Chef gibt’s hier keinen!

von

Barbara Steiner im Interview mit Hermes Radbot*innen

Demokratie bedeutet nicht nur – im bürgerlich-liberalen Sinne – alle vier Jahre zur Wahl zu gehen und die Stimme abzugeben, sie betrifft nicht nur die Sphäre des klassisch Politischen. Tatsächliche, radikale Demokratie müsste immer auch die Sphäre der bezahlten und unbezahlten Arbeit, der Ökonomie einbeziehen. Bei dem Wiener Kollektiv Hermes Radbot*innen verorten wir so eine Oase der praktizierten Wirtschaftsdemokratie und baten deshalb die Fahrradbot*innen Fux und Beo zum Gespräch.

Wie entstand Hermes Radbot*innen vor 30 Jahren, welche Betriebsform habt ihr euch gegeben?

FUX UND BEO: Hermes Radbot*innen wurde von vier Leuten vor 30 Jahren gegründet, die sich vom Botendienst Veloce abg­spalteten, weil es Unzufriedenheit gab mit den Strukturen und der Bezahlung dort.

Es wurde als Verein gegründet, weil sich so günstiger und rascher eine Struktur aufbauen lässt als eine GesmbH zu grün­den. Wir sind kein gemeinnütziger Verein, das waren wir nie, sondern auf Gewinn ausgerichtet – damit sich die Struktur sel­ber erhalten kann, aber nicht auf Profit.

Wie viele seid ihr jetzt?

FUX UND BEO: Dazwischen waren wir sehr groß – 20, 30 Leute, dann gab es eine Krise und jetzt sind wir mittlerweile wieder bei 18 Leuten. Man müsste sich auch überlegten, ob so eine Struktur auch viel viel größer möglich wäre.

Was war der Anspruch? Was macht ihr anders?

FUX UND BEO: Es gibt einen Vereinsvorstand, aber es war immer die Idee, dass das nur eine Formalität ist. Die Entschei­dungskraft liegt beim Plenum. Das gibt’s einmal im Monat, plus ein paar Sonderplena und mittlerweile kann man über Apps auch kurzfristige Entscheidungen relativ gut durchführen. Die Bezahlung ist bei uns auch seit eh und je – auch anders als bei anderen Firmen – pro Stunde. Egal ob man in der Stunde drei oder 17 Aufträge fährt. Und egal was man macht, die Dispo – also die Person, die Aufträge erhält und verteilt – kriegt genau so viel wie die Leute auf der Straße. Und dass alle Leute auch disponieren, wenn sie wollen.

Bei manchen Fahrradbotendiensten gibt es den Dispo, der ist der Gott und der bestimmt, was du verdienst – wenn du dich mit ihm gut stellst, kriegst du die lukrativen Aufträge und verdienst viel und wenn du dich nicht mit ihm gut stellst, verdienst du nicht viel.

Und bei euch gibt es keine mehr oder weniger lukrativen Aufträge?

FUX UND BEO: Bei uns ist es so: Wenn eine weite Fahrt ansteht und eine Person überhaupt nicht gut drauf ist und heute keine Langstrecke fahren will, aber jemand anderes schon, kann man sagen – Nein! Ich kann oder will nicht, oder das Paket ist zu schwer, schickt ein Lastenfahrrad. Bei uns gibt es Mitbestim­mung der fahrenden Personen über Aufträge. Und es wird auch über neue Großkund*innen oder Kooperationen abgestimmt. Und in Verhandlungen mit Kund*innen geht man nur mit Man­dat vom Plenum.

Entscheidungen und Verantwortungen werden also gemein­sam getragen, alle Aufgaben untereinander verteilt – wel­che Form der Entscheidungsfindung habt ihr euch gegeben?

FUX UND BEO: Wir haben im Plenum Mehrheitsentschei­dung – bei großen finanziellen Sachen brauchen wir eine Zwei­drittelmehrheit und sonst ist es eine einfache Mehrheit mit Ver­such auf Konsens. Das heißt, wir führen vor der Entscheidung eine Diskussion, das Ple­num stimmt nicht nur einen Punkt nach dem anderen ab, die Plenarsitzungen können manchmal auch sehr lang dauern (lachen).

Wie lang?

