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VON DR. MARTINA WITTELS
Zu Beginn der Pandemie wurden wir belächelt, als wir mit FFP1-Masken auf die Station gingen, um unsere Patientinnen zu versorgen. In einem anderen Gebäude, das einem anderen Spitalsträger zugeordnet ist, sahen wir Beschäftigte mit Masken, die um das Kinn gebunden waren oder an den Ohren baumelten, wenn jemand nähertrat, wurde die Maske mit einer gelangweilten Mine über den Mund geschoben, oben hing die Nase heraus, als hätten sie vergessen, den Hosenschlitz zu schließen. Nach kurzer Zeit waren mehrere Pflegekräfte und einige Patientinnen Covid positiv getestet. Ein paar Alte starben. Erst da verstand man langsam, dass es Ernst war mit der Pandemie. Die Masken wurden nun korrekt getragen. Es gab zwar nur einen Mundnasenschutz, der weder Träger noch deren Gegenüber ausreichend schützt, aber FFP1- oder FFP2-Masken gab es zu wenige, und so wurde der Einsatz der qualitativ minderwertigen Masken mit den Empfehlungen des NHS (National Health Services) von England, eines der totgespartesten Gesundheitssysteme, gerechtfertigt.
Wir schauten erschüttert nach Italien, hörten und sahen unsere weinenden Kollegen und Kolleginnen, wie sie berichteten, dass sie älteren Personen wertvolle Therapien verweigern mussten, da die wenigen Intensivbetten belegt und den Jüngeren vorbehalten waren. Ab wann? Ab 60 Jahren, ab 70, ab 80 Jahren? Ab welchem Alter wird es keine Therapie mehr geben, wenn gewählt werden muss? In den letzten 2020-Wochen kann es auch in Österreich so weit kommen, dass alle verfügbaren Intensivbetten vergeben sein werden.
Aufgrund von drohendem Personalmangel wurde jetzt beschlossen, dass medizinisches Personal, auch wenn es Covid positiv getestet ist, unter bestimmten Bedingungen arbeiten soll. Doch man hörte von einer gemeinsamen Arbeit, bei der eine Covid positive Kollegin einer bis dahin gesunden Kollegin, beide mit Masken, ein paar Stunden gegenüber stand. Nach wenigen Tagen war die Kollegin infiziert, schmeckte und roch nichts mehr.
Einer gesunden 45-jährigen Kärntnerin ohne jede Vorerkrankung mussten, um Covid zu überleben, Lungen transplaniert werden. Ein 69-jähriger sport licher und gesunder Arzt ist trotz zweiwöchiger Beatmung und bester intensivmedizinischer Betreuung an Covid gestorben. Haben wir wirklich geglaubt, dass die Luft zwischen den Gasthaustischen stagniert und wie eine Art Spiralnebel nur um uns selbst kreist? Kein Tracken und Tracen konnte behilflich sein, die wichtigen Infektionscluster aufzuspüren und die Zahlen in eine ordentliche Statistik zu pressen.
Mittlerweile wird medizinisches Personal abberufen, umverteilt, damit es zur Verfügung stehe, wenn auch jene, die es bis heute nicht glauben wollen, dass Corona existiert, eingeliefert werden. Am 18. Oktober wurde in Varese, Lombardei, eine Messe gelesen für die 179 toten Ärztinnen und Ärzte, die durch ihre Arbeit am Krankenbett an Covid 19 verstorben sind.
Kinder und Jugendliche, Heranwachsende sind durch Corona-Maßnahmen in einem besonderen Umfang betroffen. STEFAN JUNKER versucht zu erkunden, wo die besonderen Herausforderungen für sie liegen.
Am heftigsten trifft es immer die Schwachen, und das sind im Zusammenhang mit dem Virenstamm SARS-CoV-2 die Kinder. Besonders Kinder von Familien, die in der Corona-Krise stark belastet sind, sei es wegen der Überlastung von Homeoffice und Homeschooling oder aufgrund von Existenzängsten ihrer Eltern, erleben nun eine gefährliche Extremsituation, die sich in einer posttraumatischen Belastungsstörung äußern kann. Ähnlich ergeht es Einzelkindern, die stark unter der Einsamkeit leiden. Trotz dieser offenkundigen Problemlagen gibt es bis dato keine Untersuchungen über die Auswirkungen der beschönigend so genannten Hygieneregeln auf Kinder, weder zu den körperlichen noch zu den möglicherweise gravierenderen seelischen Folgen.
Der besondere Druck, unter dem Kinder stehen, wurde mir mit einer eigentlich harmlosen Szene in der U-Bahn bewusst. Ein wohl fünf Jahre altes Mädchen schrie: »Ich will nicht älter werden, ich will keine Maske«, während ihr die Mutter eine Maske überzog und sie dabei nicht laut, aber bestimmt anherrschte: »Gewöhn dich schon mal dran!« Dies zu einer Zeit als von einem zweiten Lockdown noch nicht die Rede war. Der Vorfall prägte sich mir ein und ich dachte, was hier geschehe, da meine Freunde und ich in diesem Alter immer älter sein wollten, als wir waren. Im Internet fand ich den Brief eines Kindes, worin es sich entschuldigt, die Maske abgenommen zu haben, es wollte nur Luft holen.
Jede und jeder kann bestätigen, wie viel schwerer es sich hinter einer Maske atmet, weshalb es geringer Vorstellungskraft bedarf, sich die größere Anstrengung bei Kindern auszumalen. Bei ihnen ist die Atemmuskulatur noch nicht fertig ausgebildet und Kinder haben an ihrer Größe gemessen einen höheren Atembedarf als Erwachsene. Gerade bei den verbreiteten Stoffmasken gibt es große Unterschiede im Atemwiderstand und ich fürchte, dass nicht wenige Eltern aus Unwissenheit bei ihrer Kaufentscheidung nicht darauf achten. Inzwischen gibt es eine Reihe von Hinweisen, die als Symptome längeren Maskentragens zu gelten haben, unter denen vor allem Kinder leiden. Dazu zählen vermehrte Kopfschmerzen, Schwindel, Bauchschmerzen, Müdigkeit, behinderte Lernfähigkeit, Sehstörungen (Flimmern), Rauschen in den Ohren, Herzklopfen, Schweißattacken, Orientierungslosigkeit, hoher Puls, eine häufige Beschwerde bei Kindern ist der Ausruf: »Ich krieg keine Luft!« Mehrfach nachgewiesen ist, dass der CO2-Gehalt unter der Maske die arbeitsschutzrechtlichen Bestimmungen überschreitet.
Nicht wenige Schulen verlangen, die Maske auch während des Unterrichts zu tragen. Dabei erkranken Kinder und Jugendliche weitaus seltener an Covid-19, weshalb die Corona-Regeln bei ihnen am wenigsten Sinn ergeben. Im Gegenteil, diese Vorschriften, die zum Teil sehr rigide ausgelegt werden, untersagen den Kindern, was für ihre Entwicklung am Wichtigsten ist: körper licher Kontakt und soziale Erfahrungen. Hinzu kommt der Dauerstress, dem sie in den Schulen nicht erst seit Covid-19 ausgesetzt sind, der aber insbesondere durch das Maskentragen massiv verstärkt wird. Übereifrige SchuldirektorInnen und LehrerInnen überschütten Mädchen und Jungen mit zahlreichen strengen Verhaltensregeln in Schulen und Kindergärten. SchülerInnen wird verboten, sich ins eigene Gesicht zu fassen – machen wir uns nur die Störung eines einfachen Juckreizes bewusst – oder Gegenstände mit anderen zu teilen. Soldatisch diszipliniert sollen sie unter ihren Masken in markierten Bahnen durchs Schulgebäude marschieren, während die LehrerInnen über das Einhalten der Regeln wachen. Die Kinder müssen feststellen, dass es in ihrer gesamten Schulzeit noch nie so wenig um Lerninhalte ging wie jetzt – stattdessen stehen Verhaltenskontrolle und autoritäre Rollenmuster im Vordergrund. Sicherlich, diese Beschreibungen treffen nicht auf alle schulischen Einrichtungen zu und SchuldirektorInnen wie LehrerInnen haben gegen die Bestimmungen demonstriert, trotzdem geben diese Berichte Grund zur Sorge.
Die Betriebskrankenkasse Pronova BKK befragte 150 niedergelassene Kinderärzt Innen zu den körperlichen und seelischen Folgen der Corona-Maßnahmen. 89 Prozent der KinderärztInnen beobachten vermehrt psychische Probleme, 37 Prozent diagnostizieren eine Zunahme körperlicher Beschwerden. Jede_r zweite Kinderarzt/-ärztin berichtet von zunehmenden Verhaltensänderungen wie Antriebslosigkeit, Reizbarkeit und Angststörungen. Der Lockdown könnte demnach auch langfristige Folgen haben: Knapp 40 Prozent der Ärzte und Ärztinnen erkannten Anzeichen für motorische und geistige Entwicklungsverzögerungen bei ihren PatientInnen zwischen drei und 13 Jahren. All diese Berichte nähren die Vermutung, dass eine ganze Generation traumatischen Erfahrungen ausgesetzt wird. Die Masken bedeuten eine Störung der sozialen Entwicklung, da Kinder an der Mimik der Erwachsenen lernen, die sie nicht mehr interpretieren können. Soziale Erfahrungen wie Würde, Respekt, Mitgefühl oder Anstand werden durch maskierte Kontakte mit fehlender Mimik massiv behindert. Es stellen sich Angststörungen ein und Überforderung durch die ihnen aufgebürdeten Verhaltensregeln. Weiter sind Schlafstörungen und Verhaltensstörungen wie Waschzwänge zu nennen. Eine menschliche Berührung ist für viele zur Bedrohung geworden! Das hat verheerende Folgen für die gesamte Beziehungsentwicklung und das Beziehungsverständnis der Kinder und Jugendlichen. Bindungsstörungen liegen auf der Hand, aber auch das gesamte psychoimmunologische System ist davon betroffen. In diesem Zusammenhang berichtet Prof. Dr. Christian Schubert: »Das verpflichtende Tragen von Atemschutzmasken in der Schule steht symbolisch für die Gefahr einer tödlichen Virusinfektion. Daher ist die MNS mit ständiger Angst verbunden, sein eigenes Leben wie auch das der anderen zu gefährden. Kinder und Jugendliche laufen Gefahr, in ihrer ganzheitlichen Entwicklung behindert, Angst und Stress ausgesetzt und traumatisiert zu werden, sie können später an schweren Folgeerkrankungen erkranken.« Laut einer Studie fanden ForscherInnen bei etwa 30 Prozent der Kinder aus Familien, die im Zuge anderer Viren wie zum Beispiel der Schweinegrippe in Quarantäne gehen mussten, Symptome einer posttraumatischen Belastungsstörung.
