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Putins Reden haben sich in den letzten 20 Jahren nur scheinbar verändert. Diana Leah Mosser hat am Anfang und am Ende hingehört und fragt sich, von welcher Ideologie der russische Krieg getrieben wird.
Am 25. September 2001 hielt der junge Wladimir Putin als erstes russisches Staatsoberhaupt eine Rede vor dem Deutschen Bundestag. In dieser über weite Strecken auf Deutsch gehaltenen Rede beschrieb Putin den Niedergang der UdSSR als Folge der Entwicklung der Informationsgesellschaft und meinte, man könne nun behaupten, dass »niemand Russland jemals wieder in die Vergangenheit zurückführen kann«. Der Geist der Ideen von Demokratie und Freiheit hätte die überwiegende Mehrheit der russischen Bevölkerung ergriffen, und die totalitäre stalinistische Ideologie könne diesem Geist nicht mehr gerecht werden.
Das Ziel von Putins Rede war klar: ein Vertiefen der Beziehungen zwischen Deutschland und Russland. Es klang auch an, welche Beziehungen ihm dabei ein Hindernis zu sein schienen, etwa als er ausführte: »Niemand bezweifelt den großen Wert der Beziehungen Europas zu den Vereinigten Staaten. Aber ich bin der Meinung, dass Europa seinen Ruf als mächtiger und selbstständiger Mittelpunkt der Weltpolitik langfristig nur festigen wird, wenn es seine eigenen Möglichkeiten mit den russischen menschlichen, territorialen und Naturressourcen sowie mit den Wirtschafts-, Kultur- und Verteidigungspotenzialen Russlands vereinigen wird.«
Die transatlantische Orientierung der europäischen Wirtschafts- und Geopolitik scheint der russischen Politik bereits damals ein Dorn im Auge gewesen zu sein.
Putin beschrieb Russland als friedlich gesinntes, europäisches Land und nannte den stabilen Frieden als Hauptziel. Um einen »großen Mangel an objektiver Information über Russland« zu beheben, informierte er den Deutschen Bundestag darüber, dass das »Hauptziel der Innenpolitik Russlands […] vor allem die Gewährleistung der demokratischen Rechte und der Freiheit, die Verbesserung des Lebensstandards und der Sicherheit des Volkes« sei. Von der Verwirklichung dieser Hauptziele war allerdings schon in den Jahren unmittelbar nach dieser Rede nicht viel zu merken.
Gescheiterter Frieden
Man möchte fragen, was passiert ist, dass die Putin-Administration diese Hauptziele nicht nur verfehlt hat oder untergräbt, sondern sie mit brutaler Gewalt attackiert und – im Wortsinn – zerschießt. Jahrzehntelang bestand eine große Angst meiner Eltern (als Kind der 60er hat mein Vater 1978 den Wehrdienst absolviert) darin, dass Russland in Österreich, Deutschland und dem Rest Europas einfallen könnte. Die Worte des russischen Staatspräsidenten im neuen Millennium müssen eine Erleichterung gewesen sein. Aber jetzt?
Hat Putin die Europäer*innen von Anfang an getäuscht und belogen? Ist Europa auf »den Russen« hereingefallen? Liegt die große Errungenschaft der »beispiellos niedrigen Konzentration von Streitkräften und Waffen in Mitteleuropa und in der baltischen Region« (wie auch in Putins Rede zu hören war) gar nicht im dadurch erreichten Frieden, sondern in der schleichenden Entwaffnung der Europäischen Gemeinschaft? Sind das die Ängste, die unter führenden Politiker*innen und Journalist*innen nun zu einer besonders aufgeheizten Stimmung führen? Die Angst, dass man es hätte wissen müssen?
Aus meiner Sicht gibt es keinen Hinweis darauf, dass der ehemalige KGB-Agent sein Amt mit Kriegsplänen in der Tasche angetreten hätte. Selbst wenn ich mich nur sehr dunkel an die ersten Jahre seiner Amtszeit
erinnern kann: Ich sah von Anfang an keinen Grund, ihm zu trauen. Hat er nicht immer wie ein Autokrat gewirkt? Da war der Tschetschenien-Krieg. Dann der Einsatz im Dubrowka-Theater. Irgendwann habe ich aufgehört, Putin zuzuhören, weil er mir Angst machte.
Die letzte Rede
Erst nach dem Kriegsausbruch hörte ich wieder genauer hin bzw. las seine Rede an die Nation vom 21. Februar 2022. Dort beschreibt er die Ukraine als integralen Bestandteil der eigenen Geschichte, der russischen Kultur und des »geistigen Raums« Russlands. Ein Narrativ, das Putin bereits im Juli 2021 in einem Essay »zur historischen Einheit von Russen und Ukrainern« bedient hat. Unter ständigem Verweis darauf, dass man niemandem die Geschichte erklären müsse, weil sie so offensichtlich sei, gibt er einen sehr langen Einblick, wie er die ukrainische Geschichte sieht. Weltweit wurde kolportiert, dass Putin in dieser Rede das Existenzrecht der ukrainischen Nation geleugnet habe. Dass sich seine Suada allerdings über weit mehr als dreißig Absätze erstreckte, ist eine Dimension, die in keinem Nachrichtenüberblick Platz fand. Putin sprach wie ein Familienoberhaupt, das den Angehörigen erklärt, warum man seine Familie schlagen müsse – niemand will hinhören, weil allen klar ist, dass dieses Arschloch einfach tut, was es für richtig hält. Aber anscheinend sind die Ausführungen ein Element der Selbstbestätigung, ein Teil der Züchtigung als Machbeweis. Eine Mischung aus Geschichtsklitterung und Gaslighting.
Heilige Allianz
Vielleicht mag es keine Anzeichen dafür geben, dass Putin sein Amt bereits mit dem Vorhaben angetreten hat, Russland zu vergrößern. Allerdings fallen seit 2008 Ideologen aus seinem Umfeld immer öfter mit invasorischen Ideen auf, die Putins Politik unterfüttern. Spätestens ab 2014 wurden Behauptungen lauter, dass Alexander Dugin – ein Ideologe, auf den sich damals sowohl Identitären-Chef Martin Sellner als auch HC Strache, später auch Jürgen Elsässer, positiv bezogen – ein wesentlicher Wortgeber Putins sei. Manche erinnern sich vielleicht an die Pressekonferenz der »heiligen Allianz«: Ende Mai 2014 trafen sich hier Alexander Dugin, Heinz Christian Strache, Marion Marechal-Le Pen und andere Rechtsradikale im Palais Liechtenstein, wo Dugin ein europäisch-asiatisches Bündnis unter Führung Russlands bewarb.
Le Monde diplomatique vom 12. Juni 2014 beschreibt Dugins Ideologie vom Neo-Eurasismus als »transkontinentale Allianz der ›Traditionen‹ – bei aller Anerkennung der Unterschiede. Das ›Große Europa‹ darf dieser Allianz beitreten, nachdem es sich von der amerikanischen Bevormundung befreit hat.« Dugins Neo-Eurasismus ist anschlussfähig an die Ideen der neuen Rechten in Europa, enthält aber auch Elemente der deutschen Konservativen Revolution, die zumindest öffentlich nicht als Versatzstücke neofaschistischer Ideologie bekannt sind. Im Buch »Eurasien über alles« schreibt Dugin: »Das eurasische Ideal ist der mächtige, leidenschaftliche, gesunde und schöne Mensch, und nicht der Kokainsüchtige, der Bastard aus weltlichen Diskos, der asoziale Kriminelle oder die Prostituierte.« So richtig ernst wurde Dugin allerdings nie genommen. Man war nur immer aufs Neue überrascht, wenn einmal sein Name in einer Hintergrundanalyse auftauchte.
Geht man davon aus, dass Putin die Dinge, die er in seinen Ansprachen sagt, nicht nur instrumentalisiert, sondern auch glaubt, dann wäre er der mächtigste Vertreter des Neo-Eurasismus.
Seit wann Putin Ideen von Alexander Dugin aufgreift, lässt sich nicht wirklich beantworten. Bei seiner Rede vor dem Deutschen Bundestag im Jahr 2001 äußerte er sich aber zur europäischen Sicherheitspolitik mit folgenden Worten: »Ohne eine moderne, dauerhafte und standfeste internationale Sicherheitsarchitektur schaffen wir auf diesem Kontinent nie ein Vertrauensklima und ohne dieses Vertrauensklima ist kein einheitliches Großeuropa möglich.«
Wir sollten Putin kein Vertrauen mehr schenken. In den unzähligen Analysen zu möglichen russischen Plänen in der Ukraine versuchen wir oft wirtschaftliche und geopolitische Interessen nachzuvollziehen. Während wir uns über den kapitalistischen und neokolonialen Hintergrund von NATO-Einsätzen und Erweiterungen einig sind, fällt uns die ideologische Einordnung russischer Expansion immer noch schwer.
Angesichts des Krieges ist es schwer, einen kühlen Kopf zu bewahren. Noch schwerer ist es, Hoffnungen zu hegen. Ein Versuch dies dennoch zu tun.
