Überlegungen zu populären Auffassungen, was denn eigentlich Demokratie sei und warum wir alle vorgeblich in einer solchen leben.
Von Karl Reitter
Stellt man in Alltagsgesprächen die Frage »Meinst du, leben wir in einer Demokratie?«, so erhält man zumeist als allererstes folgende Antwort: »Wir leben in einer Demokratie, weil man sagen kann, was man für richtig hält – im Gegensatz zu einer Diktatur.« Demokratie wird allgemein mit der Freiheit identifiziert, die eigene Meinungen äußern zu können. Oder, um es etwas theoretischer auszudrücken: Als demokratisch werden Verhältnisse bezeichnet, wenn Menschen- und BürgerInnenrechte gelten. Weiters wird die Existenz eines Rechtsstaates genannt, d. h. Regierung, Verwaltung und Polizei agieren im Rahmen von Gesetzen, die auch grundsätzlich eingehalten und beachtet werden. Als drittes Moment werden Wahlen genannt. Sei all dies gegeben, so könne man von Demokratie sprechen.
Auffällig ist, dass der eigentliche Wortsinn der Demokratie, also die unmittelbare Herrschaft des Volkes, fast nie zur Sprache kommt. Aber bedeutet Demokratie nicht, gemeinsam über alle Aspekte des Lebens tatsächlich zu bestimmen? Sollen nicht Betroffene entscheiden? In der Lebenswirklichkeit unseres Alltags haben wir kaum etwas zu entscheiden und zu bestimmen. Was in der Arbeitswelt, in den Schulen, an den Universitäten, in den Stadtteilen und Institutionen geschieht, welche Entscheidungen dort getroffen werden, fällt kaum in die Kompetenz der tatsächlich Betroffenen. Insofern ist die populäre Alltagsauffassung von Demokratie, diese vor allem auf Meinungsfreiheit zu beziehen, durchaus illusionslos realistisch.
Demokratietage alle vier, fünf Jahre
Was nun die Wahlen betrifft, so ist uns klar, dass wir durch unsere Stimmabgabe nichts verbindlich entscheiden, sondern andere wählen, die dann für uns entscheiden. Ich schlage vor, das politische System hierzulande »gesitteten Parlamentarismus« zu nennen. Wahlen werden nicht grundlegend gefälscht, die Teilnahme ist nach einigen Hürden möglich, und Wahlresultate bestimmen zumindest grob die politische Orientierung der Regierungspolitik. Die Ausübung einer demokratischen Praxis legen wir im Parlamentarismus in die Hände anderer. Die damit verbundene Entdemokratisierung des Alltags wird euphemistisch »repräsentative Demokratie« genannt. Wir stellen Personen und Parteien einen Blankoscheck aus und hoffen, dass dieser in unserem Sinne eingelöst wird – Garantie gibt es keine. Dass Wahlversprechen nicht eingehalten werden, zählt zu den abgeschmackten Witzen des politischen Kabaretts. Und dass die Wahlkämpfe von Show und Unterhaltung überformt werden, wissen wir ebenfalls. Da geht es um Sympathiewerte, als hätten wir zu entscheiden, mit wem wir auf Urlaub fahren, um Elefantenrunden, in denen die TeilnehmerInnen mit ihrer Rhetorik brillieren und um Wahlkrimis, denn Spannung gehört zum Spektakel.
Tatsächlich haben Wahlen die Funktion, politische Herrschaft für eine bestimmte Zeitdauer zu legitimieren. Wer direkt oder indirekt gewählt ist, regiert legitim. Immerhin, gegenüber einer adeligen Herrschaft, die sich durch Abstammung und Herkunft legitimiert, zweifellos ein historischer Fortschritt. Fundamentale politische Kritik und Opposition werden auf die kommenden Wahltage verschoben. Dann hätte man ja die Möglichkeit, eben eine andere Partei zu wählen. Bis dahin gelte es, die demokratisch gewählte Regierung zu respektieren. Mit etwas Ironie könnte man sagen, alle vier oder fünf Jahre ist tatsächlich Demokratietag, dazwischen gilt das Wort der politisch Herrschenden.
Basisdemokratie!?
Ein Demokratieverständnis, welches Demokratie auf den Moment des Ankreuzens einer Partei in der Wahlzelle reduziert, lässt sich nicht grundlegend gesellschaftlich durchsetzen. Daher räumen Verfassungen auch bestimmte Möglichkeiten wie Volksbegehren, Abstimmungen, Antragsrechte und Parteienstellung unter gewissen Bedingungen ein. Zumeist sind diese Instrumente auf beratende Funktionen beschränkt, oder sie verpflichten die Institutionen der repräsentativen Demokratie sich mit Anliegen und Forderungen zumindest zu beschäftigen. Aber der Wunsch, gesellschaftliche Bereiche tatsächlich zu demokratisieren und reale (Mit-) Bestimmung zu verwirklichen, bleibt bestehen. Wie sehr Formen von unmittelbarer Demokratie real werden, hängt vom allgemeinen politischen Kräfteverhältnis ab. In Folge der 68er-Bewegung kam es zum Beispiel zu einer gewissen Demokratisierung der Universitäten, die jedoch wieder zurückgenommen wurde.