Noch eine weitere Folge darf nicht übersehen werden: Die Lockdowns und andere Corona-Maßnahmen haben in der häuslichen Enge gewalttätige und sexuelle Übergriffe gegen Jungen und Mädchen verstärkt. So berichtet der Kinderarzt Dr. Oliver Berthold aus dem Nachbarland: »Wir werden teilweise wegen Verletzungen kontaktiert, die sonst nur bei Zusammenstößen mit Autos auftreten. Da geht es um Knochenbrüche oder Schütteltraumata.« Im Mai vervierfachten sich die Anrufe bei der Kinderschutzhotline. Betroffen sind vor allem Kleinstkinder. Dass häusliche Gewalt in Krisensituationen zunimmt, ist durch eine Vielzahl an Studien längst belegt und bekannt. Auch ohne Corona stand dieses Thema zu wenig im Vordergrund. Wir sprechen von geschätzt mehreren 100.000 Kindern, die alljährlich in Deutschland schwerer und wiederholter physischer, seelischer und sexueller Gewalt ausgesetzt sind, eine Situation, welche die Corona-Maßnahmen massiv verschärft hat.
Stefan Junker ist Politikwissenschaftler und arbeitet an einem Buch zur Marxschen Staatstheorie.
Von Judith Klemenc
Freitag, 5./6. Stunde Die Fenster zu. Es ziehe zu sehr.
27 Schüler:innen der 8. Klasse im Zeichensaal. Meine Bitte, zumindest einen Spalt ... Das Sprechen mit Maske, das Euphorisieren mit Maske, das Ideen-Geben mit Maske … Maskenbildnerin wäre auch eine Möglichkeit.
Sonntag, 22.00 Die Mail von der Klassenvorständin: Ein Schüler wurde positiv getestet, die Schüler:innen bleiben heute und morgen daheim.
Donnerstag, 16.00
Eine weitere Mail: Vier weitere Schüler: innen wurden positiv getestet, alle Lehrer: innen, die die Schüler:innen am Mittwoch und Donnerstag unterrichteten, sind für zehn Tage in Quarantäne, ebenso die Schüler:innen.
Inzwischen die Tirol-Meldung: Oberstufe – Distance-Learning, außer die Maturaklassen: Schichtbetrieb.
Die Herbstferien. Den Rest kennen wir. Was wir nicht kennen, ist die Situation in den Klassen. Die Notwendigkeiten. Die Kinder, die untereinander und miteinander. Die auch gegeneinander. Die eine hustet. Der andere schreit: Die hat Corona. Sie, die zurückschreit: Nein, ich habe keines. Die zu ihm rennt. Nach dem Unterricht. Die Stiegen runter, ihn festhält und schreit: Du mobbst mich. Er, der zurückschreit: Du greifst mich an. Die beiden schreiend auf der Stiege. Die Mädchen, die zu ihr halten. Der mobbt. Genau. Das Sprechen mit beiden im unteren Stockwerk: Husten heißt nicht gleich Corona. Wenn jemand Abstand will, gilt es das zu berücksichtigen.
Das Ende der Herbstferien naht. Die Zahlen steigen. Der Lockdown in Aussicht. Maximal sechs Menschen an einem Tisch. Maximal zwei Haushalte.
Würde ich voll unterrichten, hätte ich elf Mal ca. 30 Haushalte in einem Raum. Die Tische sind nicht einen Meter getrennt. Dazu ist der Raum zu klein. Und zu viele Kinder, um den Abstand permanent einzuhalten. Halb habe ich sechs Mal ca. 30 Schüler:innen in einem Raum, weniger in den Maturaklasse: also fünf.
Sonntag
Ich habe mich verkühlt. Nebenhöhlen. Kein Fieber. Kein Husten. Das stündliche Messen. Das Verrückt-Werden am helllichten Tag. Die Entscheidung. Für drei Tage kein Unterrichten. Zu schwach. Die Meldung an den Administrator. Das Wissen, dass andere Kolleg:innen für mich einspringen müssen. Das schlechte Gewissen. Das auf den Magen drückt.
Mittwoch
Das Aufwachen in der Nacht. Schweißgebadet. Die Schmerzen. Kein Auge mehr zu. Das Hören auf die Lunge. Vielleicht die. Die Schmerzen unerträglich. Die Intensivstation vor dem geistigen Auge.
Donnerstag
Die Ärztin: akute Gastritis. Nein, die Lunge ist in Ordnung. Keine Symptome von Covid. Mich nicht krank zu machen. Auch wenn ich Allergikerin bin. Sie habe viele Covid-Patient:innen. Alle mit leichtem Verlauf. Selbst ihre 99-Jährige hat nur einen Schnupfen. Wir müssen damit leben. Absolute Diät und Pantoloc.
Brei. Brei. Brei.
Ein Brei aus Covid, ansteigenden Zahlen, Haferschleim, Reis, alles leicht verdaulich. Unverdaulich. Diese Angstmacherei. Diese täglichen Zahlen. Dieser Anschlag. Diese Wahlen.
Judith Klemenc ist Lehrerin und Performance-Künstlerin in Innsbruck. Sie schrieb zuletzt in der Volksstimme 2020-7/8 über »Das eigentliche Leben«.
Mit welcher Macht ein Virus in der Lage ist, das weltpolitische Geschehen auf den Kopf zu stellen, zeigt sich anhand der Covid-19-Pandemie. Womit haben wir es zu tun? Und was tun?
VON ROLAND STEIXNER
Die Erkenntnisse über die Auswirkungen einer Infektion mit dem SARS-CoV-2 auf den menschlichen Körper sind erwartungsgemäß vorläufig und unvollständig. Allein in Hinblick auf Infektionssterblichkeit besteht noch Unklarheit. Eine von zahlreichen Fachleuten kritisierte Studie von Ioannidis beziffert sie mit 0,23 Prozent, die Heinsberg-Studie mit 0,37 Prozent, Drosten nimmt hingegen eine Infektionssterblichkeit von etwa ein Prozent für Deutschland an. Trotz der hohen Schwankungsbreite bei der angenommenen Infektionssterblichkeit steht eines fest: Die Infektionssterblichkeit übertrifft mit Sicherheit die der saisonalen Influenza, die häufig mit 0,1 Prozent oder weniger beziffert wird.
Corona schlägt Grippe als Todesursache haushoch
Es scheint ein Politikum zu sein, einen Bodycount zwischen der saisonalen Grippe und Covid-19 zu betreiben. Dazu ist eines voraus zu schicken: Verglichen werden dabei üblicherweise laborbestätigte Covid-19-Fälle mit geschätzten Zahlen für die saisonale Grippe, die aus der gesteigerten Sterblichkeit während der Grippewellen ermittelt werden. Damit haben wir es mit einem Vergleich von Äpfeln mit Birnen zu tun. Lässt man sich darauf ein, so zeigt sich für Österreich, dass die Anzahl der innerhalb der letzten zehn Monate verstorbenen Menschen in etwa dem durchschnittlichen Ausmaß der saisonalen Grippe entspricht. Sieht man über den nationalen Tellerrand hinaus, wird deutlich, dass Covid-19 dort, wo das Virus richtig zuschlägt, weitaus tödlicher ist als die saisonale Grippe und sogar die heftigsten Grippewellen der letzten Jahre deutlich übertrifft. Das lässt sich anhand der Sterblichkeitsstatistiken – wie etwa Euromomo – jederzeit nachvollziehen. Die WHO schätzt die Grippetoten weltweit jährlich auf 290.000 bis 650.000. Die Zahlen des Dashboards der Johns Hopkins University wiesen hingegen für Anfang November bereits 1,2 Millionen Covid-19-Tote aus. Dadurch steht schon jetzt fest: Im Jahr 2020 werden deutlich mehr Menschen an Covid-19 gestorben sein als an Influenza. Nicht berücksichtigt dabei wird eine Dunkelziffer, die notwendigerweise anzunehmen ist, da erst später festgestellt wurde, dass SARS-CoV-2 nicht nur eine atypische Lungenentzündung hervorrufen, sondern sämtliche Gefäße angreifen kann, sodass auch Schlaganfälle und Herzinfarkte als typische Todesfolgen dieser Virusinfektion erkannt wurden.
Die Frage, ob die Toten »an« oder »mit« Corona gestorben seien, ist nichts anderes als ein Sophismus. So stellte sich etwa bei einer Obduktion von 154 verstorbenen Covid-19-Patient*innen heraus, dass die Virusinfektion für mehr als 80 Prozent der Todesfälle als alleinige oder vorrangige Todesursache verantwortlich war. Demgegenüber ist aber bei der saisonalen Influenza auch nicht immer klar, wer »an« und wer »mit« der Grippe stirbt. Wie man es auch dreht und wendet: Covid-19 schlägt die saisonale Influenza. Es gibt weitaus tödlichere und weitaus ansteckendere Krankheiten. Das Problem ist jedoch, dass es keine Impfung gibt und dieses Virus auf eine Bevölkerung trifft, die zu einem wesentlichen Teil keine Immunität dagegen besitzt.