Von Frank Jödicke
Allerorten gibt es erfreuliche und bewegende Solidaritätsbekundungen mit der Ukraine – einem Land, das unter falschem Vorwand von seinem Nachbarn Russland überfallen worden ist. Die Lage von Wien aus zu beurteilen wäre allerdings vermessen, deshalb ist die individuelle Gefahreneinschätzung vor Ort zu würdigen. Wer sich entscheidet zu kämpfen, dem/der gebührt Achtung und Unterstützung, allerdings nicht notwendigerweise mit kriegerischen Mitteln. Ebenso sind jene zu unter-stützen, die fliehen, und sie sollten die größtmögliche Solidarität in Österreich erfahren. Die Waffe wegzuwerfen kann die richtige Entscheidung sein, auch beim Kampf gegen das »Monster Putin«, denn der Krieg kennt nur Verlierer*innen.
Eben diese allgemeine Niederlage des Krieges an sich wird gerne ausgenutzt. Langgehegte und gut versteckte Agenden kommen auf den Tisch und werden mit bellizistischem Brimborium präsentiert. Widerspruch verboten! Endlich mehr Geld für‘s Militär, für »Abschreckung«, und obendrauf finden sich haufenweise Belege für die eigenen Ressentiments. So weit, so ärgerlich. Das ist aber nicht alles. Es gibt die zarten Pflänzchen des Guten, und die gilt es jetzt zu nähren. Österreich hat beispielsweise die Chance, seinen strukturellen Rassismus zu überwinden.
Rassismus »unten«
Plötzlich ist vieles möglich geworden: Jener Bundeskanzler und jener Außenminister, die sich mit Härte gegen Flüchtlinge einen Namen gemacht haben, sind nun bereit, die Türen zu öffnen für die »Vertriebenen« aus der Ukraine. Kostenlose Zug- und U-Bahntickets stehen ihnen ebenso zur Verfügung wie der unbürokratische Eintritt in die Grundversorgung. Wunderbar! Bundeskanzler Karl Nehammer merkt dann selbst, wie dünn das Eis ist, auf dem er läuft, wenn er von der »europäischen Familie« redet, die jetzt zusammenhalten müsse.
Was an der Ukraine schützenswert ist, ist gerade die bewiesene Fähigkeit, nicht nur ethnische »Familie« zu sein, sondern eine plurale Gemeinschaft. Im »Ukraine-Center« in Wien sind auch Muslimas mit Kopftuch zu sehen. Ihr Leid ist das gleiche. Das offizielle Österreich scheint dies zu spüren, der Dünnpfiff à la »unsere Kultur bewahren« wird gerade runtergeschluckt. Hoffentlich bleibt dies so.
Wer jetzt Herz und Hirn öffnet, wird einräumen, dass es Unsinn ist zu glauben, aus Kyjiw würde vertrieben und aus Kabul würde geflohen. Jetzt gilt es eine weltweite Verantwortung endlich ernst zu nehmen. »Gebt mir Eure Müden, Eure Armen, Eure geknechteten Massen…« Es stünde Österreich gut zu Gesicht und es scheint nun möglich. Hier wäre die »aktive Neutralität« in schönster Ausprägung zu nutzen. Eine
Neutralität, die sich erlaubt daran zu erinnern, dass der Krieg im Jemen ebenso schlimm ist wie jener in der Ukraine.
Österreich steht eine harte Zeit bevor. Die Energiepreise werden steigen. Wer jetzt versucht, wie etwa der englische Premier Boris Johnson, bei den Saudis anzuläuten, tauscht Pest mit Cholera. Saudiarabien ließ zur Begrüßung Johnsons mehr als 80 Menschen ermorden, um unmissverständlich klar zu machen, dass es mit den Abnehmer*innen billigen Öls keinen Diskurs über Menschenrechte führen werde. Waffen aus den USA und der EU töten in den zynisch »Operation Restoring Hope« genannten Bombardements im Jemen. Jetzt, nachdem der Krieg nur mehr vier Autostunden von Wien entfernt ist, wäre der Zeitpunkt gekommen, das Geschäftsmodell Waffen gegen Energie zu überdenken, das die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel in Putin’scher Wahrheitsverdrehung als »Export von Verantwortung« bezeichnet hat.
Rassismus »oben«
Die Überwindung des Rassismus sollte aber unbedingt auch in der Upperclass gelingen. Interessierte Beobachter*innen durften »Bauklötze staunen« über die Sanktionsmaßnahmen in Folge des Überfalls auf die Ukraine. Politisch gesehen sind sie vermutlich wirkungslos, weil sie dem Machthaber Putin den Beleg liefern, dass »der Westen« gegen Russland sei. Den »Bösewichten« spielen Sanktionen immer in die Karten, weil sie gut einsetzbar sind für nationalistisches Getöse.
Sie sind aber grundsätzlich richtig und müssten nur von dem ihnen anhaftenden Rassismus befreit werden. Es sind nicht die russischen Oligarch*innen das Problem, sondern die Oligarch*innen an sich. Nur die »Russen« zu enteignen ist falsch, denn warum nicht auch die ukrainischen Oligarch*innen? Die österreichischen, die deutschen usw.? Das wäre ein ungeheurer Gewinn für das Gemeinwesen.
Nun ist »Enteignung« ein hässliches Wort und in der Sache völlig unnötig. Mit dem Ukraine-Krieg zeigte sich, was zuvor als unmöglich galt: Auslandsvermögen lassen sich aufspüren, die Immobilienbesitzverhältnisse sind – trotz unzähliger Shelf Companies – selbst in Belgravia zu eruieren, und sogar Superyachten lassen sich beschlagnahmen. Ist dies nicht großartig? Ist hier nicht der Vorschein einer besseren Welt im dunkelsten Kriegselend zu erahnen?
Angeblich ist (oder war?) die größte Yacht in weiblichem Privatbesitz jene der österreichischen Oligarchin Heidi Horten. Nicht einmal die schlichtesten Naturen in der Österreichischen Volkspartei glauben, dass Horten die Yacht mit eigener Hände Arbeit und im Schweiße ihres Angesichts erwirtschaftet hat. Die Milliardenvermögen in Österreich, der Ukraine und Russland speisen sich meist aus den gleichen Quellen: Ausbeutung, Betrug, Diebstahl, nicht selten sogar Mord. Russische und österreichische Oligarch*innen sind in den gleichen Firmengeflechten miteinander verstrickt.
Jetzt wäre der Zeitpunkt, diese Geflechte aufzuschlüsseln. Eine weltweite Finanzregistrierung ist technisch möglich, und der politische Wille könnte durch das Kriegselend und die multiplen Krisen unserer Tage endlich gegeben sein. Es muss aufgezeigt werden, wer und womit welche Gelder lukriert und überprüft werden, inwieweit dieser Besitz legal ist. Wohlgemerkt legal innerhalb der bereits bestehenden Gesetze. Welche Steuern wurden möglicherweise umgangen und müssen nachgezahlt werden, und welcher Besitz ist rundweg illegal. Dieser gehört dann tatsächlich auch enteignet.
Klimakrise, Ukrainekrieg, Energienotstand und Covid-Pandemie. Es gibt genü-gend Kosten, die beglichen werden müssen. Jetzt sollten die Oligarch*innen aller Länder energisch zur Übernahme von Verantwortung gebeten werden. Gleichzeitig sollte den Geflüchteten unabhängig von Hautfarbe und kulturellem Hintergrund geholfen werden. Dann würde aus dem sinnlosen Elend des Kriegs Sinnvolles erwachsen können.
Frank Jödicke ist Chefredakteur des Magazins skug. In der Sommerausgabe 2021 der Volksstimme berichtete er über die Auflösung von Wien ANDAS.
Differenzierungen von Eva Brenner
Jetzt wird gehetzt, gegen russische Künstler*innen, Kunst und Kultur. Es ist Krieg und (fast) alle machen mit. Auch die Meinungsmacher*innen in Kunst und Kultur. Selbst klassische russische Werke wie Stücke von Anton Tschechow werden an deutschen Bühnen abgesetzt; man bereinigt die Spielpläne westlicher Theater. Der russische Maestro Valery Gergiev wird Putins »Hofkapellmeister« genannt. In München ereilte ihn ein Ultimatum, »Putins Invasion in der Ukraine anzuprangern, aber er reagierte nicht«. So heißt es lapidar in der medialen Berichterstattung. Es herrscht cancel culture pur.
Was steckt dahinter? Wird gerade das Verhältnis von Kunst und Politik neu abgesteckt? Fallen wir kollektiv in die schlimmsten Zeiten des Kalten Krieges zurück? Die FAZ schreibt in einer hellsichtigen Kritik der antirussisch-bellizistischen Sprache, dass »nach den Jahren des Zauderns [...] Entschlossenheit und Klarheit in der Außen-, Wirtschafts- und Kulturpolitik zu begrüßen« seien. »Doch dort, wo die neue Entschlossenheit in eine blinde Kampfansage gegen alles Russische zu kippen droht, ist sie falsch«, heißt es da weiter. Berichtet wird auch über die Androhung, ein Dostojewski-Seminar an der Universität Mailand-Bicocca zu verschieben, was nach Protesten rückgängig gemacht werden musste. Dennoch zeige der Vorfall, »wie die Logik des Kriegs unsere kulturellen Fundamente auszu-höhlen droht – jene, für deren Verteidigung die ukrainische Bevölkerung vor unseren Augen ihr Leben aufs Spiel setzt –, wenn sie jetzt reflexhaft und ohne Differenzierung auf alles übertragen wird«. Ukrainische Künstler*innen an deutschen Theatern weigern sich, in russischen Werken aufzutreten. Das Filmfestival Cannes will künftig keine russischen Filme willkommen heißen, solange der Krieg nicht beendet ist.
