Bemerkungen von Karl Reitter zum Buch: Corona und die linke Kritik(un)fähigkeit
Die Linke kann über die Pandemie kaum noch gemeinsam diskutieren. Die Standpunkte sind teilweise so extrem unterschiedlich wie wir es aus der Israel/ Palästina Debatte kennen. Allerdings gibt es da einen großen Unterschied: Was in Israel/Palästina geschieht ist eine Sache, wie dieser Konflikt hierzulande aufgenommen, interpretiert und instrumentalisiert wird, eine andere. Von der Pandemie und den Maßnahmen hingegen sind wir alle unmittelbar betroffen. Wohl können wir uns mit vielen anderen Themen beschäftigen, aber die Pandemie und ihre Bekämpfung beschäftigt sich mit uns, ob wir das wollen oder nicht; wenn ich das so sagen darf.
Der Riss geht nun keineswegs nur durch die Linke. Die gesellschaftliche Polarisierung wird seit Beginn der Pandemie bewusst vorangetrieben, KritikerInnen werden grundsätzlich denunziert und ausgegrenzt. Statt Dialog und Debatte triumphiert in den Leitmedien eine einseitige demagogische Verurteilung, die vor allem darauf beruht, jegliche Kritik über denselben Kamm zu scheren. In diesen Sog ist auch die Linke geraten, wobei mache die Konfrontation sogar noch verstärken. Gerhard Hanloser, Peter Nowak und Anne Seeck haben in dieser Situation versucht, eine unaufgeregte Debatte zu führen. Vor Ort ging das nicht. Wie zur Bestätigung untersagte die Berliner Regenbogenfabrik die Diskussionen, die deshalb im Netz stattfinden mussten. Ein Resultat dieser Bemühungen ist das vorliegende Buch.
Verschiedene Blickwinkel
Fast alle AutorInnen nähern sich der Corona Problematik aus einem spezifischen Blickwinkel. Im Abschnitt Wen Corona und Lockdown besonders betrifft geht es u. a. um Erfahrungen in der Psychiatrie, in den Pflegeheimen, im Gefängnis sowie um die Situation von Jugendlichen und SchülerInnen. Die Abschnitte »Die Profiteure« sowie »Medizin« stellen Fragen nach einer feministischen Kritik an der Medizin, dem Thema der freien Entscheidung pro oder contra Impfung sowie der Situation der Pflegekräfte. Im Abschnitt Soziale Kämpfe und Gegenwehr geht es um Klassenkämpfe in verschiedenen Bereichen, zudem wird die Brücke zur Ökologie geschlagen.
Wie bei Sammelbänden wohl unvermeidlich, sind manche Beiträge durch hohe Kompetenz und argumentativen Scharfsinn bestimmt, etwa der Artikel von Michael Kronawitter »Malen nach Zahlen«, in dem die offizielle Datenpolitik in Frage gestellt wird, oder der Text von Laura Valentukeviciute »Klinikschließung als Pandemie«, in dem die Pläne kritisiert werden, Kliniken mitten in der Pandemie zu schließen, was 2020 in Deutschland auch tatsächlich geschah.
Andere finde ich weniger überzeugend, wie den Beitrag von Detlef Georgia Schulze, in dem die Autorin das berühmt-berüchtigte Strategiepapier der deutschen Bundesregierung vom März 2020 verteidigt, in dem unter anderem von einer »gewünschten Schockwirkung« und der »Urangst« des Erstickens die Rede ist, um die Bevölkerung auf die kommenden Maßnahmen ideologisch einzustimmen. Auch der Versuch von Raina Zimmering, die Reise der Zapatistas nach Europa mit der Thematik der Digitalisierung und der Abwehr von Corona zu verbinden, erscheint mir gekünstelt und nicht besonders geglückt.
Explizit mit Positionen innerhalb der Linken beschäftigt sich der erste Abschnitt. Gerhard Hanloser beschreibt die Reaktion der Linken auf die Demonstrationen der »Corona-Rebellen«, Anne Seeck reflektiert den Zustand der Linken vor dem Hintergrund ihrer feministischen Perspektive, Elisabeth Voß beschäftigt sich mit der grassierenden Wissenschaftsgläubigkeit und der patriarchal geprägten Rechthaberei innerhalb der Linken. Eine Aussage hat mich besonders bewegt, sie schreibt: »Hätte ich den Satz ›Wir impfen euch alle!‹ als Demobeobachterin nicht selbst gehört, ich hätte nicht glauben wollen, dass Antifas eine solche Parole rufen. Sind das die gleichen Leute, die sonst so viel Wert auf Achtsamkeit legen, sich den Kopf zergrübeln über ihre Privilegien und sich akribisch um eine gewaltfreie und inklusive Sprache bemühen?« Felix Klopotek betont in seinem Beitrag, dass ein Lockdown, und sei er noch so solidarisch organisiert, keinen klassenkämpferischen Streik darstellen kann. Peter Nowak antwortet auf die Kritik von Thomas Ebermann, er bagatellisiere das Sterben der Alten. Christian Zeller arbeitet erneut die seiner Meinung nach gegebene antikapitalistische und ökologische Orientierung von ZeroCovid heraus, ohne allerdings die Forderung nach einem radikalen Lockdown zu erneuern, wie er im Frühjahr 2021 von dieser Initiative propagiert wurde. Zu den längeren Artikel gesellen sich kürzere »Zwischenrufe«, in denen einzelne Aspekte beleuchtet werden.
Zweifeln erlaubt
Sammelbände zu Corona Politik gibt es inzwischen einige, aber ich kenne keinen, in dem so viele unterschiedliche Sichtweisen publiziert sind. Dieses Vorgehen halte ich für wichtiger denn je, da das Plädoyer für einen gemeinsamen Dialog leider nichts an Aktualität verlieren wird. Nach meiner Auffassung ist das Kalkül, mit den vorhandenen Impfstoffen die Pandemie wesentlich einzudämmen, gescheitert. Die Dauer der Wirksamkeit beträgt ganz offiziell nur ein paar Monate und der Schutz ist keineswegs hundertprozentig. Zudem dürft eine geringe Impfquote alleine auch nicht der alles entscheidende Faktor für das weitere Ansteigen der Fallzahlen sein, wie der Vergleich zwischen Ländern mit unterschiedlicher Durchimpfung zeigt. Wie die große Politik darauf reagieren wird, ist eine offene Frage, zur Deeskalierung werden die getroffenen Maßnahmen kaum beitragen. Es ist also zu hoffen, dass der Appell im Vorwort auf fruchtbaren Boden fällt. »Dieses Buch soll einen Beitrag darstellen, zuzuhören, wahrzunehmen, Kritik und andere Positionen auszuhalten. Nicht als Lobpreisung eines prinzipienlosen Pluralismus, sondern als Grundlage weitergehender Überprüfung, um einen den Verhältnissen angemessenen Standpunkt beziehen zu können.«
Corona und die linke Kritik(un) fähigkeit
Herausgegeben von Gerhard Hanloser, Peter Nowak und Anne Seeck, Neu-Ulm 2021