Ohne Frieden ist alles nichts. Ein Frieden durch Krieg auch nicht. Von Bärbel Danneberg
Zwei Jahre vor dem Ende des Zweiten Weltkriegs geboren, wird mir das Glück bewusst, in der längsten Friedensperiode der Nachkriegszeit gelebt zu haben. Kriege rundum, ja sicher, überall, aber doch nicht hier bei uns! Und nun – die Morgennachrichten an diesem 24. Februar 2022 springen wie eine Kompassnadel in mir an: Russland hat die Ukraine militärisch angegriffen. Das ist der zweite Krieg auf europäischem Boden nach 1945. Manche fragen, ob es ein Dritter Weltkrieg werden wird. Angst. Russland hat Atomwaffen. Putin ist unberechenbar. Ebenso wenig vertraue ich dem Schulterschluss des kapitalistischen Westens mit den Embargos und Sanktionen und den zwischen Ost und West stationierten NATO-Raketen. Ein neuer Kalter Krieg und eine neue Runde des Wettrüstens beginnt.
Der erste Krieg auf europäischem Boden nach 1945 begann 1991 im ehemaligen Jugoslawien. Diese Fernsehbilder sind bei mir eingebrannt: der Flüchtlingsstrom über die bosnischen Berge, alte Frauen, die schwere Rucksäcke schleppen, Mütter mit ihren Säuglingen am Körper, Enkelkinder, die ihre alten Großeltern über die Berge in Sicherheit bringen wollen. Der Krieg mit mehr als 200.000 Toten, mit mehreren Millionen Geflüchteten und Vertriebenen hat nach zehn Jahren geschürter Feindschaft zwischen den ethnischen Gruppen traurige Geschichte in diesem bei uns so beliebten Urlaubsland geschrieben. Seine Folgen reichen in die Gegenwart.
Und jetzt das gleiche Bild aus der Ukraine: die größte Fluchtbewegung in Europa seit 1945.
Flucht bewegt
»Kein Blut für Öl«, hatte sich die Friedensbewegung in Österreich beim ersten Golfkrieg empört. Um die Durchfahrt von österreichischen Bergepanzern aus dem neutralen Österreich ins Kriegsgebiet zu verhindern, legten sich Friedensaktivist* innen auf die Schienen. Krieg ist uns wesensfremd, dachte ich, und vergaß dabei die Geschichte unserer Väter, Großväter, Urgroßväter. Kriege gehören ins Museum, wirbt das Militärhistorische Museum. Ich habe einen Krieg, meine ersten zwei Lebensjahre ausgenommen, noch nie am eigenen Leib erlebt. Doch noch heute versetzen mich Sirenen wie die mittäglichen in Niederösterreich innerlich in Aufruhr, noch heute habe ich die Bilder vom Bombenschutt meiner ersten Lebensjahre im Kopf und ich kann Hunger erinnern.
Kein Blut für Gas, sage ich heute. Der moralische Kompass, dass nichts einen Krieg rechtfertigt, den Unschuldige ökonomisch und mit dem Leben bezahlen müssen, gilt für mich damals wie heute. Als 2015 spontan eine Welle der Solidarität für jene Menschen entstand, die aus ihren Kriegsgebieten im Irak, in Syrien, aus Afghanistan, aus einem Land Afrikas oder aus den kurdischen Gebieten flüchten mussten, war ich stolz auf die Menschen in Österreich. Offene Arme – wie auch damals
nach dem Putsch in Chile! Angela Merkels »Wir schaffen das« hat mich überzeugt vom guten Willen auch jener, die politisch woanders als ich stehen und die »Liebe deinen Nächsten wie dich selbst« als christlichen Wert ernst nahmen. Das Bild von dem kleinen Buben in Turnschuhen, der im Mittelmeer auf der Flucht ertrunken ist, hat die Welt bewegt.