Scheinheilige Debatte
An der Spitze der anti-russischen Diskriminierung stehen Stars der Opern-, Tanz- und Konzertwelt, so genannte Putin-Freund* innen wie besagter Dirigent Gergiev oder die österreichisch-russische Operndiva Anna Netrebko. Grausliche Bilder gemeinsamer Auftritte aus der Vergangenheit zieren den Boulevard; berühmte Stars Hand in Hand oder in Begleitung des russischen Diktators machen die mediale Runde. Die ideologische Unterwerfung einzelner Künstler* innen unter das autoritäre Putin-Regime im Gegenzug für Karriere, Macht und Geld kann jedoch die Hetze gegen die gesamte russische Kunstwelt, deren Mehrheit aus kaum bis wenig bekannten Künstler* innen besteht, nicht wettmachen. Karrierist*innen und Komplizen der Macht gibt es viele, sie sind überall zu Hause, auch in der westlichen Demokratie, dort walten bloß andere Spielregeln und Mechanismen, die ungleich schwerer zu durchschauen sind. All das wird in der propagandistischen Kriegs-Kultur-Debatte tunlichst verschwiegen.
Opern- und Konzerthäuser von Mailand über München bis New York laden russische Künstler*innen aus, Theater sagen fertige Vorstellungen ab, gefeierte Solotänzer*innen verlassen ihre Compagnien, betroffen sind unter anderem das Bolschoi-Ballett in Moskau oder das
Mariinsky-Theater in St. Petersburg. Diese scheinheiligen Überreaktionen des Kunstbetriebs kennen keine Grenzen. Wir wissen von ähnlichen Fotos westlicher Politik mit Wladimir Putin und seinen Gefolgsleuten, die von der engen Verzahnung zwischen Europas Eliten und der russischen Wirtschaft zeugen. Sie haben nicht annähernd dieselbe öffentliche Wirkung.
Was also ist los im konfliktreichen Verhältnis zwischen Kunst und Politik? Nachdem es in der rezenten, postmodern entpolitisierten Vergangenheit außerhalb akademischer Kreise kaum Thema war, rückt es schlagartig wieder in den Mittelpunkt der Kulturdebatten. Netrebko nennt sich beharrlich unpolitisch, ruft auf zum Frieden, aber distanziert sich nicht von Putin, sie zieht es vor, sich gekränkt-schmollend aus dem Gesangsleben zurückzunehmen, ein wohl vorübergehender Entschluss. Gergiev kündigt Frie-denskonzerte in Moskau an, während der Krieg gerade Fahrt aufnimmt, nachdem er als Chefdirigent der Münchner Philharmonie gefeuert wurde.
Eine in Wien lebende ukrainische Künstlerin, deren Familie derzeit im umkämpften Kiew ausharrt, zeigt Verständnis, dass die Aufmerksamkeit in dieser Krise nicht der Kunst, sondern dem Militär gelten müsse. Dariia Kuzmych erfuhr in Wien vom Krieg in ihrer Heimat, die Weltkunst berichtete. Ihre Antwort auf die Frage, ob sie schon eine Vorstellung habe, was der Krieg für die ukrainische Kunstszene und ihre Freiheit bedeutete, mutet verstörend an: »Es geht jetzt erst mal um die Armee. Sie kommt jetzt an erster Stelle. Die Armee und die Menschen. Die Kunst kommt später. Auch in der Kunstszene hatten wir vor dem Krieg komische Kämpfe und Auseinandersetzungen, aber jetzt ist das völlig egal!«
Unpolitische Kunst?
Grundsatz jeder Betrachtung aus marxistischer Sicht ist das Diktum, dass Kunst nicht außerhalb von Politik und Machtverhältnissen existiert, nicht außerhalb von Geschichte und Klassenkampf produziert und rezipiert werden kann. Denn die herrschende Kunst ist – wie das mit den Gedanken so ist – immer die Kunst der herrschenden Klasse. Entscheidend ist nicht die Nationalität, Herkunft oder kulturelle Tradition der einzelnen Künstler*innen, sondern deren Position im aktuellen Kunstbetrieb und die Wertehaltung, die je im Kunstwerk zum Ausdruck gebracht wird. Entweder es ist Kunst von unten, aus der Perspektive und im Interesse der unterdrückten Mehrheit, oder es ist Kunst von oben, die den Eliten zuarbeitet und den gesellschaftlichen Status quo affirmiert. Daran kann keine individuelle, gut gemeinte Behauptung, unpolitische Kunst zu machen, etwas ändern. So viel, so verständlich.
In einer Diktatur ist das historisch belastete Verhältnis zwischen Kunst und Politik um einiges schwieriger zu definieren, weil Künstler*innen ohne Nähe zum autoritären System bzw. ohne Privilegien kaum Chancen auf Verwirklichung ihrer Arbeit eingeräumt werden. All diese komplexen Relationen fallen bei der derzeitigen kriegsrhetorischen Kulturdebatte unter den Tisch. Plötzlich soll nur mehr die Nationalität zählen – wo doch gerade Künstler*innen und Wissenschaftler*innen, die sich zumeist bewusst kosmopolitisch, keiner einzelnen kulturellen »Heimat« verpflichtet positionieren, Bindung an eine bestimmte Nationalität ablehnen. Die gegenwärtig stattfindende Ausgrenzung russischer Künstler*innen aus dem Diskurs und Arbeitsleben sowie die damit einhergehende Verengung des Blicks auf historisch immer schon prekäre Abhängigkeiten von Künstler*innen vis-á-vis der Macht muss durch eine informierte, politisch weitsichtige Debatte ersetzt werden, die ohne Schuldzuweisungen und erzwungene Offenbarungseide auskommt. Der unerträglich nationalistische Diskurs, der russische Künstler*innen wie Wissenschaftler*innen, mit denen zahlreiche internationale Kooperationen ausgesetzt werden, samt und sonders in Geiselhaft nimmt, die in Russland lebenden sowie die in der Diaspora, muss umgehend eingestellt werden. Das unwürdige Schauspiel geschieht mit keinem anderen Berufsstand. Das darf nicht zugelassen werden!
Ohne Frieden ist alles nichts. Ein Frieden durch Krieg auch nicht. Von Bärbel Danneberg
Zwei Jahre vor dem Ende des Zweiten Weltkriegs geboren, wird mir das Glück bewusst, in der längsten Friedensperiode der Nachkriegszeit gelebt zu haben. Kriege rundum, ja sicher, überall, aber doch nicht hier bei uns! Und nun – die Morgennachrichten an diesem 24. Februar 2022 springen wie eine Kompassnadel in mir an: Russland hat die Ukraine militärisch angegriffen. Das ist der zweite Krieg auf europäischem Boden nach 1945. Manche fragen, ob es ein Dritter Weltkrieg werden wird. Angst. Russland hat Atomwaffen. Putin ist unberechenbar. Ebenso wenig vertraue ich dem Schulterschluss des kapitalistischen Westens mit den Embargos und Sanktionen und den zwischen Ost und West stationierten NATO-Raketen. Ein neuer Kalter Krieg und eine neue Runde des Wettrüstens beginnt.
Der erste Krieg auf europäischem Boden nach 1945 begann 1991 im ehemaligen Jugoslawien. Diese Fernsehbilder sind bei mir eingebrannt: der Flüchtlingsstrom über die bosnischen Berge, alte Frauen, die schwere Rucksäcke schleppen, Mütter mit ihren Säuglingen am Körper, Enkelkinder, die ihre alten Großeltern über die Berge in Sicherheit bringen wollen. Der Krieg mit mehr als 200.000 Toten, mit mehreren Millionen Geflüchteten und Vertriebenen hat nach zehn Jahren geschürter Feindschaft zwischen den ethnischen Gruppen traurige Geschichte in diesem bei uns so beliebten Urlaubsland geschrieben. Seine Folgen reichen in die Gegenwart.
Und jetzt das gleiche Bild aus der Ukraine: die größte Fluchtbewegung in Europa seit 1945.
Flucht bewegt
»Kein Blut für Öl«, hatte sich die Friedensbewegung in Österreich beim ersten Golfkrieg empört. Um die Durchfahrt von österreichischen Bergepanzern aus dem neutralen Österreich ins Kriegsgebiet zu verhindern, legten sich Friedensaktivist* innen auf die Schienen. Krieg ist uns wesensfremd, dachte ich, und vergaß dabei die Geschichte unserer Väter, Großväter, Urgroßväter. Kriege gehören ins Museum, wirbt das Militärhistorische Museum. Ich habe einen Krieg, meine ersten zwei Lebensjahre ausgenommen, noch nie am eigenen Leib erlebt. Doch noch heute versetzen mich Sirenen wie die mittäglichen in Niederösterreich innerlich in Aufruhr, noch heute habe ich die Bilder vom Bombenschutt meiner ersten Lebensjahre im Kopf und ich kann Hunger erinnern.
