artikel, einzeln in html

artikel, einzeln in html (386)

Mit »Sozialisten können Christen sein. Christen müssen Sozialisten sein« leitete Helmut Gollwitzer (1908–1993) eine seiner letzten Streitschriften 1988 ein. Wer den Namen Gollwitzer heute hört, reagiert wohl nur mit einem unwissenden Schulterzucken. Vergessen scheint der streitsame Vordenker, der mit seinem Eintreten sowohl für die Kirche als auch den Marxismus die deutschsprachige Theologie einige Jahrzehnte auf Trab hielt. Doch seine Ideen glimmen als kleine, revolutionäre Funken weiter. In einigen Schlaglichtern sollen Helmut Gollwitzer sowie sein Mentor, Karl Barth, hier beleuchtet werden.

Die Anfänge

Am 29. Dezember 1908 wurde Helmut Gollwitzer im fränkischen Pappenheim in eine national-konservative Familie geboren. Schon früh geriet er unter den Einfluss deutsch-nationaler Jugendbewegungen der 20er Jahre. Politisch rückte er später jedoch von diesen Organisationen ab. Er begann 1928 ein Philosophiestudium, wechselte aber bald zur Theologie. Im März 1937 promovierte Gollwitzer in Basel. Zwischenzeitlich findet sich auch ein Intermezzo in Wien, wo Gollwitzer einige Monate Schlossprediger und Prinzenerzieher bei Heinrich Reuß zu Ernstbrunn bei Wien war.

Berühmter Mentor: Karl Barth

Bereits 1930 lernte Gollwitzer in Bonn Professor Karl Barth kennen, der ihm zum Tutor und Freund wurde. Barth war zunächst als roter Pfarrer und Religiöser Sozialist im Schweizer Industrieort Safenwil bekannt geworden. Er legte sich regelmäßig mit Industriellen an, predigte politisch und betrieb Erwachsenenbildung. Nicht zuletzt organisierte er Streiks und unterstützte Gewerkschafter*innen. Gollwitzer sollte später über Barth sagen: »Er verwaltet sein Pfarramt so, wie es heute manche Kirchenleitungen von linken Theologiestudenten befürchten: in der Verbindung von sonntäglicher Predigt und werktäglicher politischer Agitation.« Hatte Barth sein Auftreten lange als eine bewusste »Kampfansage« an das unpolitische und bürgerliche Christentum verstanden, änderte sich dies mit dem Beginn des Ersten Weltkriegs. In diesem sah er das große Scheitern von Theologie und Sozialismus. Barth reagierte mit einem Bruch. Nicht länger sollte der Name Jesu politisch vereinnahmt werden. Religion und Sozialismus blieben ihm wichtig und notwendig – nur durften sie einander nicht mehr beeinflussen oder gar begründen. Schließlich führte Barths Weg an die Universität. Er wurde zum großen Vordenker, zum sogenannten »Kirchenvater des 20. Jahrhunderts«, trat politisch aber leiser. Erst durch seine absolute Opposition zum Nationalsozialismus und den »Deutschen Christen« machte er diesbezüglich wieder von sich reden. Barth blieb Zeit seines Lebens Sozialist, wurde aber letztlich durch seine kirchlich-dogmatischen Arbeiten und als Professor berühmt.

Widerstand und Gefangenschaft

Unter Barths Einfluss driftete Gollwitzer als Student politisch nach links. Im Mai 1931 sprach der Lehrer den Schüler auf eine politische Veranstaltung an: »Herr Gollwitzer, man hat mir erzählt, Sie hätten gestern Abend in einer Versammlung stehend die Internationale mitgesungen. Sie machen gewaltige Fortschritte!« Während der Machtübernahme der Nationalsozialist*innen wurde Barth zu einem Organisator der innerkirchlichen Opposition. Lehrer und Schüler waren Teil der »Bekennenden Kirche«, die sich vehement gegen die sogenannten »Deutschen Christen« stellte. Seine Gottesdienste brachten Gollwitzer eine siebenwöchige Haft ein. Seine Gemeinde in Berlin war überdies zu einem Anlaufpunkt für jüdische Familien geworden. Gollwitzer wurde 1940 aus Berlin ausgewiesen und 1941 in den Kriegsdienst berufen. Er blieb aber in verschlüsseltem Briefkontakt mit seiner Gemeinde, bis er 1945 in sowjetische Gefangenschaft geriet. Da Gollwitzer sich nicht im Sinne der Sowjets umerziehen ließ, wurde er 1949 in ein Arbeitslager verfrachtet, kam zur Adventzeit desselben Jahres jedoch frei. Gollwitzer betonte später, die vierjährige Gefangenschaft als gerechte Strafe Gottes empfunden zu haben, weil er sich am Krieg beteiligt habe.

