Vier Überlegungen zur revolutionären Geduld von WALTER BAIER.
I. Mit Recht wird am Regierungsabkommen kritisiert, und keineswegs nur von Links, dass die Grünen die Fortsetzung des Schwarz-Blau-Kurses in der Flüchtlings- und Migrationspolitik ermöglichen. Diese Kritik wird zunehmen und möglicherweise sogar die Koalition sprengen.
Man kann ein Regierungsprogramm sicher als ein Kompendium von Einzelmaßnahmen lesen und Bilanz ziehen: So und so viel Pluspunkte, so und so viel Minus, ergibt netto… Ein solches Urteil bleibt aber subjektiv, je nach dem Stellenwert, den man einzelnen Kapiteln einräumen möchte.
Man kann aber auch nach der Qualität fragen, nach dem gesellschaftspolitischen Gehalt.
Werner Kogler hat dazu einen interessanten Gedanken beigetragen: Bei den Europaparlamentswahlen seien, so sagte er, zwei Strömungen, die Konservativen und die Grünen, gestärkt worden. »Nun müsse man an der ›großen Versöhnung von Ökonomie und Ökologie‹ arbeiten.«
Umstandslos setzt er »die Ökonomie« mit dem neoliberalen Programm der Konservativen gleich: Senkung der Körperschaftssteuer, Nulldefizit, Übergang der Arbeitsmarktkompetenzen ins Wirtschaftsministerium, Subventionen für die Privatbahnen, Entrepreneurship Education in den Schulen, Deregulierung der Kapitalmärkte, Förderung des Wohnungseigentums, so steht’s, gleichmäßig über den Text verstreut, im Regierungsabkommen.
Die Grünen sind eine gesellschaftspolitische Catch-all-Partei und keine »Klassenpartei«, was viele für einen Vorteil halten. Die ÖVP hingegen ist eine Klassenpartei, die den wirtschaftlichen Nutzen und den Machtgewinn ihrer Klientel in keinem Augenblick aus den Augen verliert. Die Staatsquote auf 40 Prozent abzusenken, ist Gesellschaftspolitik pur und setzt die Parameter für einen Generalangriff auf den Sozialstaat. Dieser Kohärenz haben die Grünen nichts entgegenzusetzen.
Was somit links von der Mitte fehlt, ist eine Klassenpartei, die die Interessen der Bevölkerung mit ähnlicher Konsequenz artikuliert wie die ÖVP die des Kapitals.
II. Erweitert sich der politische Raum für die Linke? Der politische Raum für die Linke würde sich unter zwei Voraussetzungen erweitern: erstens, wenn ein größerer Teil der Grün-Wähler_innen davon überzeugt wäre, dass die Bewältigung der Umweltkrise nicht eine Versöhnung, sondern eine Konfrontation mit dem neoliberalen Kapitalismus erfordert; und zweitens, wenn eine Partei, die den Bruch mit dem Neoliberalismus zu ihrem Programm macht, von der breiten Öffentlichkeit wahrgenommen werden könnte.
Diese beiden Voraussetzungen bestehen zurzeit nicht, aber man kann an ihnen arbeiten.
Ideen für eine »gerechte Gesellschaft« oder ein »schönes Leben für alle« gibt es.
Verhalten wir uns aber nicht wie die von Rosa Luxemburg karikierten Sozialisten, die sich die Geschichte als »dienstfertiges Ladenfräulein denken, das jedem nach Belieben und Geschmack das Gewünschte aus der ganzen Masse der guten Dinge herauskramt.«
Welche Konflikte müssten ausgetragen werden? In der Politikwissenschaft wird konstatiert, dass kulturelle Gegensätze den Klassengegensatz als die prägende Konfliktlinie verdrängt haben.
So viel Gramsci hat sich in der Linken durchgesetzt, dass Brechts Zeile »Erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral« nicht als politisches Programm, sondern als Warnung gelesen wird.