Kein Blut für Gas, sage ich heute. Der moralische Kompass, dass nichts einen Krieg rechtfertigt, den Unschuldige ökonomisch und mit dem Leben bezahlen müssen, gilt für mich damals wie heute. Als 2015 spontan eine Welle der Solidarität für jene Menschen entstand, die aus ihren Kriegsgebieten im Irak, in Syrien, aus Afghanistan, aus einem Land Afrikas oder aus den kurdischen Gebieten flüchten mussten, war ich stolz auf die Menschen in Österreich. Offene Arme – wie auch damals
nach dem Putsch in Chile! Angela Merkels »Wir schaffen das« hat mich überzeugt vom guten Willen auch jener, die politisch woanders als ich stehen und die »Liebe deinen Nächsten wie dich selbst« als christlichen Wert ernst nahmen. Das Bild von dem kleinen Buben in Turnschuhen, der im Mittelmeer auf der Flucht ertrunken ist, hat die Welt bewegt.
Wann war der Kipppunkt, dass Hilfsbereitschaft in Hass umschlug? Waren es die Silvester-Ereignisse 2015 in Köln? Die Kürzungen im Sozialbereich? Die sich häufenden Medienkampagnen von angeblichen »Sozialschmarotzern«? War es die neoliberale Umgestaltung der Wirtschaft oder die Veränderung der politischen Landschaft durch Regierungsbeteiligungen von Rechts-extremen in europäischen Parlamenten, die als Brandbeschleuniger für Fremdenfeindlichkeit wirkten? Das Ensemble gesellschaftlicher Verhältnisse hat auch die türkis-blaue und danach die schwarz-grüne Koalition und deren ÖVP-Innenminister, der heute Bundeskanzler ist, nicht davon abgehalten, Flüchtende durch Push-backs wieder zurück ins Mittelmeer zu treiben und die Schengen-Außengrenze als Todesgrenze zu akzeptieren.
Was bewegt die Welt?
Der größten Fluchtbewegung nach dem Zweiten Weltkrieg wird gegenwärtig mit Solidarität und Eigeninitiative begegnet. Eine Freundin richtet gerade eine Unterkunft her für Vertriebene aus Minsk, meine Enkelkinder überlegen, wie wir in unserer Wohnung zusammenrücken können, Handy hotlines dirigieren Hilfsgüter. Und selbst Länder wie Polen mit eineinhalb Millionen geflüchteter Menschen oder Ungarn und andere ehemalige »Ostländer«, die sich bisher der Aufnahme von Migrant*innen versperrt haben, haben jetzt ihre Grenzen geöffnet. Auch Österreich vollbringt bislang Ungeahntes, etwas, worum Hilfsorganisationen bisher vergeblich gekämpft haben: »Temporärer Schutz« wird den aus der Ukraine Geflüchteten gewährt. Sie werden nicht abgeschoben und können ohne aufwändige Formalitäten hier arbeiten. Ob das für alle Geflüchteten gilt? Diese Frage hat ÖVP-Integrationsministerin Raab bisher nicht beantwortet.
Ist mit der russischen Invasion ein neues Verständnis von der Unteilbarkeit der Menschenrechte entstanden? Hat sich die Gesellschaft nach der Spaltung durch Pandemie, Lockdowns oder Impfpflicht einer neuen Menschlichkeit besonnen? »Krieg ist Krieg und Mensch ist Mensch« war der Slogan auf der Demonstration am 13. März in Wien. Ich wünschte, dass eine neue Ära des Miteinanders begonnen hat.
Meine Skepsis aber ist groß. Welcher Kipppunkt für eine Schubumkehr der Hilfsbereitschaft könnte es diesmal sein? Die soziale Not steigt parallel zu den Preis erhöhungen. Aufrüstung, Embargos, Mangel an Rohstoffen, Energieknappheit oder Umweltsünden durch »sauberen Atomstrom« werden vom Großteil der Bevölkerung bezahlt, während die Profite der Waffen- und Rüstungsindustrie ebenso unangetastet bleiben wie die Gewinne aus Wäh-rungsspekulationen. Der Krieg wird den Reichtum eines kleinen Teils der Menschheit weiter vermehren und die Armut für den größeren Teil steigern. Ist das, was wir gerade erleben, die zweite Seite einer gleichen Medaille? Ist die Logik von russischen Oligarchen und kapitalistischen Offshore-Haien wesensverwandt?
Die Nord-Atlantische Vertragsorganisation NATO, konzipiert als antisowjetisches Kriegs- und Verteidigungsbündnis, hat sich nach dem Fall des Eisernen Vorhangs entgegen den Versprechen zum Vereinigungsvertrag nicht aufgelöst, sondern sie hat sich mit der Osterweiterung raketenbestückt wie eine Fessel um die frühere Sowjetunion gelegt. Das Wettrüsten bis ins Weltall ging ungehindert weiter. »Dass der Westen den konzeptuellen Russen auch nach dem Untergang der Sowjetunion als das dämonisierte Andere zu brauchen scheint, um sich als das Happy End der Geschichte zu glorifizieren, verleitet diese Linke, deren Geschäft eigentlich die Kapita-lismuskritik sein sollte, dazu, eine Bande autokratischer kapitalistischer Banditen in Moskau zu verniedlichen«, schrieb Richard Schuberth bereits vor acht Jahren in der Volksstimme (Nr. 4/2014).
Was wird mit dieser Welt? Ich weiß es nicht. Ich möchte meinen moralischen Kompass nicht verlieren, der mir sagt, dass ohne Frieden alles nichts ist.
Kommentar von Barbara Steiner
Sanktionen müssen die Richtigen treffen, schrieb der französische Wirtschaftswissenschafter Thomas Piketty in einem Kommentar schon vor dem Überfall auf die Ukraine. Er weist darauf hin, dass es Oligarch*innen nicht nur in Russland gibt, sondern auch im Westen. Also nicht nur in so genannten Autokratien, sondern auch in Demokratien. Im finanzkapitalistischen Agieren und im Schutz von Kapitalinteressen sind sich diese Systeme sehr ähnlich, was gerne verschleiert wird. Oligarch* innentum, Steuerhinterziehung und Geldwäsche gelten oftmals nur als Phänomene von rückständigen und autoritären Staaten: Ein sehr nützlicher Rassismus.
Enteignet die Oligarchie und nicht das Volk!
Hinter dem Krieg steht das System Putin und nicht nur ein einzelner pathologisch, psychopathischer Führer. Wer profitierte in Russland am meisten vom radikalen Konservatismus der letzten 20 Jahre? Die 20.000 reichsten Russ*innen mit einem Vermögen über zehn Millionen Euro. Die Hälfte ihres Vermögens ist in Europa geparkt. Sie – so schlägt Piketty vor – sollten mit 20 Prozent besteuert und der Rest des Vermögens eingefroren werden. Dazu bräuchte es aber eine Transparenz hinsichtlich Vermögen und Wertpapierkäufe. Dies wünschen aber die westlichen Vermögenden und ihre Politiker*innen nicht, da dann ihre Steuerhäfen, Geldwäschen und Vermögenskonstellationen ebenso transparent werden würden.
Westlicher Rassismus
Offenen staatlichen Rassismus sehen wir an den Außengrenzen der EU. Das EU-Grenzre¬gime behandelt Geflüchtete mit zweierlei Maß. Ukrainische Staatsbürger*innen sind willkommen – die Frage ist, für wie lange und ob ihnen tatsächlich ein Leben in Würde ermöglicht werden wird oder ob sie zu ausbeutbaren Arbeitssklaven gemacht werden. Geflüchtete aus dem Jemen, Syrien, Irak und Afghanistan hingegen sind nicht willkommen. Sie leiden unter der Gewalt der Grenzpolizei, hungern, frieren, sterben an der belarussischen und bosnischen Grenze und ertrinken im Mittelmeer und werden illegal zurückgeschoben (Push-Backs). Von großer Dringlichkeit ist zudem, Desertion auf beiden Seiten als Fluchtgrund anzuerkennen. Heldenhaft sind diejenigen, die sich weigern zur Waffe zu greifen und andere zu töten.
Die Waffen nieder
Aufrüstung und Militarisierung verhindern keinen Krieg. Dies ist eine völlig falsche Reaktion auf die bisherigen Ereignisse. Anstatt unsere Gesellschaften friedensfest zu machen, mit sozialer, ökonomischer und ökologischer Grundsicherung, Bildung, Gesundheit und Kultur für alle, drohen durch erhöhte Militärausgaben Kürzungen und Austerität.
Jede Waffenlieferung verlängert den Krieg, jeder weitere Tag mit Kämpfen erhöht die Opferzahl und die Verluste. Es muss alles getan werden für einen sofortigen Waffenstillstand. Die Lösung wird – tausende Tote früher oder später – am Verhandlungstisch und eine politisch-diplomatische sein müssen.
Notwendig ist eine europäische Sicherheitsarchitektur, einschließlich Russlands. Es braucht eine europäische Friedenskonferenz und ein nuklearwaffenfreies Mitteleuropa und eine globale Abrüstungsoffensive. Und es braucht die Abschaffung des tödlichen Grenzregimes, eine Evakuierung, Familienzusam¬menführung und freie Wahl des Ziellandes, Aufnahme, Absicherung und Integration von Geflüchteten.