Marx und Christus

Die erste wirkliche Auseinandersetzung mit marxistischem Gedankengut hatte Gollwitzer in der sowjetischen Gefangenschaft. Bis zu seinem Lebensende sollte er dem, was aus der russischen Revolution geworden war, kritisch gegenüberstehen. Doch auch das westliche System überzeugte ihn nicht: »Vielleicht ist der Unterschied der: der Westen verführt zur Unmenschlichkeit, das System des Ostens zwingt zur Unmenschlichkeit. Die Verführung kann die größere Gefahr sein. Unter dem Zwang kann sich mehr Menschlichkeit halten als unter der Verführung; sie kann mehr korrumpieren als der Zwang.«

Erst im Laufe der 1950er, als er bereits Professuren für systematische Theologie in Bonn und Berlin innehatte, bekannte sich Gollwitzer offiziell zum Sozialismus. Doch er blieb kritisch. Problematisch sah er den Marxismus dort, wo dieser nicht mehr »befreien« konnte. Auch deswegen hielt der Professor an seinen religiösen Überzeugungen fest. »Die christliche Gemeinde, in der Christus geglaubt und bekannt wird, ist die Grenze des totalen Staates im Osten, und Schutz des Menschen vor der Vermassung der technischen Produktion im Westen.«

Friedens- und Antiatombewegung

Gollwitzer sprach sich 1955 zum ersten Mal öffentlich klar gegen die Wiederbewaffnung Deutschlands aus. Damit verstieß er bewusst gegen die »gute Regel«, dass Menschen im kirchlichen Dienst nicht mit persönlichen und politischen Ansichten hervortreten sollten. Erstmals erwähnte er auch die Gefahr der atomaren Aufrüstung: Ein mit unrechten Mitteln geführter Krieg könne nicht gerecht sein. Diese Mittel seien die Massenvernichtungswaffen, da sie die Unterscheidung zwischen Soldat*innen und Zivilbevölkerung verwischten. Herkömmliche Kriegsethik werde damit unwirksam. Für Gollwitzer war stets klar: Wo es um die Opfer politischer Entschlüsse, um das Überleben der Menschheit gehe, gerade nach Katastrophen wie Auschwitz oder Hiroshima, da sei politische Neutralität ausgeschlossen. Hier fordere das Evangelium von der Rechtfertigung des Sünders bzw. der Sünderin die Konsequenz eindeutiger Parteilichkeit für die Menschen, für ein Leben in Gerechtigkeit und Frieden.

Die »Studentenbewegung«

Das Jahr 1968 sollte für den 60-Jährigen Gollwitzer zu einem »zweiten Frühling« werden. Er solidarisierte sich als einer von wenigen deutschen Professor*innen mit der Student*innenbewegung. Der rege Austausch bekräftigte Golli, wie er liebevoll genannt wurde, in seinem Weg. Er begegnete der rebellischen Jugend im offenen Gespräch und mit kritischer Solidarität. Letztlich überzeugte ihn der Internationalismus, dem sich die Studierenden in ihren Forderungen stets verschrieben hatten. Er sah darin das säkulare Pendant der kirchlich-ökumenischen Bewegung.