Dieses Virus ist dazu in der Lage, das Gesundheitswesen massiv zu überlasten, wenn es sich unkontrolliert verbreitet. Dies hat sich an mehreren Orten der Welt bereits gezeigt. Das ist für die gefährlich, die nicht an Covid-19 erkrankt sind, sondern aus anderen Gründen eine intensivmedizinische Behandlung brauchen. Ein besser aufgestelltes Gesundheitssystem kann dem Ansturm länger standhalten, ein schlechter aufgestelltes ist schneller überlastet.
Infektionsschutz und Solidarität – linke Antworten auf die Pandemie
Was folgt daraus für die Linke? Ein funktionsfähiges Gesundheitswesen ist ein zentrales Anliegen der Linken. Gleichzeitig muss sie aber auch die sozialen Folgen dieser Maßnahmen ansprechen und sich dafür einzusetzen, dass bei einem Shutdown niemand im Stich gelassen wird. Ein Lockdown kann verheerend sein wie in Indien, wo unzählige Wanderarbeiter*innen im Stich gelassen wurden, oder solidarisch sein wie in Kuba, das im Umgang nicht nur eine relativ gute Strategie fährt, sondern auch noch mehrmals internationale Solidarität bewiesen hat.
Pandemien kann nur global begegnet werden: durch die Stärkung der WHO, den Aufbau einer flächendeckenden, kostenlosen Gesundheitsversorgung auf dem gesamten Erdball und die Vergesellschaftung der Produktion von Medikamenten und Impfstoffen. Es ist Aufgabe der Linken, diese Forderung auf die Tagesordnung zu bringen. Die Corona-Pandemie lässt andere Krankheiten freilich nicht verschwinden und Lockdown-Maßnahmen können Folgen haben, die tödlicher sind als die Krankheit selbst. Dennoch darf das eine nicht gegen das andere ausgespielt werden. Es ist möglich, ja sogar notwendig, beides zu verbinden: Armutsbekämpfung und Gesundheitsschutz. Denn ein unkontrollierter, von der Pandemie selbst verursachter Zusammenbruch von Volkswirtschaften ist noch verheerender für diejenigen, die von Armut und Hunger bedroht sind.
Ein solidarischer und bewusster Umgang mit der Krankheit und Bewusstseinsbildung wäre auch eine sinnvolle Alternative zu Zwangsmaßnahmen. Hier kann man aus den Erkenntnissen einer anderen Krankheit lernen: AIDS. Eine autoritäre Seuchenbekämpfung war eine ernste Gefahr für die Schwulenbewegung. Es ist der Kooperation von Schwulenbewegung, Gesundheitsämtern und Wissenschaft zu verdanken, dass eine HIV-Infektion kein Todesurteil mehr ist und dass einer weiteren Stigmatisierung der sogenannten Risikogruppen entgegengewirkt werden konnte. Ähnliches gilt auch für Covid-19. Gerade besonders stigmatisierten Bevölkerungsgruppen wird die Schuld an der Verbreitung von Covid-19 zugeschoben. Die Folgen sind verheerend für die Betroffenen. Dem kann nur mit den Strategien begegnet werden, die sich schon im Umgang mit AIDS bewährt haben: Indem die Betroffenen und deren Interessensvertretungen an der Eindämmung der Krankheit mitwirken. Wenn die Linke das Sprachrohr der »Verdammten dieser Erde« sein will, dann nimmt sie Corona ernst und fordert gleichzeitig, dass das, was alle zu dessen Eindämmung tun sollen, auch alle tun können, ohne unterzugehen.
Karl Reitter hat in der vergangenen Ausgabe der Volksstimme mehr Maßnahmenkritik »von links« postuliert. Ohne auf alle von ihm genannten Punkte detailliert einzugehen, geht es mir darum, einige seiner problematischen Behauptungen zurechtzurücken. Das Virus macht sich zudem mittlerweile auch in Österreich bei den Hospitalisierungsraten deutlich bemerkbar. Freilich ist es nicht Aufgabe der Linken, den herrschenden medialen Diskurs kritiklos zu übernehmen. Zugeständnisse an diejenigen, die die Pandemie bagatellisieren und inhaltlich falsche Maßnahmenkritik üben, verbieten sich jedoch von selbst. Das Wort »Panikmache« ist zum Kampfbegriff der Corona-Leugner-Szene geworden und verdient es, zum Unwort des Jahres 2020 gewählt zu werden. Seine Verwendung ist daher indiskutabel.
Maske und Co. werden uns wohl noch länger begleiten. Anstatt dagegen aus irrationalen Gründen zu protestieren, sollten wir das Beste daraus machen. Als Accessoire auf Demos ist die Maske nicht mehr wegzudenken. Wer hätte vor einem Jahr daran gedacht, dass eine Vermummung während einer Kundgebung mit Infektionsschutzmaßnahmen begründbar wäre?
Roland Steixner, Mitglied der Landesleitung der KPÖ-Tirol und Ersatzgemeinderat und Wohnbausprecher der Alternativen Liste Innsbruck (ALI), Betriebsrat der G4S-Tirol/Vorarlberg, Mitglied der Landeskontrolle des ÖGB-Tirol. Linguist und Latinist
Corona – ein Virus, das auch die Umverteilungspandemie von Arbeit und Reichtum beschleunigt.
VON HEIDI AMBROSCH
Ich schreibe diesen Text Anfang November. Im Kopf die mich beunruhigenden, steigenden Infektionszahlen, die nächtlichen Bilder zweier durchgeknallter Amokläufer, einer in Wien und einer im Weißen Haus, trotz Bidens Sieg.
Dass ich zwei Redaktionsmitgliedern versprochen habe, diesen Artikel zu schreiben, hilft mir, alles im Kopf zu sortieren, und ich beginne mit dem Blick zurück auf »Über«-Lebensbedingungen aller in Österreich Arbeitenden vor der Corona-Zeit.
Aus meinen Lebenserfahrungen habe ich den Weg des Widerstandes gegen Ungerechtigkeiten gewählt. Prekarität weiblicher Lebenszusammenhänge konnte ich erst in den 1980er Jahren begrifflich fassen. In dieser Zeit meine ich auch, Peter Weiss verstanden zu haben: »Wenn wir uns nicht selbst befreien, bleibt es für uns ohne Folgen.«
Die Prekarisierung der Lebensverhältnisse
… hat längst auch männliche Biographien erfasst, und nur deswegen ist diese Beschreibung auch in männliche Theorieproduktion eingeflossen als wesentlicher Teil neoliberaler Politik und konzerngesteuerter Strategie. Sie wird durch die Corona-Pandemie eine weitere Zuspitzung erfahren, nicht zuletzt auch hinsichtlich der Geschlechterverhältnisse.
Geschlechtsneutral fasse ich hier vorerst zusammen:
Prekarisierung bedeutet: die Zurichtung von Märkten und Menschen für den globalisierten Kapitalismus mit den Zielen deregulierter Erwerbsmärkte mit flexibilisierter, verbilligter Lohnarbeit, Entkoppelung sozialer Sicherheit von Lohnarbeit, Abbau und Privatisierung wohlfahrtsstaatlicher Leistungen. Diese Gleichzeitigkeit von ungeschützter, kurzfristiger, nicht existenzsichernder Beschäftigung oder temporärer Erwerbslosigkeit und die Segmentierung oder der Zerfall sozialer Rückfallpositionen, Auffangnetze und öffentlicher Güter erzeugen Verunsicherung und Vereinzelung und führen zur weiteren Disziplinierung der Menschen hin zur »Ich-AG« – »Eigenverantwortung« und Selbstmanagement.
Prekarisierung bedeutet Individualisierung und Konkurrenz, mangelnde Ressourcen wie Zeit oder Geld, Scham und vor allem auch das Fehlen gemeinsamer Orte jenseits der traditionellen Räume kollektiver Interessensvertretung. Angesichts der Zunahme von Homeoffice sollten wir das stärker im Blick haben. Auch wenn sich die Situation der Entsicherung von Arbeit und Leben für immer mehr Menschen gleicht, wird sie von jedem und jeder anders wahrgenommen. Gefühle der Wut und der Ohnmacht ebenso wie die Bewältigungsstrategien verbleiben auf der individuellen Ebene.
Wessen Interessen werden damit bedient oder: »Wär’ ich nicht arm, wärst du nicht reich«
Auch wenn es Versprechen von Banken und Versicherungen gibt, »lass dein Geld arbeiten«, sollten wir spätestens durch die Finanzkrisen gelernt haben, dass die damit verbundenen Spekulationen ganz schnell auch als Blasen zerplatzen können, weil Geld nicht arbeitet! Die Einkommen von Frauen lassen hier wenig »Spiel«raum.
Medial vermittelt wird die Botschaft: Retten wir »die Wirtschaft«, die »Arbeit schafft«.
Mit »die Wirtschaft« sind Kapitalunternehmen gemeint, die sich Arbeitskraft und -zeit privat aneignen und nur einen Teil ihrer Profite, des erzeugten Mehrwertes davon als Lohn auszahlen, der andere immer größer werdende Teil fließt in die Taschen der Manager und Aktionäre und deren Finanzspekulationen. (Auch wenn Frauen hier mitgemeint sind, will ich sie als Minderheit der Profiteure im patriarchalen Kapitalismus nicht anführen). Die private Aneignung von Mehrwert erfolgt aber auch über die gesellschaftlich notwendige, aber nicht entlohnte Reproduktionsarbeit insbesondere von Frauen und Migrantinnen.
Insbesondere auch in den Debatten um das bedingungslose Grundeinkommen zeigt sich, dass es auch unter Linken noch immer kein gemeinsames Verständnis des Arbeitsbegriffes gibt, was den einseitigen Blick auf die Arbeiterklasse, die in ihrer Mehrheit weiblich ist und die Nichtbeachtung feministischer Theorien und Praxen zur Folge hat. Es fehlt der Blick auf alle gesamtgesellschaftlich notwendige Arbeit als letztendlich einzige Kraft, die Reichtum im Sinne der Mehrwertproduktion direkt oder indirekt schafft.