Ich möchte auf das Manifest für den Frieden von transform! europe hinweisen, das in verschiedenen Sprachen vorliegt (www.trans¬form-network.net) und eine mögliche Strategie für den Frieden aus linker Perspektive skizziert.
Was macht ein Lied revolutionär? Ist es der Inhalt, der vielleicht klassenkämpferisch den Kapitalismus anprangert und für eine bessere Welt kämpft? Ist es die Verwendung, wenn ein Lied zum Beispiel oft von sozialen Bewegungen gesungen wurde? Oder ist es vielleicht einfach eine Frage der Interpretation und der Kontextualisierung? Diese Fragen stelle ich mir seit einigen Jahren, seitdem ich regelmäßig als jiddische Revolutionssängerin auf Konzertbühnen und Demopritschen stehe. Tatsächlich gibt es auf diese Frage keine einfache Antwort: Revolutionär ist nicht unbedingt ein fixes Attribut eines Liedes. Was revolutionär ist für wen, wo und wann ist nun Mal Ansichtssache. Und was den einen als revolutionär gilt, ist für Frauen*, Lesben, Inter-, nicht binäre und Transmenschen (FLINT) eventuell etwas anderes. Von Isabel Frey
Überrepräsentation der Männer
Als ich begann, jiddische Revolutionslieder einzustudieren und zu singen, waren das erstmal Arbeiter*innen- und Widerstandslieder. Angefangen von Mordechai Gebirtigs »Arbetlose Marsch«, über die sozialistischen Kampflieder von David Edelshtat, bis hin zu den Partisanenliedern von Hirsh Glik – alles was kämpferisch, widerständig und jiddisch war, gefiel mir und kam in mein Repertoire. Für mich als säkulare Jüdin, die aber gleichzeitig stark in der aktivistischen Linken politisiert worden ist und dadurch auch eine kleine Iden-titätskrise erlebte, waren diese Lieder ein Anker für ein neues politisch-kulturelles Selbstverständnis: Dass es möglich ist, mich in die lange Tradition der jüdischen Linken einzufügen und sie auch in der heutigen Zeit weiterzutragen.
Doch als überzeugte Feministin stieß ich relativ schnell auf Probleme in meiner Repertoireauswahl: Ich hatte kaum Lieder, die von Frauen* und aus der Perspektive von Frauen* geschrieben worden waren. Die Liste der Komponisten der Arbeiter* innen- und Protestlieder aus dem späten 19. und frühen 20. Jahrhundert war ausschließlich männlich – was natürlich die Überrepräsentation von Männern in der Arbeiter*innenbewegung dieser Zeit widerspiegelt. Wenn dann doch ein Lied dabei war, dass die Beteiligung von Frauen* in der sozialistischen Bewegung thematisierte, war das oft eindeutig aus einer männlichen Perspektive mit etwas bevormundenden Untertönen geschrieben.
Ein Beispiel dafür ist das Lied »Arbeter Froyen«, (Jiddisch für »Arbeiter Frauen«, geschrieben vom ausgewanderten russischstämmigen Anarchisten und Publizisten David Edelshtat, der eine Art Volksdichter für die jiddische Arbeiter*innenbewegung in den USA war. »Arbeiter Frauen, leidende Frauen, Frauen, die in Haus und Fabrik schmachten // Was steht ihr herum, warum helft ihr nicht mit den Tempel von Freiheit und menschlichen Glück aufzu-bauen?«, lauten die ersten Verse des 1891 verfassten Liedes. Was für manche wie eine feministische Hymne der Arbeiter*innen bewegung klingt, klingt für andere eher wie patriarchale Bevormundung und eine Verhöhnung des tatsächlichen Mitwirkens von Frauen* in sozialistischen Kämpfen. Warum sollten Frauen* eine Einladung von Männern brauchen, um sich der Bewegung zu ihrer eigenen Befreiung anzuschließen? Nach heutigen feministischen Standards, wäre Edelsthats Lied wohl des »Man splainings« beschuldigt worden. Trotzdem muss man ihm zugestehen, dass es eines der wenigen Arbeiter*innenlieder aus dieser Zeit ist, die überhaupt die Beteiligung von Frauen* thematisieren.
Zwischen den Zeilen lesen
Zufriedengeben konnte ich mich als Musikerin mit diesen feministischen Bröserln allerdings nicht. Ich musste einen anderen Weg finden, um meinem Repertoire an jiddischen Revolutionsliedern einen feministischen Einschlag zu geben. Zuallererst kam ich drauf, dass doch viel mehr jiddische Lieder von Frauen* geschrieben worden waren, nur die Namen dieser Komponistinnen sind oft nicht bekannt und werden daher als anonym verfasste »Volkslieder« klassifiziert. Doch der Großteil der jiddischen Volkslieder sind Lieder, die in traditionellen Gemeinschaften (wie es kleine jüdische Ortschaften in Osteuropa eher waren) eindeutig der sozialen Sphäre der Frauen* zugeteilt waren: Liebeslieder, Wiegenlieder, Kinderlieder, etc. Auch viele Arbeiter* innenlieder berichten von Missständen in Berufen, die oft von Frauen gemacht wurden, wie zum Beispiel das Lied »Eyder ikh leyg mikh shlofn« (Bevor ich mich schlafen lege), das in erster Person aus der Sicht einer Näherin erzählt. »Zu Gott werde ich weinen, [...] wozu ich als Näherin geboren wurde.« Da es gang und gäbe für viele Arbeiterinnen* war, Lieder während der Arbeit zu singen, ist es auch naheliegend, dass solche Lieder tatsächlich von Frauen* verfasst wurden.
Bei anderen Gattungen von Liedern, die nicht unmittelbar aus sozialen Missständen entspringen, fiel es mir anfangs eher schwer, sie in mein Repertoire aus Revolutionsliedern aufzunehmen. Allerdings merkte ich bald, dass es oft nur eine Frage der Interpretation ist, ob ein Lied sozialkritisch ist oder nicht. Manchmal verlangt es auch ein Lesen zwischen den Zeilen, wie zum Beispiel beim Liebeslied »Di Sapozhkelekh« (Die Stiefel) aus dem Repertoire der ukrainisch-jiddischen Volkssängerin Bronya Sakina stammend und im Klezmer Revival der 1970er Jahre popularisiert. »(Ich würde) die Stiefel verkaufen und auf den Droschken fahren, nur um mit dir zu sein // Ich ohne dich und du ohne mich ist wie eine Klinke ohne eine Tür, mein Kätzchen, mein Vögelchen.« Auf den ersten Blick ist das kein besonders politischer Text. Doch es gehört einem Genre an, dass ich als »sozialkritische Liebeslieder« bezeichne: Liebeslieder, die zwischen den Zeilen auch soziale Missstände beklagen. In diesem Lied geht es um die ganzen prekären kleinen Jobs, die Arbeiter* innen oft machen mussten, um extra Groschen dazuzuverdienen: Stiefel oder Schals verkaufen, Böden waschen, etc. Umgelegt auf die heutige Zeit sage ich immer wieder, dass das Äquivalent so etwas wäre wie »Baby, ich würde für dich Essenszusteller werden, nur um mit dir zu sein.« Die Gig Economy ist eben gar nicht so neu wie sie tut.
Feministische Wiederaneignung
Eine andere Methode, um mein Repertoire an Revolutionsliedern feministisch zu revolutionieren, ist die sogenannte feministische Wiederaneignung. Als ich das jiddische Theaterlied »Ale vayber megn shtimen« (Alle Weiber dürfen wählen) zum ersten Mal auf einer CD in der jüdischen Bibliothek in Montréal hörte, dachte ich, ein feministisches Lied über die Einführung des Frauen-wahlrechts in den USA gefunden zu haben. Doch ich hatte mich zu früh gefreut. Bei meinen weiteren Recherchen fand ich heraus, dass das Lied im Jahr der Einführung des Frauenwahlrechts, 1920, von einem jiddischen Liedermacher und Komödianten namens Rubin Doctor geschrieben worden war, dessen Repertoire hauptsächlich aus frauenfeindlichen Inhalten bestand. So wie heute auch noch einer der beliebtesten patriarchalen Witze in Hollywood die nervige Ehefrau ist, so baute auch Doctor seine Karriere auf solchen Liedern auf. Bei dem Lied »Ale vayber megn shtimen« handelte es sich also um nichts anderes als ein satirisches Lied, dass sich über die Einführung des Frauenwahlrechts lustig macht, weil die Ehefrau nun aufhören kann zu keppeln (da sie ja eh wählen darf).