Gollwitzer diskutierte in Folge öffentlich mit Politiker*innen und nahm nahezu jede Woche an Demonstrationen und selbst Hausbesetzungen teil. Dabei griff er Politik und Kirche bezüglich des Vietnamkriegs scharf an: »Darum fragen wir die Kirchen und Christen in Deutschland, wie lange sie noch, zum großen Teil wenigstens, meinen, christliche Kirche und zugleich stumme Hunde sein zu können?« Gollwitzer öffnete sein Haus für Debattierrunden und schließlich lebte Rudi Dutschke einige Zeit mit seiner Familie bei den Gollwitzers. Rudi und Helmut waren in guter Freundschaft verbunden, die aber auch von hitzigen Diskussionen begleitet wurde. Gollwitzer hielt 1979 auch Dutschkes Grabrede, nachdem dieser an den Spätfolgen eines 1968 auf ihn verübten Attentats verstorben war.

Seelsorger und Grabredner der RAF

Nahezu berüchtigt wurde Gollwitzer einige Jahre später als Gefängnisseelsorger von Gudrun Ensslin und Ulrike Meinhof. Beide waren aufgrund ihrer Aktivitäten in der »Roten Armee Fraktion« inhaftiert worden. Gollwitzer erntete Kritik und verbale Attacken von allen politischen Fraktionen, obwohl er sich stets von der Gewalt der RAF distanzierte, diese sogar öffentlich scharf verurteilte. Gudrun Ensslin beschimpfte ihn in Folge als »Staatspfaffen«, während Politik und Medien ihn als Terror-Sympathisanten bezeichneten. Doch Gollwitzer sah es als seine Pflicht und seelsorgerliche Aufgabe, allen – gerade auch den Fehlgeleiteten – beizustehen. Ulrike Meinhof – die Terroristin – beerdigte er daher nach ihrem Selbstmord ebenso, wie zwei Monate zuvor seinen Freund Gustav Heinemann – den ehemaligen Bundespräsidenten. Krasser hätten die Gegensätze nicht sein können. Gollwitzer war stets ein Vermittler geblieben.

Kapitalismus und Revolution

Gollwitzer sah den Kapitalismus bereits 1986 in Ermangelung an Weltressourcen langsam an sein Ende schreiten. Internationalität und Welthunger waren ihm zu wichtigen Anliegen geworden. »Sind wir aber durch das Abendmahl eine Gemeinde, dann ist das Elend verhungernder Christen in anderen Weltteilen ein Elend mitten unter uns.«

Die Entlarvung des »Klassenkampfes von oben« war für Gollwitzer sowohl Erkenntnis der momentanen Wirklichkeit als auch ein erster Schritt zur Befreiung daraus. Doch die Kirche sei Teil dieses Systems. Die Probleme der Macht und des Staates seien im Moment des ersten christlichen Kaisers auch Probleme der Kirche geworden. Sie habe in diesem Augenblick ihr revolutionäres Potenzial vergessen. Dem ausufernden Kapitalismus könne daher nur eine Theologie gegenüberstehen, die »Theologie der Revolution« sei. Veranschaulicht würde dies an der Botschaft des hereinbrechenden »Reiches Gottes«. Dies sei Zentrum der Verkündigung Jesu, der den Hörenden die Freiheit zur Umkehr und zu einem neuen Leben ermöglicht. Aus Gollwitzers Sicht war damit sogar der junge Marx dem Evangelium getreu, wenn er als Ziel definierte, »alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist«.

Anhaltende Aktualität

Heute ist Helmut Gollwitzer ein nahezu Unbekannter. Nach seinem Tod 1993 wurde er nur mehr selten publiziert. Obwohl er stets kritisch geblieben war, verschwanden nach dem Ende des sogenannten Realen Sozialismus auch seine Werke. Zu Unrecht, denn sein Aufruf an die Christenheit, sich einzumischen, sollte nicht verhallen. In Zeiten von Weltwirtschaftskrisen, Globalisierung, ausuferndem Kapitalismus, Krieg und Klimakrise sind sein Solidaritätsdenken sowie seine Ideen zur Befreiung durch den Marxismus und das Reich Gottes aktueller denn je.

Stefan Haider ist evangelischer Theologe in Wien. Er verfasste seine Masterarbeit zu ausgewählten Religiösen Sozialisten und arbeitet nun an seiner Dissertation.