Als lohnenswerte Lektüre, um den Arbeitsbegriff in unseren Köpfen zu verändern, empfehle ich einen Text von Frigga Haug: »Herrschaft als Knoten denken«1. Ich denke, er ist eine treffliche Zusammenfassung über die neoliberale Ausprägung des patriarchalen Kapitalismus und zeigt eine Vision möglichen, eingreifenden Handelns.
Drohender Jobverlust und keine Aussicht auf wertende Entlohnung
In den ersten Wochen der Corona-Pandemie wurde ein Teil der mehrheitlich von Frauen geleisteten Erwerbsarbeit als Verkäuferinnen, Reinigungskräfte, Krankenschwestern, als Pflegende beklatscht. Einzelne Hunderter wurden einmalig und auch nicht von allen Unternehmen im Handel ausbezahlt, die gewerkschaftliche, herbstliche Kniebeuge, gerade mal die Inflationsrate an Erhöhung verhandelt zu haben – ein Hohn. Und immer wieder aufs Neue die Warnung vorm Pflegenotstand, eine entsprechende Entlohnung und damit Aufwertung des Berufes bleibt aus.
In einer Presseaussendung der Arbeiterkammer wird anhand einer internationalen Studie von ForscherInnen dreier Universitäten bilanziert:
»Im Gegensatz zur Finanzkrise vor zehn Jahren, bei der mehr Männer als Frauen ihren Arbeitsplatz verloren haben, sind nun besonders typische ›Frauen-Branchen‹ gefährdet, wie etwa die Gastronomie oder der Reisesektor. ›Verlieren Frauen ihren Job, besteht die Gefahr, dass sie die gesamte Haushalts- und Familienarbeit übernehmen und unsere Gesellschaft in Sachen Geschlechtergerechtigkeit wieder zurückfällt‹, warnt AK-Frauenreferentin Bernadette Pöcheim. Dann fiele auch der Wiedereinstieg in die Arbeitswelt wieder schwerer. Besonders hart trifft die derzeitige Doppelbelastung von reduziertem Kinderbetreuungsangebot und Erwerbsarbeit, aber auch die angespannte Situation am Arbeitsmarkt, die österreichischen Alleinerzieherinnen, von denen jetzt schon 44 Prozent als armutsgefährdet gelten. […] ›Die zuvor weit verbreitete Illusion, dass sich das Homeoffice mit gleichzeitiger Kinderbetreuung in den eigenen vier Wänden vereinbaren ließe, sollte nach den Erfahrungen der vergangenen Wochen niemand mehr haben. Aber vielleicht können Pendlerinnen und Pendler mit regelmäßigen Homeoffice-Tagen so manche Wegstrecke einsparen oder es lassen sich einzelne Arbeitseinheiten auf Tageszeiten verlegen, in denen der Partner die Kinderbetreuung übernimmt‹, so Pöcheims Hoffnung.«
Femme Fiscal hat ein feministisches Konjunkturpaket auf den Tisch gelegt, in dem es um handfeste Zahlen geht, die Details finden sich hier: Http://zwanzigtausendfrauen.at/ und da kann man es auch unterschreiben.
Gefordert werden insgesamt zwölf Milliarden Euro, davon fünf Milliarden für ein Zukunfts- & Bildungspaket u.a. zur Finan zierung einer Erhöhung der Familienbeihilfe, einer gleichen für alle, unabhängig vom Wohnort der Kinder statt dem Familienbonus, der sich als Steuergeschenk für die wohlhabenden Männer entpuppt hat. Vier Milliarden für ein Pflegepaket durch die Verdoppelung der öffentlichen Ausgaben, um u.a. auch die Löhne entsprechend anheben zu können.
Ein einmaliger Corona-Lastenausgleich auf hohe Vermögen würde auf fünf Jahre berechnet 70 bis 80 Milliarden Euro einbringen. Allein die Erhöhung des Anteils von vermögensbezogenen Steuern am Bruttoinlandsprodukt auf OECD-Durchschnitt würde rund sechs Milliarden Euro, eine progressive Besteuerung von Unternehmensgewinnen rund 2,4 Milliarden Euro jährlich einbringen, rechnet Femme Fiscal vor.
Aber es geht nicht nur um ein gerechteres Stück vom Kuchen, letztlich muss es um die ganze Bäckerei gehen, sprich um eine grundlegende Kritik am neoliberal und patriarchal geprägten Kapitalismus.
Kehren wir zurück zu Marx und Engels
Die Vision von Marx und Engels war, dass es durch die industrielle Entwicklung möglich sein muss, die notwendige Erwerbsarbeitszeit zurückzudrängen, sodass insgesamt und in der gesamtgesellschaftlichen Entwicklung für alle Menschen mehr Zeit für Selbsterfahrung und dafür bleibt, kulturelle und menschliche Wesenskraft zu entwickeln. Aber kapitalistisch organisiert, führt die »Ökonomie der Zeit«, wie Marx es im Kapital Band 2 nennt, zur Vertiefung der Spaltung in der Gesellschaft. Nicht »Zeit für menschliche Entwicklung«, sondern »Ökonomie der Zeit« wird eingesetzt, um damit die Profite zu erhöhen. Alles, was nicht beschleunigbar, automatisierbar, rationalisierbar ist und eben nicht genug Profit abwirft und dadurch auch nicht marktförmig bearbeitet werden kann, muss aber dennoch von Menschen erledigt werden oder die Sache geht ein.
Die im kommunistischen Manifest enthaltene, fundamentale Kritik an der bürgerlichen Familie wurde in der Folge in der weiteren marxistischen Auseinandersetzung ausgeblendet bzw. auf die Forderung »Recht auf Arbeit« – gemeint männlich-zentrierte Lohnarbeit – reduziert. Der Blick auf die Reproduktionsverhältnisse, auf alle gesellschaftlich notwendige Arbeit kam erst durch die feministischen Bewegungen Ende der 1960er Jahre ins Gespräch, bleibt aber bis heute geheimnisvoll. Der Kampf um Arbeitsrechte übersah über hundert Jahre lang auch die Tatsache, dass Frauen um ein Drittel weniger verdienen, obwohl sie zwei Drittel der gesellschaftlich notwendigen Arbeit leisten.
Zeit für menschliche Entwicklung – Fazit – Empört euch – Reden wir darüber
In diesem Sinne ist die Arbeit von Frauen in den Blick zu nehmen. Denn nicht die Arbeit wird weniger, sondern ihre Bezahlung, sofern es überhaupt eine gibt.
Kurzfristige, wie aus dem Nichts entstandene, freiwerdende Budgetmittel verzögern individuelle katastrophale Insolvenzen, aber die Flut von Rückzahlungsaufforderungen wie bei Mietvereinbarungen, Krediten etc. werden uns schnell einholen.
Mehr denn je müssen Arbeit und Leben zusammengedacht werden, um Handlungsorientierungen zu entwickeln: Was ist für uns ein »erfülltes Leben«?
Warum steigen Aktienkurse in Coronazeiten? Warum gibt es keine Regulierung der Finanzmärkte?
Wem nützt das Finanzkapital? Warum können 1 Prozent der Weltbevölkerung ihre Interessen gegen 99 Prozent durchsetzen?
Können wir das Soziale und die Solidarität gemeinsam neu erfinden und konstruieren? Lassen sich Arbeits- und Lebensverhältnisse demokratisieren bzw. wieder aneignen, auch jenseits des Lohnarbeitskonzepts? Und müssen wir nicht neue Orte schaffen, soziale Zentren, in denen Arbeitslose und prekär Beschäftigte sich austauschen, gegenseitig stärken, Kontakte vermitteln und Netzwerke aufbauen können?
Heidi Ambrosch ist die frauenpolitische Sprecherin der KPÖ, arbeitet für transform! Europe, engagiert sich auf der Plattform 20000frauen und schreibt regelmäßig in der Volksstimme und anderen Publikationen.
1 www.zeitschrift-luxemburg.de/herrschaft-als-knoten-denken/
Gedanken von HELGA WOLFGRUBER
»Wenn die Wahrheit bei irgendjemand auf Erden zu finden ist, dann ganz bestimmt nicht bei Menschen, die behaupten, sie zu besitzen.«
Albert Camus
An diesen Satz von Camus habe ich in den letzten Wochen oft denken müssen. Vor allem dann, wenn meine Gedanken und Gefühle im Dickicht der täglichen Berichterstattung die Orientierung verloren haben. Corona-ExpertInnen verschiedener Fachrichtungen verteidigen unermüdlich ihre unterschiedlichen Wahrheiten, kämpfen um die besseren Argumente, sprechen einander die Richtigkeit ihrer Aussagen ab und erzeugen Ratlosigkeit. Und Politik erschwert das Ertragenmüssen pandemischer Ungewissheiten durch eine angsterzeugende Rhetorik.
Corona ist ein Ersatzschlachtfeld, von dem der Neurobiologe Gerald Hüther meint, wir würden auf ihm kämpfen, weil »wir es nicht mehr aushalten, dass wir auf allen anderen Problemfeldern nicht mehr weiterkommen«. Vom neoliberalen Dogma des Wachstumswahns und dessen zerstörerischen Folgen scheint nicht nur Ökonomie und individuelle Lebensweise infiziert zu sein, sondern auch der Covid 19 Virus selbst. Auch dessen Wachstumsfreude weist einige ökonomische und ideologische Gewissheiten in die Schranken. Es wäre jetzt ein guter Zeitpunkt für eine längst fällige Generalinventur unseres Systems und für einen Paradigmenwechsel unseres Arbeits- und Wirtschaftslebens.
Jenseits der widersprüchlichen Zahlen und Hypothesen gibt es aber einige wenige Gewissheiten, auf die sich merkwürdigerweise Viele einigen können. Eine davon ist: Einsamkeit nimmt zu!