Ist so ein sexistisches Lied also noch irgendwie zu retten? Mir fiel auf, dass in der ersten Aufnahme, die ich gehört hatte, die Sängerin Clara Gold, subtil einige Wörter veränderte, um dem Text so mehr Nachdruck zu verleihen. Statt »Ale vayber megn shtimen« (Alle Weiber dürfen wählen) sang sie »Ale vayber mizn shtimen« (Alle Weiber müssen wählen). Sie sang es auch in ihrer musikalischen Interpretation aus dem Jahr 1921 so, dass es sich für mich nicht sarkastisch, sondern kämpferisch anhörte. Inspiriert von Clara Gold beschloss ich also, mir dieses Lied selbst auch neu anzueignen. Ich übernahm ihre Änderungen, dichtete ein paar Verse auf Jiddisch dazu und verfasste noch eine dritte, englische Strophe, in der ich aus Sicht des heutigen Feminismus auf die Errungenschaften der Anfänge der femi-nistischen Kämpfe zurückblicke:
»Now 100 years have past, and see what it has brought us
Women in boards of companies, in parliaments and start-ups
But what have all these women done, for care workers and migrants?
It’s time to change our strategy, and join to fight all tyrants!«
Durch diese Methode gelang es mir auch, eine Kritik am liberal-bürgerlich feministischen Narrativ zu formulieren, dass das Patriarchat durch zunehmende politische und wirtschaftliche Teilhabe von Frauen* überwunden werden könnte. Dieses Narrativ verkennt allerdings, dass patriarchale Unter -drückungs mechanismen untrennbar mit kapitalistischer Ausbeutung und rassistischer Ausgrenzung verwoben sind. Umgeschrieben fügt sich dieses Lied also auch in die Tradition der jiddisch sprachigen Revolutionär*innen, deren Ziel nicht weniger als die Befreiung der gesamten Menschheit war.
Isabel Frey ist eine Wiener jiddische Sängerin und Doktorandin in Ethnomusikologie an der Universität für Musik und Darstellende Kunst. Mit ihren jiddischen Revolutionsliedern unterstützt sie diverse politische Protestbewegungen, darunter auch die Wiener Donnerstagsdemos und LINKS Wien, und trägt damit die Tradition der jüdisch-revolutionären Kultur ins 21. Jahrhundert.
Heide Hammer im Gespräch mit Barbara Staudinger, Direktorin des Jüdischen Museums Augsburg Schwaben und ab Juli 2022 Direktorin des Jüdischen Museums in Wien, über feministische Ausstellungen und den Kampf gegen Antisemitismus
In einem Interview mit dem jüdischen Stadtmagazin Wina sagst du im Jänner diesen Jahres: »Noch vor zehn Jahren haben viele Jüdische Museen gesagt, Antisemitismus ist eine Geschichte der Antisemiten und nicht eine Geschichte der Jüdinnen und Juden. Heutzutage, in einer Zeit, in der Antisemitismus ein ohnehin schon großes und noch zusätzlich wachsendes gesellschaftliches Problem ist, können sich Jüdische Museen nicht mehr auf diese Position zurückziehen.« Antisemitismus und Verschwörungstheorien gehen gerade auch bei den Corona-Demonstrationen Hand in Hand. Was müssen wir jetzt tun? Was kann ein jüdisches Museum zum Kampf gegen Antisemitismus beitragen?
BARBARA STAUDINGER: Es gibt einen großen historischen Fundus an antisemitischen Verschwörungstheorien, der aktuell, vermischt mit anderen, auf die Straße und ins Netz gebracht wird. Was kann ein Museum dagegen tun? Zunächst: Es gibt keine »Impfung gegen Antisemitismus«. Der Besuch eines jüdischen Museums führt zu keiner Läuterung, die Besucher:innen kommen auch nicht als bessere Menschen wieder raus. Zugleich ist der Kampf gegen Antisemitismus eine allgemeine Aufgabe, weil Juden und Jüdinnen jetzt massiv bedroht sind. Der antisemitische Anschlag in Halle am 9. Oktober 2019 war da nur ein Höhepunkt im zunehmenden Alltagsantisemitismus. Daher können sich Jüdische Museen nicht aus der Verantwortung nehmen, gegen Antisemitismus zu arbeiten.
Unsere Form der Bildungsarbeit muss sehr breit aufgestellt sein und auch im öffentlichen Raum stattfinden, um im Alltag präsent zu sein. Es geht darum, Angebote nicht nur in einem Haus, hier im 1. Bezirk zu setzen, sondern dezentral zu arbeiten und in den Bezirken sichtbar zu sein.
Die Ausstellung »Schalom Sisters*!«, die im letzten Jahr in Augsburg zu sehen war, hatte die Vielfalt jüdisch-feministischer Positionen in Vergangenheit und Gegenwart zum Thema.
BARBARA STAUDINGER: Bei »Schalom Sisters*!« haben wir auch im öffentlichen Raum gearbeitet. Auf einer von einer Künstlerin mit einer Frauendemonstration gestalteten Straßenbahn haben wir mit Slogans darauf hingewiesen, dass es historisch viele Forderungen der Frauenbewegung gab, aber auch, wofür man heute auf die Straße gehen muss. Das erregte Aufmerksamkeit: Am 8. März ist die Straßenbahn plötzlich an der Demo vorbeigefahren, die Demonstrant:innen haben applaudiert.
Ein anderer Teil der Ausstellung im öffentlichen Raum war eine frei zugängliche Auslagenausstellung. Und auch in den anderen Ausstellungsteilen haben wir versucht, dem stereotypen, sehr männlich geprägten Bild des Judentums historische und moderne, politische und künstlerische feministische Positionen entgegenzusetzen.
Im Ausstellungstext heißt es auch: »Denn Feminismus ist kein ›Frauenthema‹, sondern ein Beitrag zu einer gerechteren Welt.« Von welchem feministischen Selbstverständnis gehst Du aus?
BARBARA STAUDINGER: Stephanie Shirley zeigt in einem wunderbaren Videozitat, dass ihr Kopf schon ganz platt ist, vom vielen Tätscheln. Wir müssen diese gläserne Decke abbauen, das ist die Aufgabe von Frauen in Führungspositionen. Wir müssen uns nicht nur behaupten, im 21. Jh. müssen wir (kultur-)politisch etwas bewirken. Was das mit einer gerechteren Welt zu tun hat? Von mehr Gleichheit profitieren alle, denn mit dem Phänomen des Machterhalts sehen sich nicht nur Frauen konfrontiert, es betrifft auch andere Diskriminierungsachsen.
Bist du gerne Chefin?
BARBARA STAUDINGER: Ja, ich übernehme gerne Verantwortung und ich entscheide gerne. Auch wenn ich flache Hierarchien schätze, fängt der Fisch immer beim Kopf zu stinken an. Ich werde dafür bezahlt, Verantwortung zu übernehmen, das ist mein Job. Mir war klar, dass mit der Übernahme einer Direktion meine kuratorische Arbeit auf einer anderen Ebene liegt. Ein Haus zu kuratieren, es in eine bestimmte Richtung zu bewegen, ist eine überaus reizvolle Aufgabe. Fragen des Budgets, das die Basis von allem ist, sind sehr wichtig und hier kann man, etwa wenn an Künstler:innen faire Honorare bezahlt werden, auch tatsächlich viel verändern.
Ausgehend von der Restaurierung des Films Die Stadt ohne Juden vom Filmarchiv Austria hast Du die Ausstellung »Die Stadt ohne – Juden Ausländer Muslime Flüchtlinge« gemacht. Mich interessiert die Methode der Intervention, einerseits die Zeitachse, die Verbindung zwischen Vergangenheit und Gegenwart und andererseits die Verschiebung – die Intervention von außen und die Leitung einer Institution.
BARBARA STAUDINGER: Jüdische Museen haben meist eine historische Sammlung, eine Intervention in der Institution beschäftigt sich kritisch mit der eigenen Sammlung. Interventionen sind so reizvoll, weil sie andere Perspektiven aufmachen und andere Fragen stellen und daher die Möglichkeit der Reflexion der eigenen Arbeit bieten. Der Unterschied, wenn man ein Haus leitet, ist, dass man dann sagen kann, ich lade euch ein, eine Intervention in unserem Museum zu machen. Ein Museum soll ein kritischer Ort sein, ein hinterfragender Ort – und ein Ort, der an aktuelle gesellschaftspolitische Fragen anknüpft. Meines Erachtens müssen wir uns bei jeder Ausstellung fragen, was dies mit unserer Gegenwart zu tun hat. Wie bei der Ausstellung »Die Stadt ohne«, bei der es um einen strukturellen Vergleich von Ausschlussmechanismen gegen die jüdische Bevölkerung vor 1938, aber auch heute gegen Jüdinnen und Juden und andere Minderheiten ging.
Am 27. Jänner war der Internationale Tag des Gedenkens an die Opfer des Holocaust (Holocaust Remembrance Day). Was tun mit solchen Gedenktagen in Österreich? Zum Feiertag machen und ein vielfältiges Public Program bieten?
BARBARA STAUDINGER: Gedenktage fungieren oft als Bühne für Politiker:innen. Zugleich ist dieser Tag für die Überlebenden und ihre Nachkommen sehr wichtig. Dennoch würde ich mir wünschen, dass das Interesse an den letzten Zeug:innen das ganze Jahr über da ist, auch das empathische Interesse. In Augsburg gab es ein virtuelles Gedenken mit drei Zeitzeug:innen, die als Kinder aus Augsburg vertrieben wurden. Sie möchten, dass ihre Geschichte und die Geschichte ihrer Eltern nicht vergessen wird. Der Staat und seine Institutionen haben die Verantwortung, Erinnerungskultur zu leben.
