Die Corona-Pandemie verdeutlicht, dass Jahrzehnte neoliberaler Hegemonie auch an der UNO-Weltgesundheitsorganisation Schaden gelassen haben. Eine grundlegende Reform ist notwendig.
VON ANDREJ HUNKO
In der Corona-Pandemie zeigen sich viele strukturelle Probleme wie unter dem Brennglas. Seien es die prekären Arbeitsbedingungen in der Krankenpflege, die Abhängigkeit von Marktmechanismen bei der Beschaffung essenzieller medizinischer Güter oder die mangelhafte multilaterale Kooperation in Zeiten der Krise: auf viele Bereiche trifft diese Beobachtung zu. So auch für eine Institution, die gerade in diesen Zeiten von herausragender Bedeutung ist: Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) der Vereinten Nationen. Wie andere internationale Organisationen steht auch die WHO seit Langem unter Druck, sich der wachsenden Macht privater AkteurInnen zu öffnen. Das Jahr 1993 war ein Meilenstein in dieser Entwicklung. Die USA unter George Bush setzten eine Einfrierung der Pflichtbeiträge der Mitgliedsstaaten durch. Dadurch wurde das schon in den 1980er Jahren eingeführte reale Nullwachstum durch ein nominelles ersetzt.1 Inflationsschwankungen wurden forthin nicht mehr ausgeglichen. Seitdem sinkt der Haushalt alljährlich real, also inflationsbereinigt. In die so organisierte Finanzierungslücke traten zunehmend freiwillige, programmgebundene Beiträge. Ergebnis dieser Entwicklung ist, dass die WHO sich heute nur noch zu etwa 20 Prozent aus regulären, frei verfügbaren Mitgliedsbeiträgen finanziert. Etwa 70 Prozent der Mittel sind zweckgebunden.
Soziale Faktoren vernachlässigt
Hauptproblem: Bei »freiwilligen Beiträgen« bestimmen die GeberInnen über die Verwendung. Die sozialen Determinanten von Gesundheit, also Wohn- und Arbeitsverhältnisse, gesunde Ernährung und Zugang zu sauberem Trinkwasser, die in der Geschichte der WHO durchaus eine Rolle gespielt hatten, treten zugunsten rein kurativ-medizinischer Faktoren – also vermarktbare Medikamente und Impfstoffe – immer mehr in den Hintergrund.
So bewegte sich die WHO gerade von jenen Grundprinzipien weg, die sie zu einer zivilisatorischen Errungenschaft gemacht hatten. Zwar erreichte die WHO durch Impfungen viel – als größte Leistungen gelten zu Recht die Ausrottung der Pocken und die weitgehende Eliminierung der Poliomyelitis (Kinderlähmung). Der erklärte Zweck der 1948 parallel zu den Vereinten Nationen geründeten Organisation liegt allerdings darin, allen Völkern zur Erreichung des bestmöglichen Gesundheitszustandes zu verhelfen. In der wegweisenden Erklärung von Alma-Ata aus dem Jahr 1978 definierten die Mitgliedsstaaten Gesundheit als »Zustand von vollständigem physischen, geistigen und sozialen Wohlbefinden, der sich nicht nur durch die Abwesenheit von Krankheit oder Behinderung auszeichnet«. Dabei wurden auch soziale und ökonomische Aspekte betont, die Voraussetzungen für das Erreichen dieses Ziels sind. Bedauerlicherweise sind diese Aspekte zunehmend in den Hintergrund gedrängt worden. Auch in der gegenwärtigen Frage der Strategien gegen Covid-19 werden diese relevanten sozialen Faktoren weitgehend ausgeblendet.
Beschäftigt man sich mit der Entwicklung der WHO und ihrer Finanzierung, drängt sich zwangsweise ein Name in den Vordergrund: Bill Gates. Die Stiftung des Microsoft-Gründers und seiner Frau Melinda gibt nach eigenen Angaben jährlich vier Milliarden US-Dollar aus. 2016/2017 gingen davon zusammen 629 Millionen an die WHO. Damit war die Gates-Stiftung mit gut zehn Prozent des Gesamthaushalts der Organisation zweitgrößte Einzelspenderin. Sollte der WHO-Austritt der USA Bestand haben, wird die Stiftung zum größten Einzelfinancier der WHO. Bis zur überwiegend eindimensionalen Berichterstattung im Zuge des Corona-Lockdowns ab Mitte März 2020 konnte man in deutschsprachigen Medien durchaus Kritisches zu diesem Missverhältnis lesen. Ein Deutschlandfunk-Beitrag vom Juli 2018 hatte beispielsweise den Titel »Unabhängigkeit der Weltgesundheitsorganisation gefährdet – Was gesund ist, bestimmt Bill Gates«. Als jedoch eben dieses Thema zunehmend bei Corona-Protesten prominent und teils zu Verschwörungsphantasien überdehnt wurde, die Bill Gates die heimliche Weltherrschaft andichteten, drehte sich der Wind. Am 7. Mai, kurz vor dem Höhepunkt der ersten Welle der Proteste in Deutschland, wurde der Titel nachträglich »präzisiert« und hieß fortan »Das Dilemma der WHO«. Dabei ist ein kritischer Blick auf die WHO heute wichtiger denn je. Das bedeutet nicht, teils abstrusen Theorien das Wort zu reden. Aber weil gerade einmal die »Falschen« durchaus richtige Aspekte der Kritik mit aufgreifen, wäre es fatal, diese nicht weiter zu thematisieren.
