Der Berliner Verbrecher-Verlag hat Ronald M. Schernikaus Opus magnum »legende« neu herausgebracht
Von MANFRED MUGRAUER
Als 1999 »legende« von Ronald M. Schernikau erschien, war der Autor bereits acht Jahre tot. Er war im Oktober 1991 im Alter von nur 31 Jahren gestorben. Seit 1983 hatte Schernikau an »legende« gearbeitet und sie 1991 – mit einer HIV-Infektion konfrontiert – rasch vollendet. Er schaffte es noch, wenige Tage vor seinem Tod, das Manuskript an Verlage und LektorInnen zu verschicken, die Absagen erlebte er nicht mehr. In den folgenden Jahren winkten alle großen und mittelgroßen Verlage ab. Es war wohl, so Thomas Keck, der in Wien geborene und in Berlin lebende Lebenspartner von Schernikau, »einfach nicht opportun, ein Werk zu bringen, das den Kernsatz enthält: der kommunismus wird siegen werden«.
1999 ging der winzige, sonst auf Regionalliteratur spezialisierte Dresdner Verlag ddp goldenbogen das Risiko ein und entschloss sich, zur Vorfinanzierung der Produktionskosten eine limitierte Subskriptionsauflage von 500 Stück (zum Preis von je 135 Mark) herauszugeben. Die letztlich erfolgreiche Kampagne zur Gewinnung von SubskribentInnen wurde von zahlreichen KünstlerInnen, Intellektuellen und PublizistInnen, darunter Peter Hacks, Elfriede Jelinek, Hermann Gremliza, Sahra Wagenknecht und Siegfried Matthus, unterstützt. Die damalige Presseresonanz war groß: Es war die Rede von einer der »wichtigsten literarischen Publikationen der letzten Jahre« und einem »epochalen Werk«, geschrieben von einem schwulen Kommunisten.
Irrtümlicherweise wurde der Band, vor allem von jenen RezensentInnen, die ihn nicht oder nur flüchtig gelesen hatten, als »großer Wenderoman« gefeiert, nach dem das bürgerliche Feuilleton seit Jahren gesucht habe. Auch in den folgenden Jahren war es vor allem der deutsch-deutsche Hintergrund von Schernikaus Biographie, der dafür verantwortlich war, vorrangig sein schwules Künstlerleben im geteilten Deutschland – und weniger sein Werk – aufzugreifen: geboren 1960 in Magdeburg in der DDR, 1966 »im Kofferraum«, also illegal in die BRD, Mitglied von SDAJ und DKP, mit der Coming-Out-Geschichte »Kleinstadtnovelle« ein vielbeachteter »Erstling« im Jahr 1980, über Westberlin – und als einziger Westdeutscher – zum Literaturstudium nach Leipzig bis zur Einbürgerung in die ihrem Untergang entgegen sehende DDR im September 1989.
Schernikau-Renaissance
Zwanzig Jahre nach dem erstmaligen Erscheinen von »legende« ist Schernikau in linken Szenen, zumindest jenen des deutschsprachigen Raumes, sowohl in literarischer als auch in politischer Hinsicht eine fixe Größe. Es gibt wohl keinen zweiten Autor, der von traditionellen KommunistInnen und »Poplinken«, von junge Welt und Jungle World, gleichermaßen geschätzt wird. Als die DKP im Oktober 2017 zu einer Konferenz »100 Jahre Oktoberrevolution« ins Berliner Babylon-Kino lud, wurden seine Texte vor mehr als 500 Gästen als kultureller Hauptbeitrag gelesen. Es ist auch kein Zufall, dass Schernikau in Dietmar Dath, der »legende« in der FAZ als sein »Lieblingsbuch« bezeichnet hat, einen seiner wichtigsten Interpreten gefunden hat. Auf Facebook haben sich Gruppen gebildet, die Schernikau neben Peter Hacks und Hans Heinz Holz zum wichtigsten inhaltlichen Bezugspunkt erklären. Die Berliner Jungle World wiederum widmete Schernikau im Oktober einen kleinen Schwerpunkt. Es ist wohl der (nicht gerade tagesaktuelle) Kommunismus als die einzige Hoffnung auf eine vernünftige, menschenwürdige Welt, der die Linke hinter Schernikau eint.