»Es ist nicht gut, daß der Mensch alleine sei« (Genesis I)
Gereinigt von moralischen, biblischen Imperativen wird der Mensch von BiologInnen als »physiologische Frühgeburt« oder auch als »Nesthocker« bezeichnet. Er ist von Geburt an auf fremde Hilfe und Beschützung angewiesen. Seine Überlebensfähigkeit ist davon abhängig und macht ihn zwangsläufig zu einem sozialen Wesen. Und als solches lernen wir auch die Fähigkeit zum Alleinsein, das Ertragen von Einsamkeit oder sogar das zeitlich begrenzte Genießen von beidem.
Der englische Psychoanalytiker D. W. Winnicott legt dem Erlernen dieser Fähigkeit die Erfahrung des Kleinkindes »of beeing alone in the presence of the mother/of another« zugrunde. Erst wenn die Bedürfnisse des Kindes in jeder Hinsicht »gestillt« sind, die Mutter/Bezugsperson aber in ihrer Verfügbarkeit präsent bleibt, vermittelt sie Stabilität und Sicherheit. Die Erfahrung ihrer verlässlichen Wiederkehr ermöglicht dem Kind durch wiederholte Erfahrung die Verinnerlichung einer vertrauensvollen Beziehungsfigur. BindungstheoretikerInnen leiten aus diesen Erfahrungen auch die spätere Bindungs- und Beziehungsfähigkeit ab. Sind diese kindlichen Abhängigkeitserfahrungen vorwiegend von Enttäuschung und Entbehrung geprägt, können spätere Trennungen von realen Menschen in zerstörerisches Einsamkeitserleben münden. Das oft zitierte »Urvertrauen« wäre eine wichtige Quelle und Kraftspender für Selbstwirksamkeit. Und vielleicht auch ein »Möglichkeitsraum«, in dem die Wiederholung kraftraubender Kindheitsmuster durchbrochen werden kann. Corona-Politik scheint zum Wiederaufleben und Wachstum von Ängsten einzuladen, versagt aber kläglich beim Schaffen vertrauensbildender Maßnahmen.
Einsam oder gesellig
Einsamkeitskonzepte wurden im Laufe der Jahrhunderte viele entworfen und ranken sich um die Worte Einsamkeit, Alleinsein, Verlassenheit, soziale Marginalisierung oder gesellschaftliche Exklusion. Die Bedeutungen dieser Begriffe überschneiden sich, sind jedoch nicht deckungsgleich. So muss nicht jedem sozialen Rückzug schon ein Einsamkeitsgefühl innewohnen. Eine vorübergehende Verabschiedung von der modernen »Geselligkeitspflicht« (Odo Marquard) kann auch emotionaler Erholung dienen, dem Kraftschöpfen für Kreatives Platz geben oder auch das Bekanntwerden mit »sich selbst« ermöglichen. Auch dazu wurden Stimmen während des ersten Lockdowns laut. Tief empfunden kann Einsamkeit sogar ein Stimulus für die Aufnahme von Beziehungen sein oder umgekehrt den Ausstieg aus einem Leben in »Einsamkeit zu zweit« einläuten. Oder sie kann den Rückzug aus einer Gruppe bedeuten, in der die Vorstellung von Dazugehörigkeit und Sinnfindung nicht erfüllt wird.
Für Gerald Hüther sind es zwei Menschheitsbedürfnisse, deren Nichtbefriedigung gerade jetzt Ängste auslösen und Schaden sowohl für das Individuum als auch für die Gesellschaft bedeuten können. Das eine wäre der Wunsch nach Verbundenheit mit Anderen – Hartmut Rosa würde von Resonanzerfahrung reden –, das andere der Wunsch nach Freiheit und autonomer Selbstbestimmung. In diesem Spannungsverhältnis sehe ich zunehmende Rebellion und Demonstration gegen derzeitige staatliche Maßnahmen und individuelle Einschränkungen angesiedelt. Diktaturfantasien und Verschwörungsideen befeuern diesen Kampf gegen einen Außenfeind und binden diffuse Ängste. »Unbefriedigende Befriedigung«: Ich gehöre zu einer Gruppe (der GegnerInnen) und ich mache meine eigenen Regeln (z. B. Mundschutzverweigerung). Warum sich auch Linke an diesem Kampf beteiligen, kann ich nicht nachvollziehen. Sind diejenigen GenossInnen, die sich jetzt gegen die Corona-Politik auflehnen, dieselben, die Chinas brachiale, freiheitseinschränkende, aber effiziente Maßnahmen loben?
Einsamkeitsverstärker Innen und Außen
Die Versuchung ist groß, die Ursachen für die Vereinsamung entweder nur in der psychischen Innenwelt zu suchen, wie es viele PsychotherapeutInnen tun, oder aber nur in den äußeren Verhältnissen, wie es viele KapitalismuskritikerInnen postulieren. Die Realität aber ist komplizierter und dialektisch: so beschrieb auch Pierre Bourdieu »die Spuren des Außen im Herzen des Innen«. Und dieses geformte Innen-Verändernde gibt dem Außen seine neue Gestalt. Anders, so glaube ich, lässt sich Veränderung schwer denken.
Aktuelle Belastungen durch die Pandemie hinterlassen neue, schmerzliche Spuren des Außen nicht nur in der Psyche des Menschen. Karl Marx und Sigmund Freud waren die »Meisterdenker« des 19. und 20. Jahrhunderts zu psychischer und materieller Realität. Freud konnte die wichtige Rolle der ökonomischen Realität durchaus anerkennen, während Marx die Wichtigkeit »der Traditionen aller toten Geschlechter« betont, die »als Alp auf den Gehirnen der Lebenden« lasten.
Der Alp, der jetzt das Gehirn der Lebenden zermartert und zunehmend auch deren Seelen quält, heißt Virus, ist eine vorgefundene Tatsache, die zeigt, dass sich Menschen von Gewohnheiten und Traditionen, wider jede Vernunft, schwer lösen können. Der Ruf nach einem »Zurück zur Normalität« wird auch von linker Seite lauter und lässt vergessen, dass linke Politik dieser »alten Normalität« nie ihre Zustimmung gegeben hat.
Brennglas Krise
Risikofaktoren, auch für die Entstehung von Einsamkeit, sind längst bekannt und beschrieben. Sie werden durch die Krise nur deutlicher sicht- und spürbar. Fällt der Arbeitsplatz als Ort der Begegnung weg, verkleinert sich auch die Möglichkeit für Beziehungsaufnahmen. Ohne Sozialkontakte, in physisches Alleinsein gedrängt zu sein, kann für alleinlebende, ältere oder kranke Menschen zu einer trostlosen Erfahrung werden. Hingegen kann das Zusammengesperrtsein von Familien auf engem Raum zum Wunsch nach einem »Ort für sich alleine« führen. Lohn- und Einkommensverlust bedeuten Verlust des Selbstwertes, begünstigen sozialen Rückzug und fördern das Gefühl von Ausgeschlossensein. Und dieses Gefühl bahnt den Weg in die Einsamkeit. Und chronische Einsamkeit bildet den Nährboden für Depression.
Wen aber interessierte vor Corona die Depression vereinsamter Flüchtlinge, die zugleich eingeschlossen und ausgeschlossen, ohne Sicherheit und Perspektive auf einer Warteliste stehen? Warum wurde Isolationshaft als gefürchtetste Maßnahme des Strafvollzugs nicht schon längst als Folter abgeschafft? Waren AlleinerzieherInnen nicht schon vor Corona sozial isoliert und deshalb oft verzweifelt? Und wie viele Untersuchungen weisen schon lange auf den Zusammenhang zwischen materieller Armut und sozialer Exklusion hin?
Auswege, Irrwege
Die derzeitige Situation der Unsicherheiten macht uns vermehrt mit Gefühlen von Machtlosigkeit und Angst bekannt. Das Bedürfnis nach Spannungsreduktion intensiviert sich, und je nach Persönlichkeitsstruktur haben wir unterschiedliche Reaktionsweisen zur Verfügung: Lähmung, Flucht, Angriff.
Während sich die einen in Ergebenheit an Verordnungen halten und still hoffen, dass ein Impfstoff sie aus einer lähmenden Starre »befreit«, bereiten andere ihre Flucht vor. Corona verändert aber drastisch die Reiseziele. Der Weg führt jetzt in die Gegend von Netflix, sozialen Medien, Arbeit, Alkohol. Im Gegensatz zu echten Urlaubsreisen ist eine Rückkehr hier nicht immer garantiert. Die dritte Möglichkeit wäre der Angriff: auf staatliche Verordnungen, Andersdenkende, auf Schwächere. Vielleicht lässt sich Angriff auch positiv verstehen, als angreifen, in die Hand nehmen, um neue Konfliktlösungen für diese neue Situation zu suchen. Denn wenn es jetzt so weiterginge, dann wäre das, nach Walter Benjamin »die eigentliche Katastrophe«.
Plädoyer für Solidarität
Es hat sich gezeigt, dass in Ausnahmesituationen verbales Katastrophenmitgefühl und praktische Hilfe rasch geleistet werden. Der gemeinsame Einsatz für ein sinnvoll erachtetes Ziel, das gemeinsame Tun, schafft Verbindlichkeit und macht unser Leben meist sinnvoller. Warum die Bereitschaft zu solidarischem Handeln oft nicht von Dauer ist, erklärt sich schwer. Ist es auch hier die »verordnete« Einsicht in die Notwendigkeit, die dem Credo der Freiwilligkeit entgegensteht? Das Akzeptieren von Abhängigkeit sowie die Beseitigung von ungleicher Verteilung von Last und Macht wären ein guter Klebstoff für einen überlebenswichtigen Zusammenhalt vieler unterschiedlicher Menschen. Denn: »No man is an island, entire of itself; every man is a piece of the continent«, diese oft zitierten Zeilen von John Donne drücken auch heute noch die existenzielle Erfahrung von Abhängigkeit voneinander und auch die Verantwortung füreinander aus.
Einen Operationstermin Mitte Oktober kurz vor den rasant steigenden Covid-Ansteckungszahlen und dem Lockdown bekommen zu haben – welch ein Glücksfall.