Jeder politische Kampf ist auch ein kultureller Kampf, aber die Kehrseite des angeblichen Verblassens des Klassengegensatzes besteht darin, die Entpolitisierung der Konflikte in der Arbeitswelt als eine gegebene Tatsache hinzunehmen.
Das Liberale am Neoliberalismus besteht darin, dass Gleichheit und Demokratie sich auf den Staat beschränken. In den Betrieben, Dienststellen, Hörsälen, Schulen, Spitälern, Call Centers und Internetplattformen soll hingegen die vom Kapital definierte Effektivität uneingeschränkt herrschen, was auch die Grenzen der Demokratie immer enger zieht.
Die feministische Erkenntnis, dass das Private politisch ist, gilt auch für die durch das Privateigentum definierten Produktionsverhältnisse, die in allen Bereichen der Gesellschaft unsymmetrische Machtverhältnisse erzeugen. Diesen Zustand haben alte weise Männer vor 150 Jahren »Klassengesellschaft« genannt.
III. Was aber ist der Erklärungswert des Begriffs »Klasse« in einem Staat, in dem 90 Prozent der Männer und Frauen direkt oder indirekt vom Arbeitsmarkt abhängen?
Automatisierung und Digitalisierung, prekäre Beschäftigungsverhältnisse, Umweltzerstörung, Care-Ökonomie zeitigen ein paradoxes Ergebnis. Einerseits erscheint es sinnlos, von einer »Arbeiterklasse« im Sinne einer vom Rest der Bevölkerung abgehobenen Gruppe zu sprechen; andererseits rücken aber die Fragen der Arbeit: was, wie, wieviel und in wessen Interesse gearbeitet wird, ins Zentrum der politischen Konflikte. Arbeiterklasse – männlich, weiblich, einheimisch, zugewandert, jung, alt, in Industrie oder Reproduktion tätig umfasst heute fast die gesamte Gesellschaft, deren Zukunft gegen die am Profit orientierte Produktionsweise gewonnen werden muss.
IV. Das österreichische Parteiensystem befindet sich im Umbruch. Untypisch für Westeuropa ist, dass keine Partei links von Sozialdemokratie und Grünen parlamentarisch vertreten ist. Die Lücke wollen nun einige, außerhalb und unabhängig von der KPÖ gebildete Initiativen schließen.
Ich meine, dass die KPÖ sich an diesen Versuchen beteiligen muss, ohne ihre Identität aufzugeben. Dafür spricht vor allem die Tatsache, dass die meisten Menschen, die für eine, sagen wir provisorisch, ökologisch-feministisch-sozialistische Partei gewonnen werden können, sich nicht unter dem Dach der KPÖ vereinigen lassen wollen.
An den bisherigen Versuchen ist manches zu Recht zu kritisieren, berücksichtigen sollte man aber, was Brecht in den 30er-Jahren über fortschrittliche Experimente gesagt hat, dass in ihnen »nicht angeknüpft wird an das gute Alte, sondern an das schlechte Neue«.
Revolutionäre Geduld war schon immer die hervorstechende Tugend des österreichischen Kommunismus. Ob die gestarteten Projekte »fliegen« oder ins Sektenhafte abstürzen, müssen ihre Initiator_innen verantworten, wird aber auch davon abhängen, ob die »gute alte« KPÖ sich auf das »schlechte Neue« ernsthaft einlässt. Dabei sollten alle realistisch genug sein, einzuräumen, dass, weil das Neue amorph und ungewiss ist, die Kommunist_innen dabei auch die Interessen der eigenständigen KPÖ wahren.
Notwendigerweise bleibt vieles offen. Doch eines ist unabdingbar. Nur dasjenige Neue ist wert, auf den Weg gebracht zu werden, das sich von der herrschenden Politik dahingehend unterscheidet, dass es transparent, inklusiv und demokratisch funktioniert.