Den Beginn eines breit angelegten Schernikau-Revivals markierte die erste Biographie über den Dichter, die 2009 mit dem reißerischen Titel »Der letzte Kommunist« erschien. Die Popularität ihres Verfassers, des bekannten Buchautors und Fernsehmoderators Matthias Frings, trug dazu bei, auch diejenige von Schernikau zu steigern und ihn einem breiteren Publikum bekannt zu machen. Danach wurden aus dem Nachlass weitere Texte herausgegeben, bereits veröffentlichte erlebten Neuauflagen. Vom seither erwachten Interesse am Leben und Werk Schernikaus zeugen auch zahlreiche Lesungen und verschiedene Bühnenadaptionen seiner Werke: Als im Herbst 2014 der 25. Jahrestag der Maueröffnung abgefeiert wurde, war die im Deutschen Theater Berlin aufgeführte Schernikau-Collage »Die Schönheit von Ost-Berlin« einer der wenigen Lichtblicke abseits gängiger Abrechnungen mit dem »Unrechtsstaat«. 2017 inszenierte der St. Pöltner Moritz Beichl – eben in der Kategorie »Bester Nachwuchs« für den Nestroy-Preis nominiert – Schernikaus »Kleinstadtnovelle« in der Theaterakademie Hamburg und wurde mit dieser Produktion zu mehreren Festivals eingeladen. Im März 2015 fand im Literaturforum des Berliner Brecht-Forums die erste wissenschaftliche Konferenz zu Schernikaus Werk statt, die in einem Tagungsband mit dem Titel »Lieben, was es nicht gibt« dokumentierte wurde (siehe Volksstimme, März 2017). Die in Gang geratene Schernikau-Forschung spiegelt sich auch in mehreren literaturwissenschaftlichen Seminaren, die in den letzten Jahren an deutschen Universitäten angeboten wurden.
Verdienstvolle Verbrecher
»legende« war seit einigen Jahren nur noch antiquarisch erhältlich und wurde auf ebay mit Preisen bis zu 250 Euro gehandelt. Ihre Neuauflage erscheint nun im Berliner Verbrecher Verlag, der sich bereits in den letzten Jahren um die Herausgabe von Schernikaus Werken verdient gemacht hat. HerausgeberInnen sind der Schauspieler und Regisseur Thomas Keck, der Germanist Lucas Mielke und die Kulturarbeiterin Helen Thein. Gegenüber der 846 Seiten starken Erstausgabe umfasst die Neuauflage ganze 1.072 Seiten. Hinzu kommen 84 Seiten Anmerkungen und ein Nachwort von Mielke, der eben an der Universität Potsdam an einem Promotionsprojekt über Schernikau arbeitet und in seinem Beitrag neben Shakespeare-Referenzen auch literarische Einflüsse auf »legende« – etwa von Irmtraud Morgner und Gisela Elsner – aufzeigt. Gegenüber der Erstausgabe hat das Dünndruckpapier der Neuauflage an Vorzügen nur den einen, dass im Bücherregal ein Zentimeter Platz gespart wird.
Die umfangreiche Kommentierung des Werks in den Anmerkungen dient vor allem dazu, die von Schernikau eingearbeiteten Zitate und die in den Text eingewobenen Referenzen nachzuweisen. Zu diesem Zweck haben die HerausgeberInnen den Nachlass Schernikaus erschlossen, der seit 2016 im Archiv der Akademie der Künste in Berlin aufbewahrt wird und dort der Forschung zur Verfügung steht. Die dortigen Materialien geben Aufschluss darüber, dass Schernikau Ausschnitte aus literarischen Werken, Zeitungsmeldungen, Annoncen, Berichte aus Fachmagazinen und Boulevardzeitungen und sogar Teile von Gesprächen in den Text einarbeitete. Die Kommentierung »soll einen Einblick in die spezifische Bauweise der LEGENDE geben, Schernikaus Lektürehorizont aufzeigen und den zeithistorischen Hintergrund nachweisen«, so die HerausgeberInnen, womit der Neuausgabe ein Hauch von MEGA verliehen wird. Der akribisch erarbeitete wissenschaftliche Apparat wird es künftigen Schernikau-ForscherInnen sehr erleichtern, ihn und sein Werk in die Kultur- und Kommunismusgeschichte einzuordnen.