EINE MISZELLE VON BÄRBEL DANNEBERG
Das Eintreffen im Landesklinikum Zwettl ist ungewohnt: abgeschirmter Eingangsbereich, externes Covid-Personal weist auf maximal eine Begleitperson hin, Maskenpflicht, Händedesinfektion, Fiebermessen, Fragebögen ausfüllen. Nach den Aufnahmeformalitäten auf der Station: nochmals Fiebermessen, Befragungen, Anamnese, Rachenabstrich, Warten.
Das Pflegepersonal ist erstaunlich gelassen und routiniert im Umgang mit den erschwerten Arbeitsbedingungen. Im Krankenzimmer werden wir vom eintretenden Pflegepersonal ermahnt, Mund- und Nasenschutz anzulegen, erst dann nähern sie sich, selbst vermummt und handschuhbestückt, dem Bett.
Im Laufe meines Aufenthaltes erfahre ich, dass im Spital ein Covid-19-Cluster ist. Alle PatientInnen müssen sich nochmals einem Corona-Test unterziehen. »Im Zusammenhang mit einem Cluster um das Landesklinikum Zwettl in Niederösterreich sind am Freitag 26 mit dem Coronavirus infizierte Personen gemeldet worden«, schreibt die Kronen Zeitung. »Das Büro von Gesundheits landesrätin Ulrike Königsberger-Ludwig (SPÖ) verzeichnete zehn angesteckte Patienten und zwei erkrankte Besucher …«
»Jetzt steht das auch schon in der Krone«, sagt der Bewegungstherapeut seufzend, der mir das Gehen mit Krücken beibringen soll. Das Dilemma sei, dass die Tests zu lange dauern. »Kommt ein Patient rein, wird er getestet, das Ergebnis ist erst am nächsten Tag da. 14 Kolleginnen des Pflegepersonals sind infiziert. Und wenn Pflegepersonal ausfällt, müssen die anderen die Arbeit machen. Mehr Personal gibt’s nicht«, meint er. Die anstrengende Arbeit mit den Masken oder einem Schutzschild, manche tragen beides, würde Augenentzündungen und Entzündungen des Nasen- und Rachen bereichs nach sich ziehen. »Das Personal ist überlastet. So langsam sind wir am Ende unserer Kräfte«, sagt er. Wir werden darauf hingewiesen, dass nur eine Besuchsperson pro PatientIn für maximal eine viertel Stunde erlaubt sei.
Diese Zeit droht zum Belastungstest für die Gesundheitseinrichtungen und Landesspitäler zu werden. Knapp 400 Covid-PatientInnen mussten Anfang November in diesen Einrichtungen Niederösterreichs versorgt, mehr als 50 davon intensivmedizinisch betreut werden. Betten für den noch bevorstehenden Ansturm müssen freigehalten werden. Meine Spitals-Bettnachbarin, die nach ihrer Knie-OP zur Rehabilitation nach Gmünd überwiesen wurde, schreibt mir, dass sie zehn Tage früher in häusliche Betreuung entlassen wurde, »eine Station um die andere wurde für Covid-Patienten frei geräumt.« Ich bin froh, nach gelungener Operation und trotz schwierigster Arbeitsbedingungen optimal betreut und rasch entlassen zu werden. Eine Woche später wäre meine Operation von der Spitalsorganisation wahrscheinlich abgesagt worden. Andere Menschen, die keine unbedingt lebenserhaltende OP wie ich vor sich haben, müssen warten und mit Schmerzen, der Ungewissheit, mit der Resignation und der Einsamkeit im Lockdown leben.
Das Ende des Corona-Tunnels ist längst nicht in Sicht. Eine Triage-Situation in den Spitälern, also eine Auswahl, welche PatientInnen zuerst hochprofessionelle Hilfe bekommen, wäre eine Katastrophe.
Die staatlichen Maßnahmen gegen die Ausbreitung von Covid-19 werden auch in der Linken sehr kontrovers diskutiert. Ein Plädoyer für eine mehrdimensionale Sichtweise.
VON KARL REITTER
Nach Monaten der Erfahrung mit Covid-19 lassen sich ernsthafte Aussagen über die Gefährlichkeit des Virus treffen. Die Sterblichkeit ist inzwischen fast auf das Niveau einer Grippe gesunken. »Der Median liegt bei 0,23 Prozent, aber es gibt große regionale Unterschiede«, zitiert Florian Rötzer den international anerkannten Epidemologen John Ioannidis. (Rötzer, telepolis, 24.10.2020) Der Professor für Allgemeinmedizin an der MedUni Wien, Andreas Sönnichsen, ermittelte auf Basis des amtlichen Dashboards eine »Infection-Fatality-Rate« (IFR), sprich eine Sterberate »zwischen 0,1 % und 0,8 %« (Sönnichsen, 57) Seine Schlussfolgerung: Sars-CoV-2 sei »nicht wesentlich gefährlicher als eine etwas heftigere Grippewelle«. (Sönnichsen, 59) Das Problem liegt weniger in der Gefährlichkeit der Erkrankung, sondern in der Rasanz der Ausbreitung. So trifft eine steigende Zahl von infizierten Personen auf ein neoliberales, kaputt gespartes Gesundheitssystem, dessen Mängel angesichts der Pandemie nicht mehr zu verschleiern sind. Diese Mängel sind selbst bei ehrlichem politischem Willen kaum in wenigen Wochen zu kompensieren. Daher die Schlussfolgerung: Es gäbe, schon um den Zusammenbruch des Gesundheitssystem zu verhindern, keine Alternative zu den einschneidenden staatlichen Maßnahmen. Für manche ist die Debatte damit schon beendet. Eigentlich beginnt sie erst.
Vermintes Gelände
Anstatt das soeben skizzierte Szenario zum Ausgangspunkt einer dringend nötigen Debatte zu nehmen, wird jede weitere Diskussion oftmals demagogisch verunmöglicht. Wer Kritik äußert, ja selbst nur eine sachliche, wissenschaftlich fundierte Debatte einfordert, wird als Corona-LeugnerIn und VerschwörungstheoretikerIn denunziert. Zu diesem Zweck werden bedeutungslose Mini-Sekten und ihre abstrusen Vorstellungen zu relevanten gesellschaftlichen Strömungen aufgeblasen und als repräsentativ für all jene vorgeführt, die eine ruhige, abwägende Debatte einfordern. Erfahrene MedizinerInnen und ExpertInnen wie John Ioannidis und Hendrik Streeck werden medial als verantwortungslose Scharlatane vorgeführt. Wer sich kritisch äußert, ist geradezu genötigt, erstmal einen Eid abzulegen, er oder sie sei keine Corona-LeugnerIn. Ein Beispiel: Rolf Gössner, ein engagierter, linker Anwalt in Deutschland, bekam den Hans-Litten-Preis zugesprochen. In seiner Dankesrede kommt Gössner auch auf Corona zu sprechen und leitet seine Redepassage mit folgenden Worten ein: Er würde sich nun auf »ziemlich vermintes Gelände« begeben. Er wusste offenbar, seine Aussagen – wie etwa folgende – können auch in der Linken einen Sturm der Entrüstung hervorrufen: »Es gibt begründete Zweifel an der Angemessenheit mancher der panikartigen und pauschal verhängten Lockdown-Maßnahmen auf ungesicherter Datenlage.« (Gössner, junge Welt, 13.10.2020)
Vom Kleinreden der Folgeschäden
Die Diskussion wird insbesondere dann schwierig, wenn die dramatischen Folgeschäden der Maßnahmen systematisch kleingeredet werden. Man kann die Gefährlichkeit des Virus unterschätzen, man kann aber auch die Folgewirkungen der Einschränkungen unterschätzen, und zwar auf allen Gebieten des sozialen Lebens. Studien weisen auf die dramatischen gesundheitlichen und psychischen Folgen des Lockdowns hin. (Andreas von Westphalen, telepolis, 12.11.2020) Es ist für mich bedrückend, wie viele Kräfte auch in der Linken diese negativen Folgeschäden nicht wahrhaben wollen oder kleinreden. Selbst die kapitalistische Ökonomie kommt nicht ungeschoren davon. Machen wir uns nichts vor, obwohl die Produktion weiter läuft und alles andere erstickt wird, verstärken die Maßnahmen die schwelende Krise der kapitalistischen Ökonomie. Alfred Noll hat das Dilemma des Staates diesbezüglich treffend beschrieben: »Der Covid-19-Staat ist der Würgeengel der kapitalistischen Produktionsweise, indem er Produktion und Konsumtion über weite Strecken verhindert – er macht also exakt das Gegenteil von dem, wozu er geschaffen wurde.« (Noll, 93). Nolls entscheidende These dazu lautet: Die Notwendigkeit, »immer das eine und das andere zugleich machen zu müssen«, kann mit den »üblichen parlamentarischen Routinen« nicht bewerkstelligt werden. Massive Schädigung der Ökonomie verknüpft sich mit weitgehender Suspendierung der Rechtsstaatlichkeit. Viele linke Stimmen weisen kritisch darauf hin. Halina Wawzyniak und Udo Wolf schreiben in einem Papier der Rosa Luxemburg Stiftung: »Linke Politik, die aus der Geschichte gelernt hat, darf Freiheitsrechte nicht geringschätzen. […] Ohne Freiheitsrechte lässt sich gesellschaftlicher Fortschritt nicht erstreiten und auch keine sozial gerechte Politik. Die Würde des Einzelnen, die nach dem Grundgesetz unantastbar ist, beinhaltet, dass der Mensch nicht zum reinen Objekt staatlichen Handelns gemacht werden darf.« Der Parteigenosse von Wawzyniak und Wolf, Klaus Lederer, ist anderer Meinung und plädiert für den Ausnahmenzustand: »Die begrenzte Außerkraftsetzung von Grundrechten ist angesichts der Bedrohung für Menschenleben nicht nur legitim, sondern notwendig.« (Lederer, Neues Deutschland, 13.10.2020) Der Aufschrei aus der Linken blieb aus.