Wann war der Kipppunkt, dass Hilfsbereitschaft in Hass umschlug? Waren es die Silvester-Ereignisse 2015 in Köln? Die Kürzungen im Sozialbereich? Die sich häufenden Medienkampagnen von angeblichen »Sozialschmarotzern«? War es die neoliberale Umgestaltung der Wirtschaft oder die Veränderung der politischen Landschaft durch Regierungsbeteiligungen von Rechts-extremen in europäischen Parlamenten, die als Brandbeschleuniger für Fremdenfeindlichkeit wirkten? Das Ensemble gesellschaftlicher Verhältnisse hat auch die türkis-blaue und danach die schwarz-grüne Koalition und deren ÖVP-Innenminister, der heute Bundeskanzler ist, nicht davon abgehalten, Flüchtende durch Push-backs wieder zurück ins Mittelmeer zu treiben und die Schengen-Außengrenze als Todesgrenze zu akzeptieren.
Was bewegt die Welt?
Der größten Fluchtbewegung nach dem Zweiten Weltkrieg wird gegenwärtig mit Solidarität und Eigeninitiative begegnet. Eine Freundin richtet gerade eine Unterkunft her für Vertriebene aus Minsk, meine Enkelkinder überlegen, wie wir in unserer Wohnung zusammenrücken können, Handy hotlines dirigieren Hilfsgüter. Und selbst Länder wie Polen mit eineinhalb Millionen geflüchteter Menschen oder Ungarn und andere ehemalige »Ostländer«, die sich bisher der Aufnahme von Migrant*innen versperrt haben, haben jetzt ihre Grenzen geöffnet. Auch Österreich vollbringt bislang Ungeahntes, etwas, worum Hilfsorganisationen bisher vergeblich gekämpft haben: »Temporärer Schutz« wird den aus der Ukraine Geflüchteten gewährt. Sie werden nicht abgeschoben und können ohne aufwändige Formalitäten hier arbeiten. Ob das für alle Geflüchteten gilt? Diese Frage hat ÖVP-Integrationsministerin Raab bisher nicht beantwortet.
Ist mit der russischen Invasion ein neues Verständnis von der Unteilbarkeit der Menschenrechte entstanden? Hat sich die Gesellschaft nach der Spaltung durch Pandemie, Lockdowns oder Impfpflicht einer neuen Menschlichkeit besonnen? »Krieg ist Krieg und Mensch ist Mensch« war der Slogan auf der Demonstration am 13. März in Wien. Ich wünschte, dass eine neue Ära des Miteinanders begonnen hat.
Meine Skepsis aber ist groß. Welcher Kipppunkt für eine Schubumkehr der Hilfsbereitschaft könnte es diesmal sein? Die soziale Not steigt parallel zu den Preis erhöhungen. Aufrüstung, Embargos, Mangel an Rohstoffen, Energieknappheit oder Umweltsünden durch »sauberen Atomstrom« werden vom Großteil der Bevölkerung bezahlt, während die Profite der Waffen- und Rüstungsindustrie ebenso unangetastet bleiben wie die Gewinne aus Wäh-rungsspekulationen. Der Krieg wird den Reichtum eines kleinen Teils der Menschheit weiter vermehren und die Armut für den größeren Teil steigern. Ist das, was wir gerade erleben, die zweite Seite einer gleichen Medaille? Ist die Logik von russischen Oligarchen und kapitalistischen Offshore-Haien wesensverwandt?
Die Nord-Atlantische Vertragsorganisation NATO, konzipiert als antisowjetisches Kriegs- und Verteidigungsbündnis, hat sich nach dem Fall des Eisernen Vorhangs entgegen den Versprechen zum Vereinigungsvertrag nicht aufgelöst, sondern sie hat sich mit der Osterweiterung raketenbestückt wie eine Fessel um die frühere Sowjetunion gelegt. Das Wettrüsten bis ins Weltall ging ungehindert weiter. »Dass der Westen den konzeptuellen Russen auch nach dem Untergang der Sowjetunion als das dämonisierte Andere zu brauchen scheint, um sich als das Happy End der Geschichte zu glorifizieren, verleitet diese Linke, deren Geschäft eigentlich die Kapita-lismuskritik sein sollte, dazu, eine Bande autokratischer kapitalistischer Banditen in Moskau zu verniedlichen«, schrieb Richard Schuberth bereits vor acht Jahren in der Volksstimme (Nr. 4/2014).
Was wird mit dieser Welt? Ich weiß es nicht. Ich möchte meinen moralischen Kompass nicht verlieren, der mir sagt, dass ohne Frieden alles nichts ist.