Ronald M. Schernikau und Thomas Keck in Wien, Grinzing, 1980 Ronald M. Schernikau und Thomas Keck in Wien, Grinzing, 1980

Die Milva und ihr Peter Stein

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Thomas Keck war der Lebenspartner des 1991 verstorbenen Schriftstellers Ronald M. Schernikau, dessen künstlerischen Nachlass er betreut und herausgibt. Die Volksstimme hat ihn anlässlich des Schernikau-Jahres 2020/21 zum Gespräch gebeten.

In wenigen Monaten geht das »Scherni­kau-Jahr« – 60. Geburtstag im Juli 2020 und 30. Todestag im Oktober 2021 – zu Ende. Wie ist es heute um die Bekannt­heit des Autors bestellt?

THOMAS KECK: 30 Jahre … das ist schon verrückt, oder? Damals gab es zwei, drei Zeitungsmeldungen anlässlich seines Todes, weil doch vereinzelt noch in Erinne­rung war, dass er im Herbst 89 die Staats­bürgerschaft der DDR angenommen hatte, ein paar Tage vor ihrem Ende. Dieser Umzug war bis Tokio groß im Feuilleton. Dabei war er nicht kalkuliert, kein Presse­coup, sondern natürlich aus innerster Überzeugung und gegen alle Widerstände aus West und Ost, grade auch der Partei, von langer Hand vorbereitet; der Zeitpunkt war Zufall.

Nicht ganz dieses Echo, aber doch jeweils starkes hatte die »Milva der deutschen Literatur«, eine schnell Kult gewordene Selbstbezeichnung, bis dahin mit KLEIN­STADTNOVELLE und DIE TAGE IN L., der Erzählung eines schwulen Comingout, als der Begriff noch nicht im Schwange war, in der westdeutschen Provinz und dem Essay über die systembedingte Sprach- und Ver­ständnislosigkeit zwischen DDR und BRD. Und auf dem Schreibtisch hatte er bei sei­nem Tod nach acht Jahren Arbeit fertig, aber ohne Verlag, den Riesenroman LEGENDE liegen.

Anfang der neunziger Jahre krähte kein Hahn nach solcher emanzipierter und hei­ter unbeirrbar um wirkliche Emanzipation werbender Literatur. Wer damals gestorben war, war wirklich, wenn du mir das unmög­liche Wort erlaubst, töter als tot. Schon die Lebenden, die nicht ausführlich coram publico Abbitte geleistet hatten, waren ja nicht bloß an den Rand, sondern rausge­drängt worden aus dem Betrieb und damit in ihrer Existenz geschädigt, so, dass etwa Gisela Elsner, langjährige enge Freundin von Schernikau, keinen Weg mehr für sich sah als den Freitod. An eine Publikation von LEGENDE war nicht zu denken, alle, wirk­lich alle Verlage hatten abgelehnt.

LEGENDE konnte erst Jahre später erscheinen, dank einer Subskriptions­kampagne, an der sich u. a. Peter Hacks und Elfriede Jelinek beteiligten.

THOMAS KECK: Ja, die Zeiten ändern sich, wir ändern sie, um einmal Schernikau zu zitieren: »Eine Niederlage ist eine Nieder­lage, das sind Angelegenheiten bloß eines Jahrhunderts«. Und je undurchlässiger betoniert der Sieg des Westens schien, desto beharrlicher begannen die Leute, Alternativen zu suchen. 1999 hatte es noch starker Worte von Peter Hacks und Elfriede Jelinek und einer Woge der Solida­rität bedurft, um mithilfe von 500 Subskri­bierenden die Erstveröffentlichung zu erzwingen. Heute haben wir, schon seit zwei Jahren, LEGENDE ausführlich kom­mentiert als ersten Band der im Berliner Verbrecher-Verlag in Arbeit befindlichen Schernikau-Werkausgabe vorliegen.

Wir blicken zurück auf erfolgreiche Theaterabende wie die ausschließlich aus Originaltexten zusammengestellte Scher­nikau-Collage DIE SCHÖNHEIT VON OST­BERLIN am Deutschen Theater in Berlin und eine Bühnenadaption von LEGENDE an der Berliner Volksbühne, beide auch über­regional hoch gelobt. Nicht zu vergessen die populäre Biographie von Matthias Frings. Es liegen auch Übersetzungen von KLEINSTADTNOVELLE ins Italienische und ins Spanische vor. Schernikau ist zuneh­mend präsent in der Literaturwissenschaft und den Genderwissenschaften.