FUX UND BEO: Es ist ganz unterschiedlich, die Sonderplena machen wir teilweise einen Tag lang, bis jetzt einmal im Jahr. Das monat­liche Plenum kann drei, vier Stunden dau­ern.

Ist das auch eure Arbeitszeit?

FUX UND BEO: Nein, das ist nicht bezahlt. Nur das Sonderplenum. Wir sind ein Fahr­radbot*innenkollektiv und möchten uns erhalten, aber man muss auch ein bisschen Liebe reinbringen und ein bisschen Zeit von sich selbst. Es ist mehr als nur eine Arbeit, auch freundschaftlich, fast familiäre Unter­stützung.

Was ist euer legales Arbeitsverhältnis?

FUX UND BEO: Wir sind alle im Moment freie Dienstnehmer*innen. Das hat Vor- und Nachteile. Wir sind sehr flexibel aber natür­lich ist das nicht die beste Absicherung. Wenn wir viel mehr Geld hätten, würden wir uns alle anstellen. Aber das ist das Problem des Preis- und Konkurrenzkampfs.

Es gibt leider keine Förderung dafür, dass ein Unternehmen einen reinen Fahrradbot*innendienst oder ein Kollektiv nutzt. Dabei hätte die Stadt Wien auch Ver­gabekriterien wie Soziales, Emissionen, etc., nicht nur den Preis. Also in Österreich ist das eine Niedriglohnbranche, in der wir arbeiten und Angestellte in dem Bereich gibt es ganz, ganz wenige.

Ihr habt eine Frauenquote, ist das in anderen Betrieben anders?

FUX UND BEO: Ja, da sind wir einzigartig, sogar in ganz Europa. Also wir haben die Quote 50 Prozent nicht cis männliche Perso­nen. Es kann ab und zu passieren, dass wir es nicht ganz schaffen, wenn wir dringend Leute brauchen – vor Weihnachten etwa – aber sonst klappt das.

Wie alt sind die Bot*innen so?

FUX UND BEO: Es gibt zwei über 40, die meisten sind so Anfang 20 bis Mitte 30.

Wie lange sind die Leute bei euch und ist es eher Haupt- oder Nebenerwerb?

FUX UND BEO: Das ist zirka 50:50 und die Leute bleiben auch relativ lang, zirka fünf Jahre.

Seht ihr Fallstricke der Demokratie – unterschiedliche Ressourcen der Parti­zipierenden ergeben womöglich wieder unterschiedliche Einflussmöglichkeit?

FUX UND BEO: Man muss das schon ler­nen, Demokratie im Betrieb aber auch Demokratie insgesamt. Es braucht Übung, wie man beim Plenum miteinander redet, wieviel Zeit wo reingesteckt wird, wozu man ja sagt und wozu nicht. Man sieht, man hat zu viel gemacht und dann wird wieder getauscht oder man sagt, ich kann jetzt nimmer. Es ist schon schwierig. Aber wenn ein zäh ausgehandelter Kompromiss einmal steht, dann sind auch alle dabei. Oft hat jede*r eine Meinung zu allem oder nie­mand hat eine Meinung, beides ist schwer.

Oft hilft es, eine Runde zu machen und jede*r sagt was, sonst reden manche Leute nie.

Es braucht auch ganz viel Selbstreflek­tion und Neinsagenlernen.

Es ist auch ein Lernprozess, dass jemand Ideen haben kann, ohne gleich die Umset­zung umgehängt zu bekommen.

Wir haben uns da schon sehr weiterent­wickelt. Und das Biertrinken am Ende des Plenums ist auch sehr wichtig. Oder dass es Räume gibt für Austausch. Das fehlte sehr bei Corona.

Es ist wichtig, dass du immer Fragen stellen kannst. Und dass du Fehler machen kannst und die diskutiert werden und gemeinsam eine Lösung gesucht wird.

Die Plenumskultur entwickelt sich immer weiter, auch abhängig von den Leuten.

Richtig toll ist die Befindlichkeitsrunde am Anfang, wo jede*r sagen kann, wie geht’s mir und was ist los. Und das wird auch nicht protokolliert.

Es rotiert, wer das Protokoll schreibt und wer das Plenum leitet?

FUX UND BEO: Ja, genau.