Monumentale Montage
Die Handlung von »legende« in wenigen Sätzen auf den Punkt zu bringen, ist ein Ding der Unmöglichkeit. Zu Beginn treten vier – für die Menschen unsichtbare – Götter auf: Sie kommen auf die »Insel« und werden in deren Alltagskampf mit dem umliegenden Land hineingezogen. Die »Insel« ist Westberlin, wohin Schernikau 1980 zum »schreiben schwulsein kommunistsein« gezogen war. Das sie umgebende »Land« ist die DDR (»mitten in der zukunft die vergangenheit«), in der Schernikau als »ddrbürger der einen westberliner spielt der einen ddrbürger spielt« seit 1986 lebte. Die Götter erleben u. a. den Monopolisten anton tattergreis, seinen Nachfolger janfilip geldsack, KommunistInnen wie fank, berbel und mariane komenski, die sich in der Parteiarbeit aufreiben, irene binz (gemeint ist Schernikaus Mutter Ellen), die einst die DDR wegen ihrer großen Liebe verließ, und den schönsten Mann der Welt. Ein Höhepunkt folgt dem anderen: die Rationalisierung in der Schokoladenfabrik, der Kampf ums Krankenhaus, das besetzte Haus, der Fahrradladen, die schwule WG von franz und paul, die ihr Lenin-Poster mit rotem Lippenstift anmalen usw.
»legende« ist eine Montage verschiedener Texte und Textsorten, die sich aufgrund der Vielfalt der literarischen Formen jeder Gattungszuschreibung entzieht. Der Text ist mit keinem Werk vergleichbar, das in den letzten Jahrzehnten in der deutschen Literatur erschienen ist. Als Georg Fülberth prognostizierte, dass sich um diesen Text »Lesegruppen sammeln« würden wie einst um die »Ästhetik des Widerstands« von Peter Weiss, verband er dies nicht umsonst mit dem Hinweis, dass diese auch »ihre eigene Rezeptionstechnik entwickeln« werden würden. Zahlreiche Einlagen – Essays, Theaterstücke, Märchen, Monologe, Zeitungsartikel bis hin zu einem gefaketen Dokudrama (»Ein Lied für Rostock«, die DDR richtet den Grand Prix d’Eurovision aus) – gehören nicht zur Haupthandlung, fanden jedoch Eingang in das Opus magnum, weil Schernikau gezwungen war, sein Haupt- und Spätwerk schon in den frühen Dreißigern zu liefern und »legende« demgemäß als »Vermächtnis« zu konzipieren – und auch deshalb, weil »1000 seiten schernikau besser sind als 100 seiten schernikau«, so der Dichter.
Wie in allen Schernikau-Werken mangelt es auch in »legende« nicht an geistreichen Aphorismen und zitierbaren Sätzen: »du weißt, daß sinnvolles leben hier möglich wird schon im kampf für sinnvolles leben. du kämpfst für die abschaffung aller kämpfe, damit auch du nicht mehr kämpfen mußt. und wirst kommunist«, heißt es etwa in einer Einlage mit dem Titel »über kommunismus«. »legende« sei »einerseits eine Zusammenfassung seines Wissens über die Welt und gleichzeitig eine Anleitung zum Umgang damit, ein Appell: Macht etwas! Und macht es zusammen«, resümiert Lucas Mielke im Nachwort. Am 11. Dezember dieses Jahres wird in der Berliner Volksbühne eine Schauspielvariante von »legende« zur Uraufführung gelangen (Regie: Stefan Pucher).
Ronald M. Schernikau: legende. Berlin: Verbrecher Verlag 2019, 1072 S., 58 Euro
www.schernikau.net