Von Schuldzuweisungen auf Basis absurder Annahmen
Stattdessen passiert etwas sehr Problematisches. Normalerweise weisen vernünftig und besonnen denkende Menschen Schuldzuweisungen an bestimmte Personengruppen mit guten Argumenten zurück. Weder die Jüdinnen und Juden, die MigrantInnen, die Muslima noch die Erwerbsarbeitslosen usw. sind am Übel der Welt schuld. Bei Corona wird anders argumentiert: Aus Angst und Frust werden Sündenböcke gesucht und drakonische Strafen gefordert. Nun seien es die unverantwortlichen HedonistInnen, die die Ausbreitung des Virus weiter ermöglichen. Um es unmissverständlich und klar zu sagen: Zu meinen, wenn wir uns alle nur richtig verhalten würden, würde Covid-19 aus der Welt verschwinden, ist eine unverantwortliche Wahnidee. Keine Frage, entsprechendes Verhalten kann wohl die Ausbreitung bremsen, aber kein denkbares Verhalten kann Covid-19 ein für alle Mal aus der Welt schaffen. Es müssten schon jegliches soziale Leben, jeglicher Kontakt auf Tage, wenn nicht Wochen, vollständig eingestellt werden, und das ohne Ausnahme, weltweit – eine Unmöglichkeit. Selbst wenn das Virus unter die Wahrnehmungsschwelle herabgedrückt werden würde, könnte es jederzeit umso rascher wieder ausbrechen. Wie sich das Virus tatsächlich ausbreitet, wissen wir kaum. Die Cluster-Analyse der staatlichen Agentur AGES weist »Haushalt« zu 67 Prozent als Infektionsherd aus, aber wie kommt Covid-19 in die Familien? (Quelle: www.ages.at) »Bürgerinnen und Bürger können nirgendwo nachlesen, ob ein Restaurantbesuch zu zweit gefährlich ist; ob sich viele Menschen beim Friseur oder Arztbesuch oder zum Beispiel in Aufenthaltsräumen oder Meetings am Arbeitsplatz angesteckt haben.« (Standard, 1.11.2020) An die Stelle wissenschaftlich fundierter Erkenntnisse treten Phantasien über die Verbreitungswege des Virus. Der Hass gegen die Uneinsichtigen hat auch eine soziale Dimension: »Während die unterprivilegierten Massen nun dem Staat misstrauen, sind es die privilegierten linksliberalen und postmaterialistischen Oberschichten und Eliten, die dem Staat täglich die Mauer machen und ihn immer wieder dazu anfeuern, gegen ungestüme und uneinsichtige Massen vehement durchzugreifen.« (Heinzlmaier, 245)
Hoffen auf die Erlösung?
Der Erlöser heißt 2020 nicht Jesus, sondern »Die Impfung«. Wenn überhaupt, beruht der rationale Kern der aktuellen Maßnahmen auf der Hoffnung, spätestens im Frühjahr 2021 gäbe es einen Impfstoff. Und was ist, wenn nicht? Zweifellos konnten Infektionskrankheiten tatsächlich ausgerottet werden, etwa die Pocken. Gegen andere Infektionskrankheiten wie Malaria, HIV und Hepatitis C gibt es bis dato keine Impfung und es scheint auch keine in Sicht. Nun erreichen uns Pressemeldungen aus den Hauptquartieren der Pharmafirmen Pfizer und BioNTech, sie hätten bereits den Impfstoff BNT162b2 entwickelt, der bald einsatzbereit wäre. Viele medizinische Fragen sind offen, aber es gibt in jedem Fall GewinnerInnen. Allein Pfizer-Chef Albert Bourla machte innerhalb von Tagen durch Verkauf seiner Aktien 5,6 Millionen US-Dollar Gewinn (Rötzer, telepolis, 12.10.2020). Angesichts jüngster Erfahrungen mit Pharmafirmen ist jedenfalls Skepsis angebracht. 2009 wurde durch die WHO die Schweinegrippe-Pandemie ausgerufen, deren Gefährlichkeit völlig überschätzt wurde. Die Infektionskrankheit wurde mit dem rasch entwickelten Impfstoff Pandemrix bekämpft, mit dramatischen Folgen. »Insbesondere in Schweden kam es in Folge der H1N1-Impfung mit dem Impfstoff Pandemrix in mehreren hundert Fällen zu unheilbaren Nebenwirkungen der Narkolepsie (Schlafkrankheit), von der vor allem Kinder und Jugendliche betroffen waren.« (Hunko, 50) Ein Großteil der Medikamente wurde deswegen vernichtet, die Kosten betrugen 30 Milliarden Euro. Aber das Starren auf die Entwicklung von Impfstoffen provoziert eine weitere Frage: kein Interesse an Medikamenten?
Erstaunlicherweise ist von der Entwicklung wirksamer Medikamente gegen Covid-19 nirgendwo die Rede. Krankheiten durch Impfungen zu verhindern ist eine Sache, eine andere, sie mit Medikamenten zu lindern und zu heilen. Gegen AIDS gibt es keine Impfung, aber wirksame Medikamente haben der Krankheit ihren Schrecken genommen. Wieso gibt es offenbar so wenig Interesse an der Entwicklung von Medikamenten gegen Covid-19? Wieso ist das schlichtweg kein Thema? Liegt es am Profitinteresse der Pharmafirmen? Derzeit würden wirksame Medikamente gegen Covid-19 hierzulande wohl nur einigen tausenden Menschen verabreicht werden. Zu impfen sind aber hunderte Millionen … Die Debatte ist eröffnet.
Quellenangaben: Um den Text nicht mit Fußnoten zu überlasten, wurde nur Name, Medium und Datum angegeben. Die Quelle ist so leicht zu recherchieren. Namen mit Seitenzahlen verweisen auf Texte im Sammelband Lockdown 2020, der im Promedia-Verlag erschienen ist. Zitiert wird aus den Texten: Alfred Noll, Seuchenzeit: der Staat als ideeller Gesamtkapitalist; Bernhard Heinzlmaier, Jugendliche als Betroffene der Corona-Pandemie; Andrej Hunko, WHO – Wer bestimmt, was gesund ist?, Andreas Sönnichsen, Covid-19: Wo ist die Evidenz?
Die Corona-Pandemie verdeutlicht, dass Jahrzehnte neoliberaler Hegemonie auch an der UNO-Weltgesundheitsorganisation Schaden gelassen haben. Eine grundlegende Reform ist notwendig.
VON ANDREJ HUNKO
In der Corona-Pandemie zeigen sich viele strukturelle Probleme wie unter dem Brennglas. Seien es die prekären Arbeitsbedingungen in der Krankenpflege, die Abhängigkeit von Marktmechanismen bei der Beschaffung essenzieller medizinischer Güter oder die mangelhafte multilaterale Kooperation in Zeiten der Krise: auf viele Bereiche trifft diese Beobachtung zu. So auch für eine Institution, die gerade in diesen Zeiten von herausragender Bedeutung ist: Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) der Vereinten Nationen. Wie andere internationale Organisationen steht auch die WHO seit Langem unter Druck, sich der wachsenden Macht privater AkteurInnen zu öffnen. Das Jahr 1993 war ein Meilenstein in dieser Entwicklung. Die USA unter George Bush setzten eine Einfrierung der Pflichtbeiträge der Mitgliedsstaaten durch. Dadurch wurde das schon in den 1980er Jahren eingeführte reale Nullwachstum durch ein nominelles ersetzt.1 Inflationsschwankungen wurden forthin nicht mehr ausgeglichen. Seitdem sinkt der Haushalt alljährlich real, also inflationsbereinigt. In die so organisierte Finanzierungslücke traten zunehmend freiwillige, programmgebundene Beiträge. Ergebnis dieser Entwicklung ist, dass die WHO sich heute nur noch zu etwa 20 Prozent aus regulären, frei verfügbaren Mitgliedsbeiträgen finanziert. Etwa 70 Prozent der Mittel sind zweckgebunden.
Soziale Faktoren vernachlässigt
Hauptproblem: Bei »freiwilligen Beiträgen« bestimmen die GeberInnen über die Verwendung. Die sozialen Determinanten von Gesundheit, also Wohn- und Arbeitsverhältnisse, gesunde Ernährung und Zugang zu sauberem Trinkwasser, die in der Geschichte der WHO durchaus eine Rolle gespielt hatten, treten zugunsten rein kurativ-medizinischer Faktoren – also vermarktbare Medikamente und Impfstoffe – immer mehr in den Hintergrund.
So bewegte sich die WHO gerade von jenen Grundprinzipien weg, die sie zu einer zivilisatorischen Errungenschaft gemacht hatten. Zwar erreichte die WHO durch Impfungen viel – als größte Leistungen gelten zu Recht die Ausrottung der Pocken und die weitgehende Eliminierung der Poliomyelitis (Kinderlähmung). Der erklärte Zweck der 1948 parallel zu den Vereinten Nationen geründeten Organisation liegt allerdings darin, allen Völkern zur Erreichung des bestmöglichen Gesundheitszustandes zu verhelfen. In der wegweisenden Erklärung von Alma-Ata aus dem Jahr 1978 definierten die Mitgliedsstaaten Gesundheit als »Zustand von vollständigem physischen, geistigen und sozialen Wohlbefinden, der sich nicht nur durch die Abwesenheit von Krankheit oder Behinderung auszeichnet«. Dabei wurden auch soziale und ökonomische Aspekte betont, die Voraussetzungen für das Erreichen dieses Ziels sind. Bedauerlicherweise sind diese Aspekte zunehmend in den Hintergrund gedrängt worden. Auch in der gegenwärtigen Frage der Strategien gegen Covid-19 werden diese relevanten sozialen Faktoren weitgehend ausgeblendet.