Wäre der 8. März ein Feiertag, würde sich dann an der öffentlichen Wahrnehmung etwas ändern?
BARBARA STAUDINGER: Jede:r mag Feiertage, sie sind eine angenehme Unterbrechung der Woche. Ökonomisch gedacht kann man einen Feiertag aber auch beziffern. Wenn man die Hälfte von dem, was am 8. März erwirtschaftet wird, in feministische Projekte steckt, würde das vielleicht mehr bringen als ein Feiertag?
Du nutzt Social Media Kanäle auf sehr witzige Weise, das ist ziemlich ungewöhnlich.
BARBARA STAUDINGER: Am Beginn der Pandemie dachte ich, wenn wir jetzt nicht lachen, dann ist alles vorbei und ich wollte mich auch erinnern, wie es an einzelnen Tagen gewesen ist. In meinem häuslichen Mikrokosmos spiegelt sich der Makrokosmos, in der plötzlich so klein werdenden Wohnung also die ganze Welt. Der Moment des Lachens ist eine Bewältigungsstrategie. Mir ist es wichtig, zu lachen.
Eine persönliche Reflexion zu Hetero-Elternschaft, männlicher Identität und jugendlichem Serienkonsum.
Von Daniel Sanin
Die zwei Söhne sind auf die Sitcom Two and a Half Men reingekippt. Keine Ahnung, wie das passieren konnte. Eine Protestaktion auf einen feministischen Haushalt? Auf den lange zurückliegenden »gendersensiblen« Kindergarten? Auf die elterliche Begeisterung für Queer Eye? So viele Bemühungen haben wir in eine feministische Erziehung gesteckt – geschlech-tergerechtes Vorlesen (Nennung weiblicher Formen, Auswechseln von Geschlechtern), Unterstützung und Förderung der freien Kleiderwahl (Hello Kitty-Shirts, Feenkostüme zum Verkleiden, Nagellack), Entkräftung von Vorurteilen u.v.m. – und nun müssen wir uns mit der absoluten Begeisterung für eine der sexistischsten Serien überhaupt herumschlagen.
Psychologie der schlechten Realität
Das plötzliche Eindringen dieser in kontinuierliches Publikumslachen eingenebelten sexistischen Männerwelt fällt zusammen mit meiner Lektüre von Elisabeth Badinters 1993 erschienenes XY – Die Identität des Mannes, das sehr viel Literatur zusammenträgt und einen sehr guten Überblick bietet über die Dynamiken und das Spannungsfeld des Geschlechterverhältnisses. Gleichzeitig vertritt die Autorin einen klassischen psychoanalytischen Konservatismus, nämlich dass die Zweigeschlechtlichkeit unumgänglich sei und gemäß den psychoanalytischen Entwicklungsstadien ablaufe: orale, anale, genitale Phase und natürlich der Ödipuskomplex, der die notwendige und unvermeidliche Identifikation mit dem Geschlecht leiste. Hier begeht die Psychoanalyse denselben Fehler wie das klassische Identitätsdenken, nämlich die schlechten Zustände zu verstetigen, anstatt sie als negativen Ausgangspunkt zu nehmen, von dem aus eine Utopie zu entwickeln wäre.
Mann = Subjekt, Frau = Objekt
Doch zurück zu unserem eigentlichen Schauplatz. (Vorbemerkung: Ich beschränke mich in meiner Analyse auf die ursprüngliche Konstellation mit den Brüdern Charlie und Alan Harper, sowie Alans Sohn Jake. Die Folgen mit Walden Schmidt statt Charlie sind zwar nicht substantiell unterschiedlich, setzen aber doch einige andere Akzente.) Die Männer in dieser Serie sind komplett eindimensional. Charlie verkörpert den Typus »hegemonialer Männlichkeit«: beruflich erfolgreich (er komponiert Werbejingles), wohlhabend (er wohnt in einem luxuriösen Strandhaus), rücksichtslos und funktional zum eigenen Körper (er trinkt viel Alkohol und raucht Zigarren) und beständig auf sexuelle »Eroberung« aus (er ist eigentlich hauptsächlich damit beschäftigt, zu versuchen, so viele Frauen wie möglich zu penetrieren). Sein Bruder Alan verkörpert den Typus der »komplizenhaften Männlichkeit«: Dieser passt, laut der Entwicklerin des Konzeptes der hegemonialen Männlichkeit, Raewyn Connell, nicht in das hegemoniale Schema, ist also im konkreten Fall eben nicht erfolgreich im Beruf und bei Frauen, stützt aber das System, in dem er ihm zustimmt und mitmacht. Alan ist ein »Loser«: Er hat nie Geld und wird von Charlie als Schmarotzer bezeichnet, weil er in seinem Haus wohnt; er ist tollpatschig und erfolglos bei Frauen; und er hat einen »unmännlichen« Beruf, Chiropraktiker, der beständig für Lacher herhalten muss. Zwischen diesen ungleichen Brüdern gibt es noch Alans Sohn Jake, rundlich und nicht sehr helle, der sich oft mit Charlie gegen seinen Vater verbündet und schließlich beim Militär landet, einem klassischen Männerbund.
Zentrale Figur bleibt aber Charlie, denn auch wenn beide Brüder zentrale Charaktere sind, funktioniert das Zusammenspiel nur, weil Charlie der Bezugspunkt ist. Alan möchte eigentlich so sein wie er und versucht das auch bei jeder sich bietenden Gelegenheit. Es geht beständig um die Penisse der Brüder und wie beglückend diese für Frauen sind. Sexuell interessante Frauen sind hier keine Subjekte, mit denen mensch ebenbürtig eine Beziehung eingeht, in der Sexualität stattfinden kann oder nicht; sie sind auch nicht solche, wo es von vorneherein ebenbürtig nur um Sex ginge. Sie sind Objekte. Diese können zwar sprechen, sind aber keine handelnden Subjekte wie die Männer. Sie sind Pornophantasien, die gerne von einem »richtigen« Mann (Charlie) penetriert werden wollen und für die es scheinbar das höchste der Gefühle ist, von ihm begehrt zu werden. Es geht also um das Begehren des Mannes, während sie selbst nur eine Funktion dessen sind. Ihre Aufgabe ist es, ihm seine Begehrlichkeit zu spiegeln, aber nicht als tolles Individuum, sondern als Vertreter einer Kategorie.
Dramaturgie des Geschlechterverhältnisses
In der patriarchalen Geschlechterordnung gehört die Frau der Sphäre der Natur an, sie ist durch Zyklus und Gebärfähigkeit in selbiger verankert; der Mann hingegen kann sich darüber erheben, ist das kulturschaffende Subjekt. Durch diese künstliche Erhöhung, die eine weitreichende narzisstische Schieflage mit sich bringt, ist der Mann beständig in Gefahr, von seiner Höhe herabzufallen, also seine Männlichkeit zu verlieren. Daher brauchen Männer andere Männer, die ihnen bestätigen, dass sie noch innerhalb der Kategorie sind und sie brauchen Frauen, die ihnen ihre Begehrlichkeit spiegeln und so zeigen, dass sie das andere sind, das Nicht-Weibliche, also männlich und dadurch hervorstehend, besonders, erhöht.
Diese Dynamik wird in Two and a Half Men beständig inszeniert. Die Frauen, die hier vorkommen, sind entweder absolute Zicken, die nur am Geld von Männern interessiert sind (z. B. Alans Ex-Frau Judith, von der er sich total unterdrückt und ausgeblutet vorkommt), männerfressende, von Schönheitsoperationen besessene Egomaninnen (die Mutter der Brüder, Evelyn, die schon mehrere Männer überlebt und/oder um viel Geld erleichtert hat), hässliche – in einem hegemonialen Sinn gemeint – und übelgelaunte Untergebene (die Haushälterin Berta), sowie zuletzt eine vielleicht zwar sehr intelligente und hübsche (wieder im oben genannten Sinn verstanden), aber extrem neurotische Stalkerin (die Nachbarin Rose, von Charlie besessen) oder hauptsächlich dumm und sexy (in genanntem Sinne) und haben oft keine Namen bzw. wird ständig damit gescherzt, dass ihre Namen völlig unwichtig sind (unzählige One Night Stands).
Positive Männerfiguren kommen nicht vor. Alle Väter von Charlie und Alan sind tot oder jedenfalls nicht mehr vorhanden.
Attraktivität und Verdrängung
Dieses Männerensemble hat etwas sehr Verlorenes in ihrem Strandhaus, um sich selbst kreisend und sich von Frauen spiegeln lassend; die Kehrseite davon ist Narrenfreiheit – und das auch noch in der Herrschaftsposition, die ihnen vom patriarchalen System, in dem wir hängen und an dem wir stricken, gewährt wird.
Diese Position der Beziehungslosigkeit, der offenen Handlungsoptionen durch Geld (Arbeit ist hier nicht spürbar), der Verfügung über Frauen (sie fliegen Charlie zu und bewundern ihn, bei Anhänglichkeit – Beziehung! – werden sie spätestens abserviert), der Selbst- und Fremdverachtung getarnt als Selbstsicherheit wird scheinbar von vielen als attraktiv empfunden, was zumindest ein großer Publikumserfolg und mehrere Auszeichnungen vermuten lassen.