AA FB share

Buch-Rezension von Markus Gönitzer

Im Jahr 2020 veröffentlichte die Philosophin Eva von Redecker mit ihrem damals noch als Geheimtipp antizipierten Buch Revolution für das Leben eine antikapitalistische Liebeserklärung an die zentralen sozialen Bewegungen unserer Zeit. Zwei Jahre später ist die sprachgewaltige Philosophin breit rezipiert und Dauergast in linksliberalen Feuilletonmedien. Gerade Linke sollten Redeckers feministischen, ökologischen und antirassistischen Erneuerungsversuch revolutionärer Begehrlichkeiten einer genaueren Lektüre unter ziehen.

Über die zärtliche Erzählerin gegen die große Erzählung

Kontraintuitiv zum linken Reflex der »kritischen Kritik« gilt der erste Blick auf Redeckers Werk nicht dem Inhalt, sondern der Form ihrer Erzählung. Redeckers Stil, der sich in Olga Tokarczuk entlehnt: die zärtliche Erzählerin. Dabei handelt es sich um eine Erzählperspektive, die die Verwobenheit Revolution für das Leben auf angenehme Weise von den engen Zwängen des akademischen Schreibens löst, entfaltet seine Stärke vor allem im Erzählen von Geschichten. So spinnt Redecker behutsam an einem Erzählnetz aus unterschiedlichen Genre-Versatzstücken: Theoretischen Exegesen folgen persönliche Reflexionen über kindliche Erkenntnisse, antike Mythen begegnen Stimmen aus sozialen Bewegungen. Es waren nicht zuletzt feministische Philosoph:innen wie Donna Haraway, die uns beauftragten, darüber nachzudenken, mit welchen Geschichten wir unsere Geschichte(n) erzählen wollen. Redecker führt als Antwort darauf eine Erzählstimme ins Feld, die sie von der Literaturnobelpreisträgerin aktueller Herrschaftsverhältnisse in ihrer gegenseitigen Wechselwirkung erzählbar machen soll. Diese Stimme ist also ein Plädoyer für ein multiperspektivisches Erzählen, ohne sich in einer bloßen Nebeneinanderstellung von Standpunkten zu verlieren. Sie fordert ein Erzählen, das seine Zugänglichkeit und sein Verbindendes in Alltagswahrnehmungen sucht, auch wenn diese für einzelne Akteur:innen von Macht und Herrschaft gänzlich unterschiedlich strukturiert sind. Dieser Stimme nachzuspüren ist keine leichte, aber eine von Linken viel vernachlässigte Aufgabe: Ihr Ziel ist nichts Geringeres, als sich auch stärker mit dem ›Wie‹ und nicht nur mit dem ›Was‹ des Erzählens zu beschäftigen. Redecker nimmt sich dieser Aufgabe an und lädt die Leser: innen ein, sich ebenfalls darin zu üben: »Wir sollten das können, als erzählende Tiere.«

Ein neuer Hauptwiderspruch, der keiner ist

Das ›Was‹ der Erzählung in Revolution für das Leben eröffnet uns aus der Perspektive linker Theoriebildung zwar keine gänzlich neuen Einsichten, regt aber zu neuen Verknüpfungen an. Im Geiste zeitgenössischer lateinamerikanischer Feminismen spannt Redecker den Widerspruch zwischen Kapitalismus und Leben als das zentrale Konfliktfeld unserer Zeit auf. Durch das Nachwirken kolonialer und patriarchaler Beherrschungsansprüche (»Phantom besitz«) und der alles durchdringenden Eigentumsform (»Sachherrschaft«) zerstört der Kapitalismus laut Redecker Leben und Lebensgrundlagen. Diese Entwertung des Lebens erkennt sie in ihrer Reinform in der verweigerten Hilfe gegenüber den Ertrinkenden im Mittelmeer, rassistischen Morden und den Opfern patriarchaler Gewalt, aber auch in den zehrenden Erschöpfungs- und Entwertungsprozessen des Planeten, menschlicher Tätigkeiten und Beziehungen und zu guter Letzt des Menschen selbst. Als emanzipative Gegenspielerinnen und Trägerinnen der »Revolution für das Leben« führt Redecker schließlich jene sozialen Bewegungen der Gegenwart ins Feld, die sich für eine Rettung von Leben, für sorgende anstatt zerstörerische ökologische und ökonomische Prozesse einsetzen. Im Detail betrachtet sie dabei die Klimabewegung (Fridays for Future, Extinction Rebellion, Ende Gelände), die Black Lives Matter Bewegung und feministische Bewegungen (Feministischer Streik und Ni Una Menos). Der Erfolg dieser Bewegungen wird laut ihr davon abhängen, inwieweit sie sich zueinander in Bezug setzen können, um kapitalistische Herrschaft dauerhaft herauszufordern und gemeinsam neue Zwischenräume und Gegenstrukturen aufzubauen, zu pflegen und zu festigen. In dieser Hoffnung drückt sich auch Redecker Verständnis von Revolution aus: Sie sieht diese nicht als punktuellen ökologischer Kreisläufe – sowie der Umgestaltung zwischenmenschlicher Beziehungsweisen.