Ihr habt in den 1980er Jahren oft gemeinsam Wien besucht. Wo habt ihr gewohnt, wenn ihr hier wart, und wie habt ihr in Wien eure Zeit verbracht?

THOMAS KECK: Grinzing war unser Früh­jahrs-, Sommer- und Herbstwohnsitz. Das hat mit meiner Herkunft aus Wien zu tun – ich bin hier geboren und aufgewachsen und habe das Max-Reinhardt-Seminar besucht – und mit der Tatsache, dass meine Eltern ein bisschen Platz in Gestalt eines Gartenhauses hatten, das ihnen in ihren mittleren Jahren nicht ganz so wich­tig war, als sie in ihren Urlauben lieber auf Reisen gingen. Ein wunderbarer Ort, par­zellierter Weingartengrund mit einem kleinen Holzhaus, das mein Großvater in der globalen Krise der dreißiger Jahre gebaut hatte.

Wir haben oft Monate dort verbracht, die Idee und große Teile von LEGENDE sind in Grinzing entstanden. Schernikau hat hier Wittgenstein gelesen und, stöhnend zwar, aber auch mit Lust und großem Gewinn, Hegel – »Wer sich den Luxus erlau­ben kann, sollte unbedingt Hegel lesen.« – neben der Volksstimme natürlich, die wir als Tageszeitung abonniert hatten, und der gan­zen österreichischen Literatur rauf und run­ter: Ingeborg Bachmann und Friederike Mayröcker, H. C. Artmann, Ernst Jandl und Andreas Okopenko, Michael Scharang und Peter Turrini und Elfriede Jelinek.

Elfriede Jelinek war von all diesen SchriftstellerInnen am wichtigsten für ihn.

THOMAS KECK: Schernikau hat Jelinek sehr genau verfolgt, er kannte und schätzte sie von ihren frühesten Texten beginnend. Ich habe eine Lesung der »Liebhaberinnen« erar­beitet in Westberlin, eine schöne, scharfe, lustige Sache, aber je näher die Premiere rückte, desto mehr hatte ich den Eindruck, irgendwas daran stimmt nicht. Also bat ich ihn auf eine Probe. Und er lachte sehr und fand das alles ganz wunderbar und sagte nur: »Du bist zu lang.« Setzte sich hin und strich das Buch, das ich auswendig kannte, auf die Hälfte zusammen, ich schreiend daneben, weil damit natürlich auch die Hälfte der krassen Pointen entfiel. Was soll ich sagen: er hatte Recht. Dieser beherzte dramaturgi­sche Zugriff fehlt mir bis heute, ich bin wohl eher der Peter Stein von uns beiden.

Er hat immer nach Gründen gesucht, sie zu treffen, aber erst, als er ihr DIE TAGE IN L. schicken und damit seinen Umzug in die DDR melden konnte, hat er sich wirklich an sie gewendet. Spät also kam es zu dieser Begeg­nung, die Elfriede Jelinek sehr schön irgendwo schildert.

Seid ihr in Wien auch direkt mit der KPÖ in Berührung gekommen, etwa am Volksstimmefest? Gibt es Wien-Bezüge, etwa in LEGENDE, die es noch zu entde­cken gilt?

THOMAS KECK: Ah, das Pressefest Ende des Sommers, wo auch immer die PoetIn­nen auftraten, Hand in Hand quasi mit der internationalen Box-Elite und den »kackengeilen«, wie er sagte, Judokas. Von ihnen sammelte er auch Fotos zwi­schen seiner Korrespondenz und den Manuskripten; die Mengen an Handzet­teln, Pamphleten, Aufrufen zu Demos, die wir mitnahmen von dort, Zeugnisse des politischen Tageskampfes.