In diesen Elementen (Handlungs optionen – Erfolg – Selbstsicherheit) ver-mute ich auch die Begeisterung meiner Söhne. Wenn wir sie fragen, was ihnen daran so gefällt, kommt als Antwort nur, dass es »so witzig« sei. Die Frauenverachtung – und letztlich Selbstverachtung – wird nicht gesehen. Die Witzigkeit ist nur die Oberfläche, aber durch die Konstellation von erfolgreichem Charlie und Tollpatsch Alan sehr dynamisch gestaltet. Wir als Eltern sehen aber die Oberfläche nur als dünnen Firnis und die darunter grinsende Fratze springt uns regelmäßig ins Gesicht, so, dass wir immer wieder ätzende Bemerkungen machen müssen, wenn der Sexismus vom üblichen Pegel durch die Decke schießt. Scheinbar kann er aber relativ mühelos ausgeblendet werden. Das zeigt sich im Vergleich zum Rassismus gegenüber BIPoC*: Hier haben unsere Kinder sehr wohl ein gutes Bewusstsein und bringen Geschichten mit nach Hause, wo sie z. B. rassistische Diskriminierungen von Mitschüler*innen thematisieren. Eine Serie, in der Rassismus die Folie für beständige Lacher böte, scheint unvorstellbar. Ganz anders aber verhält es sich beim Geschlechterverhältnis: Hier können Frauen als reaktionäre Karikaturen auftreten und es ist ein großer Erfolg.
Psychologisch gesehen müssen wir unsere Welt ordnen, da wir für unsere Subjektbildung Orientierung und Abgrenzungen brauchen. Diese Ordnung muss aber nicht unterdrückend und hierarchisch sein. Die Trennung in zwei Geschlechter ist in dieser Striktheit weder phylo- noch ontogenetisch, also weder gattungs- noch individualgeschichtlich, zwingend; wohl aber, wenn sie in der konkreten Gesellschaft, in der ich meinen Platz als Heranwachsende*r finden soll und muss, das erste und fundamentalste Unterscheidungsmerkmal bildet. Dann wird es zu einer psychologischen Notwendigkeit, sich auf dieser Achse zu verorten. Eine Aufweichung oder Dekonstruktion ist nur in einem nachfolgenden, mühe- und schmerzvollen Prozess zu haben.
Da ist es natürlich viel lustvoller, sich auf humorvolle Art mit Männlichkeit zu beschäftigen. Die Frauenfeindlichkeit muss dabei verdrängt werden. Das ist sowieso eine sehr herausfordernde Verdrängungsleistung: Die Herabstufung der Hälfte der Menschheit, nur um sich selbst, als Vertreter der anderen, höherstufen zu können. Diese Herabstufung beinhaltet ja auch die Mutter, vielleicht Schwestern, Tanten, Großmütter, Töchter, für die dann intra-psychisch Ausnahmen und Sonderregelungen gefunden werden müssen. Dieser ganze widersprüchliche Verdrängungsprozess geht natürlich lachend viel leichter.
Bescheidenes Fazit
In dieser Zwangsvergeschlechtlichung wäre es bei einer solchen Serie tatsächlich wünschenswert, eine positive männliche Identifikationsfigur zu haben, statt zwei Lachnummern, die Kapital aus Frauenverachtung schlagen. Als Eltern sehen wir diese Begeisterung unserer Kinder und lassen sie zu – gleichzeitig äußern wir unseren Unmut, wenn es gerade allzu würdelos und sexistisch ist. Letztlich müssen wir jedoch zusehen, wie sich die hässliche Fratze männlicher Sozialisation direkt vor unseren Augen manifestiert. Wir begleiten kritisch und einfühlsam, aber die Geschlechterhierarchie ist unerbittlich und unaufhaltsam. Doch stur und kontinuierlich werben wir z. B. für Queer Eye und thematisieren Vielfalt und Offenheit, damit neben der hegemonialen Männlichkeit auch marginalisierte Optionen Prominenz erhalten.
*)BIPoC ist eine Abkürzung aus dem Englischen für Black People, Indigenous People and People of Colour.
Daniel Sanin ist klinischer Psychologe in Wien. In der Volksstimme 2021/6 erschien von ihm der Text: Abspaltung.
Von Diana Leah Mosser
Liebe Genoss*innen, auf der vorherigen Seite seht ihr ein Glossar. Ein großes Feld, in dem Begriffe erklärt werden, die angeblich niemand versteht. Zum Glück mag ich Begriffsdefinitionen. Enzyklopädien. Glossare. Sie geben mir Klarheit darüber, wie Begriffe verstanden werden (können). Deshalb bin ich gern eine der Ersten, die sich meldet, wenn wo ein Glossar oder Begriffskastel zu schreiben ist.
Ich nehme mir Zeit und Platz, überlege »Was heißt das für mich«. Beim Erklären von Begriffen aus queeren Bereichen – also z. B. die trans-inter*-nonbinary-Ecke – komm ich ein bisschen in ein Spannungsfeld. Ich beschreibe Begriffe, die auch andere Menschen verwenden, um sich zu beschreiben. Ich erforsche mich selbst, aber nehme auch Definitionen vorweg. Ich helfe meinen Mitmenschen, Dinge besser zu verstehen, aber erfülle auch eine Erwartungshaltung, die unangemessen ist.
Von uns nichtbinären und trans Personen wird sehr oft erwartet, dass wir uns selbst erklären. Und zwar höflich, freundlich und ohne Gegenleistung. Wir erklären uns auf Social Media, im Freundeskreis, in Politgruppen, vor den Türen von Frauenzentren. Wir erklären uns vorm Psychiater, vorm Standesamt, vor der Polizistin, die grade die falsche Anrede verwendet hat. Das ist oft ermüdend, vor allem weil wir statt der Gegenleistung auch gern mal Skepsis, Misstrauen, Argwohn oder blanke Gegnerinnenschaft ernten, und nie so genau wissen, wann das passieren wird.
Diese komplexen Anforderungen und der häufige Druck, mein Dasein zu erklären, gibt mir manchmal das Gefühl, meine Mitmenschen wären schon mit meiner bloßen Existenz – als nichtbinäre trans Frau – überfordert. Manchmal sagen Leute, nicht-binär oder transgender wären universitäre, elitäre Begriffe. Und dann denke ich an Hörsäle, PhD Abschlüsse und Gender Studies und irgendwie sind das nicht die Dinge, die ich selber mit transgender und nichtbinär verknüpfe: Ich hab’ keine Matura.
Ich muss Leuten erklären, was ich bin, aber kenne diese Judith Butler nicht.
Erfahrungsgemäß (meine ... Erfahrungen) haben trans Personen kein fertiges Studium und gehören keiner Elite an. Und mit Karriere is’ oft auch nix. Weil während unsere cis Schulkolleg*innen mit 25 überlegen, ob sie den Job bei der Bank mit guten Aufstiegschancen behalten oder ihr neues Hobby – Webdesign oder Schmuckdesign oder Gartendesign – zum Beruf machen, haben wir als trans Personen oft grad erst mal raus gefunden, wie wir an ein Maturazeugnis kommen, auf dem der richtige Name steht (wenn wir uns in dem Alter überhaupt schon so ernst nehmen, dass wir uns einen richtigen Namen zugestehen).
Das Gefühl, das ich bekomme, wenn mein Sein zu einer Sache deklariert wird, die man dauernd erklären muss – oder gar studieren – ist ein sehr hemmendes Gefühl. Denn mir – UNS – wird damit vermittelt, meine Existenz, meine Erfahrungen, die Art wie ich ausgegrenzt werde und wie über mich bestimmt wird, sei etwas sehr Kompliziertes und eine Auseinandersetzung damit sei der breiten Masse nicht zumutbar. Als wäre mein Geschlecht eine persönliche Angelegenheit, die ich bitte für mich behalten soll, wenn es gerade um etwas Anderes geht.
Aber dieses hemmende Gefühl … Das ist doch gar keine trans Erfahrung, keine Einzelbefindlichkeit. Es ist Alltag im Patriarchat: Ihr kennt das.
Anwältinnen kennen das. Mechanikerinnen kennen das. Reinigungskräfte kennen das. Frauenministerinnen ... kennen das auch, verdammt.
Drei Augenpaare, die euch anschauen mit diesem »Was willst du jetzt?«-Blick. Fremde Menschen, die ungefragt erklären, was der wahre Hintergrund eurer Erfahrungen mit Diskriminierung ist.
Auf der vorhergehenden Seite seht ihr ein Glossar, eine Liste von Worten, die die Welt begreifbarer und damit veränderbar machen. Zaubern ist die Veränderung der Realität durch Worte.
Wenn ihr im Glossar Begriffe lest, die ihr nicht versteht, versucht sie nachzu empfinden. Zu fühlen. Wenn ihr sie nicht fühlen könnt, fragt eure Mitmenschen: »Warst du schon einmal in einer Situation, in der du …?«
Denn was nützen uns Begriffe, wenn wir nicht empfinden.
Was nützt uns das Be-Greifen, wenn wir nichts fühlen?
Danke.