Neue Kämpfe, alte Hoffnung

In der Hoffnung, die die Philosophin in eine synergetische Schlagkraft gegenwärtiger sozialer Bewegungen setzt, wird auch eine der Leerstellen ihres Ansatzes sichtbar. Denn gerade diese Verknüpfungs- und Vermittlungsarbeit zwischen einzelnen sozialen Kämpfen, die Schaffung von kontinuierlichen Verbindungen und die Zuspitzung gemeinsamer Ziele stellte sich für die Linke in den letzten Jahrzehnten häufig als unüberwindbare Herausforderung dar. Auch bei Redecker bleiben die Prognosen oder Analyse, wie die jeweiligen Bewegungen eine gemeinsame Praxis entwickeln könnten, weitestgehend unbestimmt. Das Buch bietet somit eine umrahmende Erzählung, weniger aber eine Strategie für die »Revolution für das Leben« an. Auch im Umreißen einer postkapitalistischen Zukunft bleibt das Buch verhalten und vage. Neben einer abstrakten Vorstellung sorgender und regenerierender Infrastrukturen, die an die Stelle kapitalistischer Verwertungslogik treten sollen, werden große Stücke auf die uneingelösten Potentiale dezentraler Rätedemokratie (»rebellischer Universalismus«) gehalten. Ob die Ziele revolutionärer Bemühungen nicht, wie von dem verstorbenen Soziologen Erik Olin Wright gefordert, vorstellbarer, erreichbarer und umsetzbarer beschrieben werden müssten, wäre also eine Gegenfrage an die zärtliche Erzählerin.

Es sind also vor allem die zu Beginn beschriebenen Konzepte, die Redeckers Buch inspirierend und anregend machen: Das Plädoyer für eine neue Art des Erzählens und die Einführung des Konflikts Kapital/Leben, der die Verwobenheit und Wechselseitigkeit verschiedener Herrschaftsverhältnisse zu fassen vermag und Perspektiven für Allianzen und gemeinsame Kämpfe öffnet. Beides bietet Ansätze, die wir in Zeiten pandemischer Tristesse, imperialer Eskalation und katastrophischer Klimakrise als wertvoll ansehen sollten, wenn nicht sogar als überlebenswichtig.

Markus Gönitzer ist Teil der Vorstandkollektive der Kulturinitiative Forum Stadtpark, des Vereins / Društvo Peršman und des WerkStattMuseums im Margarete Schütte-Lihotzky Haus. Gemeinsam mit Leo Kühberger gestaltet er die linke Buchpräsentationreihe Debating. Society.