Beschäftigt man sich mit der Entwicklung der WHO und ihrer Finanzierung, drängt sich zwangsweise ein Name in den Vordergrund: Bill Gates. Die Stiftung des Microsoft-Gründers und seiner Frau Melinda gibt nach eigenen Angaben jährlich vier Milliarden US-Dollar aus. 2016/2017 gingen davon zusammen 629 Millionen an die WHO. Damit war die Gates-Stiftung mit gut zehn Prozent des Gesamthaushalts der Organisation zweitgrößte Einzelspenderin. Sollte der WHO-Austritt der USA Bestand haben, wird die Stiftung zum größten Einzelfinancier der WHO. Bis zur überwiegend eindimensionalen Berichterstattung im Zuge des Corona-Lockdowns ab Mitte März 2020 konnte man in deutschsprachigen Medien durchaus Kritisches zu diesem Missverhältnis lesen. Ein Deutschlandfunk-Beitrag vom Juli 2018 hatte beispielsweise den Titel »Unabhängigkeit der Weltgesundheitsorganisation gefährdet – Was gesund ist, bestimmt Bill Gates«. Als jedoch eben dieses Thema zunehmend bei Corona-Protesten prominent und teils zu Verschwörungsphantasien überdehnt wurde, die Bill Gates die heimliche Weltherrschaft andichteten, drehte sich der Wind. Am 7. Mai, kurz vor dem Höhepunkt der ersten Welle der Proteste in Deutschland, wurde der Titel nachträglich »präzisiert« und hieß fortan »Das Dilemma der WHO«. Dabei ist ein kritischer Blick auf die WHO heute wichtiger denn je. Das bedeutet nicht, teils abstrusen Theorien das Wort zu reden. Aber weil gerade einmal die »Falschen« durchaus richtige Aspekte der Kritik mit aufgreifen, wäre es fatal, diese nicht weiter zu thematisieren.
Zwangsläufige Interessenskonflikte
Es ist unerheblich, ob man Bill Gates wohltätige oder bösartige Motive unterstellt. Dass ein einzelner Mensch Kraft seines akkumulierten Kapitals einen solchen Einfluss auf die Weltgesundheit hat, ist mit demokratischen Prinzipien unvereinbar. Es ist auch ein Ergebnis der in der neoliberalen Ära beschleunigten Vermögenskonzentration. Das Problem dieses obszönen Reichtums liegt ja nicht nur darin, dass der Reichtum der einen die Armut der anderen bedingt. Er kann auch verwendet werden, um die Gesellschaft nach den eigenen Vorstellungen und Interessen zu formen. Und genau das können wir bei der Weltgesundheit beobachten. Fast alle großen Unternehmen unterhalten Stiftungen, die natürlich für einen guten Zweck gegründet werden. Dabei geht es jedoch primär darum, Politik und Gesellschaft im Interesse der Stiftungsgründer zu beeinflussen. Das Kapital der Gates-Stiftung von knapp 50 Milliarden Euro ist in Konzernen wie Coca-Cola, Walmart, Monsanto (seit 2018 Teil von Bayer), aber auch in der Rüstungs- und Pharmabranche investiert. So entstehen zwangsläufig Interessenskonflikte. Denn die Profitinteressen dieser Konzerne widersprechen gesundheitspolitischen Zielen fundamental. So macht die Stiftung auf der einen Seite Gewinne mit Produkten, die Krankheiten wie Diabetes verursachen, an deren Folgen weltweit rund vier Millionen Menschen pro Jahr sterben.
Der Journalist Thomas Kruchem fasste das Dilemma wie folgt zusammen: »Für die Gates-Stiftung heißt dies: Je mehr Profite die genannten Firmen machen, desto mehr Geld kann sie für die WHO ausgeben. Für die WHO heißt es: Mit jeder Maßnahme gegen gesundheitsschädliche Aktivitäten der Süßgetränke-, Alkohol- und Pharmaindustrie würde die WHO die Gates-Stiftung daran hindern, das Geld zu erwirtschaften, mit dem die Stiftung die WHO finanziert. Kurz, die Weltgesundheitsorganisation steckt in einem klassischen Interessenkonflikt.«
Der aktuelle Umgang mit der Corona-Pandemie ist auch deshalb so schwierig, weil die WHO bei der letzten Pandemie-Ausrufung vor Corona völlig daneben lag. Die im Vergleich zur jährlichen Grippewelle relativ milde H1N1-Influenza aus den Jahren 2009 und 2010 (sogenannte Schweinegrippe) wurde von der WHO zur Pandemie mit der höchsten der damals gültigen Pandemiestufen erklärt. In der Folge traten in fast allen Mitgliedsstaaten Pandemie-Pläne in Kraft und sie schlossen milliardenschwere Verträge mit Impfstoffherstellern. Im Ergebnis war die Einstufung der Schweinegrippe als Pandemie eine gigantische Fehleinschätzung. Die Welt wurde unbegründet in Panik versetzt, ein zweistelliger Milliardenbetrag an öffentlichen Mitteln wurde für Impfdosen aktiviert, von denen später ein wesentlicher Teil wieder vernichtet werden musste, und viele Menschen nahmen durch die Impfung Schaden. Vieles deutet darauf hin, dass der Einfluss privater AkteurInnen aus der Pharmaindustrie in der WHO dabei eine entscheidende Rolle spielte. In einer Resolution des Europarates vom Juni 2010 heißt es geradezu prophetisch: »Die Versammlung befürchtet, dass dieser Mangel an Transparenz und Rechenschaftspflicht dazu führen könnte, dass das Vertrauen in die Empfehlungen der wichtigsten öffentlichen Gesundheitseinrichtungen sinkt. Das könnte sich bei der nächsten Krankheit von pandemischem Ausmaß (…) als katastrophal erweisen.« Diese Warnung von 2010 sollte sich zehn Jahre später bewahrheiten. Zwar ist die Corona-Pandemie als ungleich ernsthafter einzuschätzen als die Schweinegrippe und bedarf international koordinierter Maßnahmen. Viele Worst-Case-Szenarien aus der Anfangszeit der Pandemie haben sich jedoch glücklicherweise als unrealistisch erwiesen.
Reform und Kontrolle
Beachtlich ist, dass die aktuelle Pandemie die Welt weitgehend unvorbereitet traf, obgleich die WHO 2018 vor einer neuen pandemischen »Krankheit X« warnte und etwa der Europarat 2016 auf eine Vorbereitung auf gesundheitliche Notlagen von internationaler Tragweite drängte. Auch verschiedene nationale Gesundheitsinstitute, wie im Jahr 2012 das deutsche Robert-Koch-Institut, legten Pandemieszenarien vor, die zumindest in Deutschland ebenso ignoriert wurden.
Bis Juni riet die WHO vom Massengebrauch von Masken ab, gleichwohl machten viele Länder ihren Gebrauch in der Öffentlichkeit zur strafbewehrten Pflicht. Dann änderte die WHO ihre Richtlinien und empfahl den Gebrauch in überfüllten öffentlichen Einrichtungen wie dem Öffentlichen Personennahverkehr. Zugleich warnte sie aber vor einem falschen Gefühl der Sicherheit. Es ist offensichtlich, dass die WHO in dieser Frage keine Orientierungsinstanz für die Staaten war. In der Frage der Grenzschließungen war die WHO hingegen von Beginn an klar und riet unmissverständlich davon ab, da diese mehr Schaden als Nutzen bringen würden. Doch der Appell verhallte weitgehend ungehört.
Insgesamt traf die Corona-Pandemie auf eine unvorbereitete Welt. Die wichtigste Gesundheitsorganisation, die WHO, ist stark unterfinanziert und abhängig von privaten AkteurInnen mit ihren eigenen Interessen und Prioritäten. Zu allem Überfluss wurde ihre Existenz vom neuen geopolitischen Großkonflikt zwischen den USA und China überlagert. Anfang Juli 2020 erklärten die USA ihren Austritt aus der WHO, der am 6. Juli 2021 wirksam werden würde.
Eine grundlegende Reform der WHO ist angezeigt. Im Ende Juni 2020 mit großer Mehrheit angenommenen Corona-Bericht für die Parlamentarische Versammlung des Europarates2 habe ich bezüglich der WHO mehrere Vorschläge auf diesen beiden Ebenen gemacht. Kernpunkte sind die Unabhängigkeit von freiwilligen, zweckgebundenen Beiträgen sowie eine wirksame und unabhängige, idealerweise parlamentarische Kontrolle der Organisation. Für den ersten Punkt müssten vor allem die Mitgliedsstaaten ihre Zahlungen massiv aufstocken. Zumindest auf EU-Ebene scheint sich diese Einsicht teilweise durchzusetzen.
Ob sich eine mögliche Reform in diese Richtung entwickeln lässt, hängt natürlich von vielen Faktoren ab. Nicht zuletzt davon, ob sich gewachsene weltweite Macht profitgetriebener AkteurInnen im Gesundheitswesen zurückdrängen lässt und ob die Welt in den nächsten Jahren überhaupt jene internationale Kooperationsbereitschaft entwickelt, die der Etablierung der WHO zu Grunde lag. Dass enorm viel gemacht werden kann, wenn der politische Wille da ist, hat die Reaktion auf die Corona-Pandemie gezeigt. Ob der politische Wille für eine grundlegende Reform der WHO zur Beseitigung der erwähnten Missstände bei den aktuellen EntscheidungsträgerInnen vorhanden ist, erscheint hingegen zweifelhafter.
1 Reddy, S., Mazhar, S. & Lencucha, R. (2018): The financial sustainability of the World Health Organization and the political economy of global health governance: a review of funding proposals. Global Health 14, https://doi.org/10.1186/s12992-018-0436-8
2 Für die Parlamentarische Versammlung des Europarates war ich Berichterstatter für einen Bericht mit dem Titel »Lehren für die Zukunft aus einer wirksamen und auf Rechte gestützten Reaktion auf die COVID-19-Pandemie«, der am 26. Juni 2020 angenommen wurde, siehe https://pace.coe.int/en/news/7938/covid-19-responding-to-the-next-pandemic-states-should-act-fast-and-comply-with-human-rights
Andrej Hunko ist Bundestagsabgeordneter in Deutschland für die Partei DIE LINKE. Er ist europapolitischer Sprecher seiner Fraktion sowie stellvertretender Vorsitzender der Linksfraktionen im Bundestag und in der Parlamentarischen Versamm lung des Europarates.