Zwangsläufige Interessenskonflikte
Es ist unerheblich, ob man Bill Gates wohltätige oder bösartige Motive unterstellt. Dass ein einzelner Mensch Kraft seines akkumulierten Kapitals einen solchen Einfluss auf die Weltgesundheit hat, ist mit demokratischen Prinzipien unvereinbar. Es ist auch ein Ergebnis der in der neoliberalen Ära beschleunigten Vermögenskonzentration. Das Problem dieses obszönen Reichtums liegt ja nicht nur darin, dass der Reichtum der einen die Armut der anderen bedingt. Er kann auch verwendet werden, um die Gesellschaft nach den eigenen Vorstellungen und Interessen zu formen. Und genau das können wir bei der Weltgesundheit beobachten. Fast alle großen Unternehmen unterhalten Stiftungen, die natürlich für einen guten Zweck gegründet werden. Dabei geht es jedoch primär darum, Politik und Gesellschaft im Interesse der Stiftungsgründer zu beeinflussen. Das Kapital der Gates-Stiftung von knapp 50 Milliarden Euro ist in Konzernen wie Coca-Cola, Walmart, Monsanto (seit 2018 Teil von Bayer), aber auch in der Rüstungs- und Pharmabranche investiert. So entstehen zwangsläufig Interessenskonflikte. Denn die Profitinteressen dieser Konzerne widersprechen gesundheitspolitischen Zielen fundamental. So macht die Stiftung auf der einen Seite Gewinne mit Produkten, die Krankheiten wie Diabetes verursachen, an deren Folgen weltweit rund vier Millionen Menschen pro Jahr sterben.
Der Journalist Thomas Kruchem fasste das Dilemma wie folgt zusammen: »Für die Gates-Stiftung heißt dies: Je mehr Profite die genannten Firmen machen, desto mehr Geld kann sie für die WHO ausgeben. Für die WHO heißt es: Mit jeder Maßnahme gegen gesundheitsschädliche Aktivitäten der Süßgetränke-, Alkohol- und Pharmaindustrie würde die WHO die Gates-Stiftung daran hindern, das Geld zu erwirtschaften, mit dem die Stiftung die WHO finanziert. Kurz, die Weltgesundheitsorganisation steckt in einem klassischen Interessenkonflikt.«
Der aktuelle Umgang mit der Corona-Pandemie ist auch deshalb so schwierig, weil die WHO bei der letzten Pandemie-Ausrufung vor Corona völlig daneben lag. Die im Vergleich zur jährlichen Grippewelle relativ milde H1N1-Influenza aus den Jahren 2009 und 2010 (sogenannte Schweinegrippe) wurde von der WHO zur Pandemie mit der höchsten der damals gültigen Pandemiestufen erklärt. In der Folge traten in fast allen Mitgliedsstaaten Pandemie-Pläne in Kraft und sie schlossen milliardenschwere Verträge mit Impfstoffherstellern. Im Ergebnis war die Einstufung der Schweinegrippe als Pandemie eine gigantische Fehleinschätzung. Die Welt wurde unbegründet in Panik versetzt, ein zweistelliger Milliardenbetrag an öffentlichen Mitteln wurde für Impfdosen aktiviert, von denen später ein wesentlicher Teil wieder vernichtet werden musste, und viele Menschen nahmen durch die Impfung Schaden. Vieles deutet darauf hin, dass der Einfluss privater AkteurInnen aus der Pharmaindustrie in der WHO dabei eine entscheidende Rolle spielte. In einer Resolution des Europarates vom Juni 2010 heißt es geradezu prophetisch: »Die Versammlung befürchtet, dass dieser Mangel an Transparenz und Rechenschaftspflicht dazu führen könnte, dass das Vertrauen in die Empfehlungen der wichtigsten öffentlichen Gesundheitseinrichtungen sinkt. Das könnte sich bei der nächsten Krankheit von pandemischem Ausmaß (…) als katastrophal erweisen.« Diese Warnung von 2010 sollte sich zehn Jahre später bewahrheiten. Zwar ist die Corona-Pandemie als ungleich ernsthafter einzuschätzen als die Schweinegrippe und bedarf international koordinierter Maßnahmen. Viele Worst-Case-Szenarien aus der Anfangszeit der Pandemie haben sich jedoch glücklicherweise als unrealistisch erwiesen.