Zuletzt erschienen:

Eva von Redecker: Revolution für das Leben. Philosophie der neuen Protestformen. Frankfurt am Main: S. Fischer 2020

Maja Göpel, Eva von Redecker: Schöpfen und Erschöpfen. Hrsg. von Maximilian Haas und Margarita Tsomou. Berlin: Matthes & Seitz 2022

AA FB share

Kunstproduktion als politisches Handeln, freier Zugang zu Kunstproduktion als Teil einer demokratischen Gesellschaft und die kunstpolitische Positionierung von Künstler:innen als wesentlicher Beitrag zur Emanzipation von marktwirtschaftlichen Interessen – ein Plädoyer von Franz Braun

So wie ich mir Kunst vorstelle, ist sie kein Geschäft. Ich stelle mir Kunst als gesellschaftliches, demokratisches Erlebnis vor, ohne Einfluss marktwirtschaftlicher Interessen, in dem die künstlerische Arbeit aller allen zur Verfügung steht. Als selbstverständlicher, allgegenwärtiger Austausch von Ein- und Ausdrücken persönlicher Kreativkraft. Ich stelle mir eine Gesellschaft vor, in der ideeller und materieller Zugang zur Kunstproduktion allen offen steht.

Ich habe Malerei studiert und arbeite als freischaffender Künstler. Den Galeriebetrieb sehe ich im Widerspruch zur künstlerischen Intention. Kunstwerke will ich nicht als Ware verstanden wissen. Dass sie zum Verkauf stehen, geht nur an, weil wir Künstler:innen darauf angewiesen sind, unsere Existenz innerhalb dieser Gesellschaft materiell abzusichern, um weiter das machen zu können, was uns glücklich macht. Meine Arbeitsweise ist sehr zeitintensiv. Ich produziere vielleicht fünf Bilder im Jahr. Sagen wir, ich verkaufe alle meine Bilder und bekomme im Schnitt 2.500 Euro pro Bild. Das wäre gerade genug, denn abgesehen von der Miete für den Atelierplatz halten sich meine Produktionskosten in Grenzen. Sagen wir, dieselben Arbeiten werden über eine Galerie verkauft. Dann muss sich der Verkaufspreis mehr als verdoppeln, weil die Galerie als Vermittlungsprovision die Hälfte vom Verkaufspreis bekommt, nach Abzug der Steuer und vielleicht einem Rabatt für Stammkund:innen. Der doppelte Preis reduziert die Verkaufschance. Deshalb erhöhe ich den Preis um nur etwa die Hälfte, verdiene dann bei einem Verkauf aber zu wenig. Im Hoffen auf uns versprochene Zeiten des Erfolgs sehen wir uns Künstler:innen auf der Verkaufsplattform Galerie mit der Entscheidung konfrontiert, entweder nicht zu verdienen oder zu wenig zu verdienen. Berechtigterweise erkennen Galerien die Gefahr, dass ihre Kund:innen nach einer Ausstellung direkt bei den Künstler:innen kaufen könnten, wenn sie ihre Arbeiten privat unter dem Galeriepreis anbieten. Deshalb verlangen Galerien oft auch dann eine Vermittlungsprovision, wenn gar nicht durch sie vermittelt wurde. Im Wissen über die prekäre Lebenssituation vieler Künstler:innen nutzen Galerien deren systembedingte Abhängigkeit vom Galeriebetrieb als Hebel, zugunsten ihrer Profitinteressen die künstlerische Produktion in kommerzielle Vermarktungsmechanismen zu zwingen.

Gesellschaftskritik vs. Kommerz

Als Vermittler zwischen Produktion und Markt nimmt der Galeriebetrieb Einfluss auf Nachfrage und Angebot, sagt den Künstler:innen, was sie produzieren und den Käufer:innen, was sie kaufen sollen. Er ist bemüht, den Eindruck zu vermitteln, er sei unentbehrlich. Als gäbe es ohne ihn keinerlei Berührungen zwischen Kunstinteressierten und Künstler:innen, obwohl gerade die Galerien von diesem Nichtkontakt profitieren und ihn aufrechterhalten und den Konsum von Kunst einer zahlungskräftigen Elite vorbehalten. Ich will den Galerist:innen keine Böswilligkeit unterstellen. In einer kapitalistischen Wirtschaftsordnung spielen sie aber zwangsläufig diese Rolle. Immer wieder sehe ich mich mit Ratschlägen konfrontiert, was die Verkaufsfähigkeit meiner Motive betrifft. Wenn ich schon Portraits male, müssen unbedingt auch Gegenstände in den Bildern vorkommen, aber keinesfalls auch noch der Name der portraitierten Person. Oder: Selbstportraits kauft doch niemand. Und: Vielleicht noch eine Landschaftsmalerei. Klar, das ist alles Blödsinn. Ich habe schon die unterschiedlichsten Bilder verkauft und kann nicht erkennen, welche besser gehen. Es wird aber trotzdem direkt oder indirekt von mir verlangt, andere Bilder zu malen oder sie zumindest an den Geschmack der jeweiligen Kundschaft dieser und jener Galerie anzupassen. Darüber denkt man dann auch nach, es stört den kreativen Fluss und es braucht unnötig Energie, diese Worte wieder aus dem Kopf zu bekommen. Ginge ich auf diese Ratschläge ein, produzierte ich dann nicht eher teure Interieur Accessoires statt Kunst, weil ich mich vorrangig nicht mit kreativen, sondern mit kommerziellen Prozessen auseinandersetze? Wenn teure Interieur Accessoires zur Kunst gehören, dann ist sie aber durch kommerzielle Prozesse wesentlich in ihrer Fähigkeit zur Gesellschaftskritik eingeschränkt.