Ich muss es hier einstreuen, weil es so gut passt, obwohl natürlich kein Wien-Bezug im Speziellen: In LEGENDE gibt es einen kleinen Text, den er als Siebzehn­jähriger für seine Parteigruppe in Hanno­ver geschrieben hat, da sitzen die Tugen­den beisammen und streiten, so nach dem Motto: »Ich bin die erste Sängerin«, wer unter ihnen die Größte sei, bis der Kampf diesen Rang beansprucht und sie ihn wäh­len, denn schließlich erschafft erst sein Zutun eine Welt, in der ihr Strahlen wirk­lich sinnvoll werden wird.

Ich will noch eine kleine Anekdote erzählen: Schernikau hatte großen Res­pekt, andere würden sagen, eine Phobie vor Kirchen. Er hat mir erzählt, er hätte noch nie eine betreten. Eines Tages bat er mich, ihn in den Stephansdom zu beglei­ten. Hand in Hand gingen wir also, nein, wir tasteten uns durchs Riesentor, und wie er sich diesen Raum eroberte, archi­tektonisch und gleichermaßen die Andächtigen, deren Haltungen er respekt­voll nachahmte, um ihren Sinn zu erfas­sen, vom Stecken der Votivkerzen bis zum Knien vor Altären, das gehört zu meinen unauslöschlichen Erinnerungen an ihn. Aufgehoben in LEGENDE.

Schernikau wird heute von der Jungle World und der jungen Welt gleicherma­ßen geehrt und gefeiert. Er ist sowohl für antideutsche Linke als auch für tra­ditionelle MarxistInnen eine »Identifi­kationsfigur«. Hast du eine Vorstel­lung, wie er sich selbst in heutigen politischen Debatten verorten würde?

THOMAS KECK: Du sagst es, aber wer soll das beantworten? Oder so: Schon in Klein­stadtnovelle ist eben nicht das Comingout die­ses Provinzkindes die unerhörte Begeben­heit, die der Titel suggeriert, sondern das, was über das bloß Zeit- und Entwicklungsge­bundene hinausweist, die Emanzipation zum politisch denkenden und agierenden Men­schen. Das ist es, was die Geschichte für immer mit Gewinn lesbar macht.

Noch für die kleinsten Artikel, die wir in KÖNIGIN IM DRECK zusammengestellt haben, gilt das, die Interviews mit Betroffe­nen in dem Beitrag über die Arbeit mit AIDS etwa, die Gespräche mit Cox Habbema und Ingrid Caven, das alles war tagesaktuell und wäre längst veraltet, aber die Leute sprechen, und Schernikaus Zugriff ist immer für morgen und übermorgen. LEGENDE ist ganz Westberlin auf tausend Seiten, aber niemand wird auf die Idee kommen, sie als Westberlin-Roman zu lesen. Ursula Püschel, eine deutsche Litera­turwissenschafterin, hat 2014 geschrieben: »Schernikau ist Weltliteratur.« Und wenn wir jetzt kurz an Homer denken, dann haben wir auch die Antwort: als Dichter.

Der Berliner Verbrecher-Verlag bringt seit 2009 Werke aus Schernikaus Nachlass heraus. Wie geht es mit der Werkausgabe weiter, die ihr 2019 mit LEGENDE begonnen habt?

THOMAS KECK: Es wird noch ein, zwei Jahre dauern. Wir bereiten gerade eine Aus­gabe seiner Briefe vor. Der Tod Schernikaus fällt mit dem Ende des Briefzeitalters zusam­men, und wir haben im Archiv der Akademie der Künste Berlin, wo der Nachlass dauerhaft untergebracht ist, an die tausend von ihm erhalten. Das wird ein Buch!

Interview: Manfred Mugrauer

Thomas Keck wurde 1956 in Wien geboren. Nach dem Studium am Max-Reinhardt-Seminar folgten Engage­ments in Oldenburg, Marburg, Salzburg, Wien und Berlin. Seit 1982 lebt er in (West)Berlin, wo er freibe­ruflich als Schauspieler und Regisseur arbeitet. Er ist Herausgeber der fünfbändigen »Berlinischen Drama­turgie« der von Peter Hacks geleiteten Arbeitsgrup­pen an der Akademie der Künste der DDR, Verwalter des Nachlasses von Ronald M. Schernikau und betreut die Website schernikau.net.

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Gelesen 6458 mal Letzte Änderung am Dienstag, 13 Juli 2021 12:48
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