niederlage gilt das Rote Wien als bedeutendstes Beispiel eines sozialdemokratischen Reformismus. Die Antwort auf die Frage, ob der Austromarxismus, der es ideologisch einrahmte, nichts weiter als eine Schimäre war, die den radikalen Teil der Arbeiter_innenklasse bei der Stange halten sollte, oder ob er tatsächlich eine Strategie zur sozialistischen Umgestaltung der Gesellschaft darstellte, liegt allerdings unter den Trümmern des Februar 1934 und den geistigen Verwüstungen, die der Nationalsozialismus hinterließ, vergraben.
Epilog
Zeitsprung: Bei den Gemeinderatswahlen 2015 entfiel beinahe jede zweite Stimme im Gemeindebau auf die FPÖ. Das wird heuer anders ausschauen, trotzdem besteht der Vertrauensverlust der SPÖ, gerade in ihrer einstigen Stammwähler_innenschaft, weiter. Auch weil der kommunale Wohnbau zum Stiefkind der sozialdemokratischen Gemeindepolitik abgewertet wurde, was sich am Erhaltungszustand vieler Anlagen erkennen lässt.
2004 stellte die Gemeinde Wien den kommunalen Wohnbau überhaupt ein, paradoxerweise gerade dann, als die Stadt nach Jahrzehnten wieder zu wachsen begann.
Dabei ist Wohnen auch heute eine Klassenfrage. Untersuchungen zeigen, dass die ärmsten Haushalte anteilsmäßig doppelt so viel von ihrem Einkommen für ihre Wohnung ausgeben wie die Durchschnitts verdienenden.
Das hat der beträchtlich geförderte Wohnbau gemeinnütziger, genossenschaftlicher oder privater Bauträger aufgrund seiner vorrangigen Orientierung auf eine zahlungsfähige Klientel nicht verbessert, sodass immer mehr nicht vermögende Menschen auf den privaten Markt und auf befristete Mietverhältnisse verwiesen wurden. Dort aber übersteigen die Mieten im Verhältnis zum durchschnittlichen Monatsgehalt die Niveaus von Hamburg, Berlin und München.
Die wenigen, 2015 von der Gemeinde neu projektierten Wohnungen, mit denen eine Korrektur signalisiert werden sollte, sind da nur ein Tropfen auf dem heißer werdenden Stein der Wohnungsknappheit. Dass Michael Ludwig, damals Wohnungsstadtrat, gleichzeitig einen so genannten Wien Bonus einführte, um die »Ur-Wiener« bei der Vergabe von Gemeindewohnungen zu privilegieren, schafft zwar keinen zusätzlichen Wohnraum, zeigt aber, in welchem Ausmaß die Wiener SPÖ bereit ist, den von der FPÖ geschaffenen Stimmungen Raum zu geben.
Weitere Beispiele lassen sich sonderzahl dafür finden, dass die heutige Sozialdemokratie auch in Wien dem verlorenen Sohn gleicht, der ein großes Erbe verschleudert hat. Anders aber als in der Bibel findet sie den Weg zurück nicht in der Wirklichkeit, sondern nur in der melancholischen Rückschau.
Das aber ist zu wenig, um die Menschen in unserer Stadt vor dem bevorstehenden wirtschaftlichen Tsunami zu schützen.
Literaturempfehlung
Hans und Rudolf Hautmann: Die Gemeindebauten des Roten Wien 1919–1934, Schönbrunn Verlag 1980, Bildband (514 Seiten plus Plankarten), 40 €. Zu bestellen bei: transform! europe
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