Künstlerische Arbeit als gesellschaftliches Eigentum

Die Emanzipierung der Kunst und der Künstler:innen hat ihre Trennung vom Markt zur Voraussetzung. Den ideellen Wert künstlerischer Arbeit betrachte ich als gesellschaftliches Eigentum. Aus bereits genannten Gründen der Existenzsicherung ist ihr materieller Wert bis zum Zeitpunkt des Verkaufs das Eigentum der Künstler:innen. Wir produzieren doch aber weder aus kommerziellem Interesse, noch um zuhause schöne Bilder hängen zu haben. Wir produzieren für die Öffentlichkeit, mit dem Ziel eines ideellen, gesellschaftlichen Gebrauchswerts. Gerne hätte ich, Kunstinstitutionen würden unsere Kunstwerke kaufen und sie für alle zugänglich aufbewahren und zeigen. Noch lieber wäre es mir, wir wüssten unsere menschenwürdige Existenz abgesichert, dann könnten wir unsere Arbeiten auch so zur Verfügung stellen. Der Umgang mit den Gemälden müsste dann aber in jedem Fall mit uns Künstler:innen abgeklärt werden, um sicherzugehen, dass nichts mit ihnen geschieht, das der künstlerischen Intention zuwiderläuft. Ist Kunst frei konsumierbar (gratis öffentliche Museen, Galerien und Artotheken) und ihre Produktion gemeinschaftlich abgesichert durch öffentliche Finanzierung (Grundeinkommen), dann funktioniert sie, unabhängig von kommerziellem Interesse, als gesellschaftliches Kommunikationsmittel, kollektive Reflexion und als Bildungsbaustein. Die dafür notwendigen Umwälzungen beschränken sich nicht auf den Kunstbetrieb, sondern betreffen das ganze Gesellschaftsmodell. Es wird schwer möglich sein, uns als Künstler:innen alternativlos dem Markt zu entziehen. Stattdessen müssen wir Modelle schaffen, in denen wir möglichst unabhängig arbeiten können und zumindest selbst entscheiden, wie die Vermarktung unserer Kreativkraft aussieht.

Seit 2015 bringe ich in Wien gemeinsam mit anderen Künstler:innen das gratis Faltblatt Pirol mit Inhalten aus der bildenden Kunst und Literatur heraus. In der Regel bietet das Magazin zwei Mal im Jahr Künstler:innen, aus unserem, sich eben durch diese Publikationen ständig erweiterndem Umfeld, die Möglichkeit, ihre Positionen zu veröffentlichen. Nach einigen Ausgaben begannen wir auch mit der Organisation von gemeinschaftlichen Ausstellungen. Heute steht die Gründung eines gemeinnützigen Vereins an, der sich mit den sozialen und politischen Aspekten von Kunst auseinandersetzt und eine gemeinschaftliche, solidarische Kunst praxis fördert1. Weil wir die Präsentation unserer Kunstwerke als wichtigen Teil der künstlerischen Arbeit verstehen, überlassen wir sie nicht kommerziellen Betrieben, die nicht an der Produktion beteiligt sind, sondern setzen uns als Künstler:innen damit auseinander. Weil so ein Verein nicht gewinnorientiert funktioniert, bietet er gemeinschaftliche Strukturen, die nicht nur das Kollektiv, sondern auch jede:n einzelne:n Künstler:in stützen, ohne den Zwang der kapitalistischen Marktwirtschaft einen Gewinn zu erzielen. Erwirtschaftetes Plus kommt den Künstler:innen zu Gute. Entstehen genug von diesen kleinen Kollektiven, wachsen sie und beginnen sich untereinander zu vernetzen, sprich, organisieren sich die Künstler:in nen, erhöht sich durch kunstbetriebliche Aktivitäten abseits des Marktes der Druck auf kommerzielle Marktmechanismen.