Reform und Kontrolle
Beachtlich ist, dass die aktuelle Pandemie die Welt weitgehend unvorbereitet traf, obgleich die WHO 2018 vor einer neuen pandemischen »Krankheit X« warnte und etwa der Europarat 2016 auf eine Vorbereitung auf gesundheitliche Notlagen von internationaler Tragweite drängte. Auch verschiedene nationale Gesundheitsinstitute, wie im Jahr 2012 das deutsche Robert-Koch-Institut, legten Pandemieszenarien vor, die zumindest in Deutschland ebenso ignoriert wurden.
Bis Juni riet die WHO vom Massengebrauch von Masken ab, gleichwohl machten viele Länder ihren Gebrauch in der Öffentlichkeit zur strafbewehrten Pflicht. Dann änderte die WHO ihre Richtlinien und empfahl den Gebrauch in überfüllten öffentlichen Einrichtungen wie dem Öffentlichen Personennahverkehr. Zugleich warnte sie aber vor einem falschen Gefühl der Sicherheit. Es ist offensichtlich, dass die WHO in dieser Frage keine Orientierungsinstanz für die Staaten war. In der Frage der Grenzschließungen war die WHO hingegen von Beginn an klar und riet unmissverständlich davon ab, da diese mehr Schaden als Nutzen bringen würden. Doch der Appell verhallte weitgehend ungehört.
Insgesamt traf die Corona-Pandemie auf eine unvorbereitete Welt. Die wichtigste Gesundheitsorganisation, die WHO, ist stark unterfinanziert und abhängig von privaten AkteurInnen mit ihren eigenen Interessen und Prioritäten. Zu allem Überfluss wurde ihre Existenz vom neuen geopolitischen Großkonflikt zwischen den USA und China überlagert. Anfang Juli 2020 erklärten die USA ihren Austritt aus der WHO, der am 6. Juli 2021 wirksam werden würde.
Eine grundlegende Reform der WHO ist angezeigt. Im Ende Juni 2020 mit großer Mehrheit angenommenen Corona-Bericht für die Parlamentarische Versammlung des Europarates2 habe ich bezüglich der WHO mehrere Vorschläge auf diesen beiden Ebenen gemacht. Kernpunkte sind die Unabhängigkeit von freiwilligen, zweckgebundenen Beiträgen sowie eine wirksame und unabhängige, idealerweise parlamentarische Kontrolle der Organisation. Für den ersten Punkt müssten vor allem die Mitgliedsstaaten ihre Zahlungen massiv aufstocken. Zumindest auf EU-Ebene scheint sich diese Einsicht teilweise durchzusetzen.
Ob sich eine mögliche Reform in diese Richtung entwickeln lässt, hängt natürlich von vielen Faktoren ab. Nicht zuletzt davon, ob sich gewachsene weltweite Macht profitgetriebener AkteurInnen im Gesundheitswesen zurückdrängen lässt und ob die Welt in den nächsten Jahren überhaupt jene internationale Kooperationsbereitschaft entwickelt, die der Etablierung der WHO zu Grunde lag. Dass enorm viel gemacht werden kann, wenn der politische Wille da ist, hat die Reaktion auf die Corona-Pandemie gezeigt. Ob der politische Wille für eine grundlegende Reform der WHO zur Beseitigung der erwähnten Missstände bei den aktuellen EntscheidungsträgerInnen vorhanden ist, erscheint hingegen zweifelhafter.
1 Reddy, S., Mazhar, S. & Lencucha, R. (2018): The financial sustainability of the World Health Organization and the political economy of global health governance: a review of funding proposals. Global Health 14, https://doi.org/10.1186/s12992-018-0436-8
2 Für die Parlamentarische Versammlung des Europarates war ich Berichterstatter für einen Bericht mit dem Titel »Lehren für die Zukunft aus einer wirksamen und auf Rechte gestützten Reaktion auf die COVID-19-Pandemie«, der am 26. Juni 2020 angenommen wurde, siehe https://pace.coe.int/en/news/7938/covid-19-responding-to-the-next-pandemic-states-should-act-fast-and-comply-with-human-rights
Andrej Hunko ist Bundestagsabgeordneter in Deutschland für die Partei DIE LINKE. Er ist europapolitischer Sprecher seiner Fraktion sowie stellvertretender Vorsitzender der Linksfraktionen im Bundestag und in der Parlamentarischen Versamm lung des Europarates.