Noch immer in Kraft ist das Betriebsrätegesetz. Dieses wurde 1919 beschlossen, 1933 vom Austrofaschismus und danach von Nationalsozialismus aufgehoben. 1947 wurde es wieder eingeführt und räumt BetriebsrätInnen eine Reihe von Mitspracherechten ein. Inwieweit das Gesetz 1919 ein Instrument war, eine mögliche proletarische Revolte in legalistische Bahnen zu lenken, und inwieweit dieses Gesetz in der Zweiten Republik, also im Nachkriegsösterreich, den Geist der SozialpartnerInnenschaft widerspiegelte, ist eine eigene Debatte. Jedenfalls ist es Ausdruck eines Bestrebens, demokratische Prozesse dauerhaft zu ermöglichen. Aber es zeigt sich, sobald Demokratie unter den gegebenen gesellschaftlichen Verhältnissen verrechtlicht wird, mündet sie in Repräsentation. Ob in den Betrieben oder an den Universitäten, die gewählten BetriebsrätInnen und MandatarInnen agieren oftmals in Distanz zu den tatsächlichen Bedürfnissen und Anliegen jener, die sie vertreten. Die Demokratisierung aller Lebensbereiche ist ein permanent umkämpfter Prozess, in dem spontan gebildete, demokratische Komitees der Betroffenen mit verrechtlichten Strukturen in Konflikt stehen.
Freie Meinungsäußerung
Ebenso wie Demokratie als tatsächlich ausgeübte Autonomie, ist auch das Recht auf freie Meinungsäußerung umkämpft. Das Recht auf freie Meinungsäußerung ist in sich widersprüchlich. Soll man immer und überall alles sagen dürfen? Sind auch Beleidigungen, Verleumdungen oder gar Aufrufe zu Gewalttaten legitim? Aber wer entscheidet, was zum Beispiel eine Beleidigung ist, und was – um auf die aktuelle Situation anzuspielen – Fake-News sind? Schon in der historischen Proklamation des Rechts auf freie Meinungsäußerung wird es im selben Satz wieder zurückgenommen. Der Artikel 10 der Erklärung der Menschenrechte in der Französischen Revolution von 1789 lautet: »Niemand soll wegen seiner Meinungen, selbst religiöser Art, beunruhigt werden, solange ihre Äußerung nicht die durch das Gesetz festgelegte öffentliche Ordnung stört.« Aber wer entscheidet darüber, ob eine Äußerung die öffentliche Ordnung stört? Dieses Muster, einerseits das Recht auf freie Meinungsäußerung zu proklamieren und es andererseits durch eine Reihe von Bedingungen wieder zurückzunehmen, bestimmt die Praxis der Redefreiheit von der Französischen Revolution bis heute. Zur staatlichen Zensur gesellt sich gegenwärtig die private auf den diversen Internetportalen. Zudem wird insbesondere in geopolitischen Kontexten mit zweierlei Maß gemessen. Was dort Willkür einer Diktatur sein soll, ist hierzulande die Sicherung der demokratischen Grundordnung und der wissenschaftlichen medizinischen Information.
Nicht nur im Recht auf freie Meinungsäußerung, auch bei anderen Menschenrechten ist der Widerruf eingebaut. Der wichtige Artikel 14 der UNO-Menschenrechtserklärung von 1948 lautet im § 1: »Jeder hat das Recht, in anderen Ländern vor Verfolgung Asyl zu suchen und zu genießen.« Damit stünde allen verfolgten Menschen uneingeschränkt das Recht auf Asyl zu. Im § 2 folgt das große Aber: »Dieses Recht kann nicht in Anspruch genommen werden im Falle einer Strafverfolgung, die tatsächlich auf Grund von Verbrechen nichtpolitischer Art oder auf Grund von Handlungen erfolgt, die gegen die Ziele und Grundsätze der Vereinten Nationen verstoßen.« Hat es jemals ein Regime gegeben, das die von ihm Verfolgten nicht als Kriminelle bezeichnet hätte? Hat nicht die USA Julian Assange zum Rechtsbrecher und Kriminellen erklärt? Erklären umgekehrt die EU und die NATO nicht jeden noch so kriminellen Oligarchen zum politisch verfolgten Kämpfer, so er für deren politische Interessen instrumentalisierbar ist? Was nun die öffentliche Ordnung stört, welche Äußerung legitim und welche es nicht ist, wer ein politisch Verfolgter oder ein Krimineller ist, all das wird letztlich durch politische Macht entschieden. Recht löst sich in Macht auf. Oder andersrum, Recht kann nur Recht bleiben, wenn es im politischen Handgemenge als geltend durchgesetzt wird.
Leben wir also in einer Demokratie?
Wenn wir in Betracht ziehen, dass es mit unmittelbarer, tatsächlich ausgeübter Demokratie nicht weit her ist, und wenn wir uns klar machen, dass die Ausübung von Menschen- und BürgerInnenrechten immer von umkämpften Interpretationen abhängt, ist die Antwort keineswegs klar und eindeutig. Wohl kann der »gesittete Parlamentarismus« und ebenso der weitgehend intakte Rechtsstaat für ein »Ja« in die Waagschale geworfen werden. Aber angesichts der grassierenden Zensur im Kontext der Corona-Politik inklusive negativer Konsequenzen für einzelne KritikerInnen ist es verständlich, wenn manche den Verhältnissen hierzulande den Charakter einer Diktatur zusprechen meinen zu müssen, auch wenn dieses Urteil zweifellos überzogen ist. Das Körnchen Wahrheit dabei: Weltweit sind die demokratischen Verhältnisse durch ein Mehr oder Minder an Meinungsfreiheit und Rechtsstaatlichkeit bestimmt. Die plumpe Gegenüberstellung von Demokratien hier und Diktaturen dort ist mit dem altehrwürdigen Ausdruck »Ideologie« zu bezeichnen. Die Verhältnisse sind überall komplexer als es diese simple Einteilung suggeriert, außer vielleicht in Saudi-Arabien und im Vatikan.