Funktioniert euer Modell vor allem im Bereich des Radbot*innendienstes oder ließe sich das auch auf andere Dienstleis­tungen oder Produktionen anwenden? Habt ihr Tipps für andere, die »den gemeinsamen Traum eines kollektiv orga­nisierten Arbeitsumfelds verwirklichen« (Zitat Hermes-Website) wollen?

FUX UND BEO: Ich versteh’s nicht, warum es das nicht öfter gibt, denn es ist die ideale Form. Du bist nicht allein – selbständig – aber du hast auch keinen Chef. Du hast ein Team, wenn du eine Auszeit brauchst oder keinen Bock mehr hast, dann gibst du ein­fach die Aufgabe ab. Du kannst alles ändern und brauchst dich nicht immer nur beschwe­ren.

Und du bekommst das Beste aus den Leu­ten heraus. Ein Kollege ist gelernter Maler und jetzt macht er Finanzen. Jede*r kann alles, wenn es ihm oder ihr zugetraut wird und er*sie Zeit hat und sich reinkniet und das probiert. Wichtig ist echt, was Leute alles schaffen, wenn man sie lässt. Leute, denen man es nie zugetraut hätte, wachsen über sich selbst hinaus. Leute müssen das auch lernen, dass sie jetzt entscheiden dürfen und es gibt eben auch viele Leute, die wollen gesagt bekom­men, was sie tun sollen.

Warum glaubt ihr, dass das so ist?

FUX UND BEO: Es ist halt schon bequemer. Man sitzt da und ist nicht schuld und man kann sudern: »Der Chef ist so deppert, ich wüsste viel besser wie’s geht« – aber man muss es nicht machen.

Es gibt in der Branche auch Leute, die wol­len es wirklich nur nebenbei machen. Wir haben Leute, die machen es nebenbei, aber wollen sich einbringen. Aber es gibt glaub ich ganz viele, die sagen, »es ist halt ein Job« – und das ist bei uns nicht so.

Es gibt in anderen Bereichen auch Kollek­tive – im Gastrobereich. Es gibt auch Genoss*innenschaften, wo das Vorstands ­gremium Entscheidungen trifft und ein paar Sachen die Mitgliederversammlung. Es gibt also auch Mischformen, vor allem ab einer gewissen Größe. Ab 50, 100 Leuten müsste das wahrscheinlich aufgeteilt werden.

Das Problem in Österreich ist, dass es ganz viele festgefahrene Vorstellungen von Arbeitsmodellen gibt – gesetzlich, steuerlich, gewerkschaftlich. Das ist schon witzig, die Gewerkschaft kann mit uns nicht viel anfan­ gen, weil wir sind Arbeitgeber*innen und Arbeitnehmer*innen gleichzeitig, wir passen nirgends rein.

Wer gleich viel Verantwortung trägt, sollte gleich viel verdienen, weil die extremen Spannen in manchen Unter­nehmen sind wahnwitzig. Da darfst du Nichts sagen und musst auch noch mit weniger Geld auskommen!

Bei uns ist es egal, ob du als Obfrau was machst oder putzt oder fährst, du kriegst immer das Gleiche.

Wir haben immer noch sehr viele Anrufe: »Kann ich bitte den Chef spre­chen?« Da gibt es das gesellschaftliche Denken, es müsste einen Chef geben.

Ihr stoßt auf Skepsis aber auch auf Sympathie?

FUX UND BEO: Ja, die Kundschaft ist ja oft bei uns, weil wir ein Kollektiv sind, eine Quote haben. Und viele Kund*innen rufen an und sagen »ich hätt’ gern einen Fahrradboten. … oder eine Fahrradbo­tin!« – Viele haben da auch dazugelernt!

Aber es gab auch das böse Mail von einem, der meinte, »mit euch fahr’ ich nicht mehr, weil ihr gendert!«

Ah ja, so einen Leserbrief hatten wir bei der Volksstimme auch (Gemeinsa­mes unverständnisvolles Lachen). Habt ihr noch was, was ihr uns mitgeben wollt, was ist noch wichtig?

FUX UND BEO: An die Leute, die es probieren wollen: Wir geben gerne unser Wissen weiter! Habt keine Berüh­rungsängste. Und wichtig ist: Dranblei­ben! Es gibt Probleme, aber irgendwann funktioniert es!

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Gelesen 2532 mal Letzte Änderung am Donnerstag, 12 Mai 2022 08:48
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