Ich fände es gerecht, wenn Galerien den Künstler:innen, ganz unabhängig vom Verkauf, ein Ausstellungshonorar bezahlen, wie es etwa die IG Bildende Kunst fordert2. Gibt eine Ausstellung doch Anlass, durch Vernissagen und andere mit der Ausstellung verbundene Veranstaltungen, Stamm- und neue Kundschaft in ihre Räumlichkeiten einzuladen, um auch Kunstwerke aus ihrem Bestand zu verkaufen. Außerdem vertritt sie auch andere Künstler:innen und ist nicht allein von einer Ausstellung abhängig, Künstler:innen oft aber schon. Darüber hinaus bedeutet jede Ausstellung einen gewissen Aufwand und birgt das Risiko einer Beschädigung der Kunstwerke, sei es durch den Transport oder auch durch unsanfte Berührungen, zum Beispiel während des Verpackens. Faire Bezahlung und damit bessere Arbeits- und Lebensbedingungen zu fordern und weil wir sie nicht bekommen, permanent nach Förder- und Preisgeldern haschen zu müssen, hält uns von der Arbeit ab.

Auch wenn es wichtig ist, zu versuchen, unsere momentane Situation zu verbessern, indem wir um unsere gerechte Entlohnung als Künstler:innen und damit unsere Stellung innerhalb dieser Gesellschaft ringen, bleibt der Wert der Kunst weiterhin vom Markt und der unserer Arbeit von Zahlen abhängig. Kreative Arbeit muss anders gedacht werden, beziehungsweise so, wie sie ist und nicht wie sie das System haben will. Umgekehrt muss ein System gedacht werden, das kreativer Arbeit den nötigen Raum lässt und Kreativkraft als menschliches Potenzial und dessen Ausdruck als menschliches Bedürfnis versteht. Luxus kann die Produktion und Konsumation von Kunst nur in einer Gesellschaft mit stark ungleichen ökonomischen Verhältnissen sein, in der alles und jede:r zur Ware gemacht wird. Der Zugänglichkeit jener entzogen, die um ihre materielle Absicherung kämpfen, dient Kunst auf der anderen Seite den elitären Schichten, ihre gesellschaftliche Position zu festigen. Manche Kunst wird zu diesem Zweck korrumpiert, andere gerade dafür produziert.

Kunstproduktion ist politisch …

… gewollt oder nicht. Der Umgang mit Inhalten, dem Material und der Ästhetik beschränkt sich nicht auf das Kunstwerk als Produkt. Die Kunstproduktion endet nicht mit seiner Fertigstellung. Das Kunstwerk verhält sich zur Gesellschaft in Kontexten. Als Künstler:innen müssen wir uns die politische Kraft unserer Arbeit vergegenwärtigen und sie bewusst einsetzen, sonst tun es andere, entgegen unserer Intention. Wir müssen verstehen, dass unsere politische Kraft Einfluss auf die Gesellschaft hat, in der wir leben und die durch unsere Arbeit mitgestaltet wird, was durch die Kommerzialisierung der Kunst und ihre Einordnung in kapitalistische Marktprinzipien untergraben wird.

Weil das aber ein systemisches Problem ist, das alle gesellschaftlichen Bereiche betrifft, kommt uns die Verantwortung zu, durch unsere künstlerische Praxis politisch aktiv an einem gesellschaftlichen Systemwandel zu arbeiten, der letztlich emanzipatorische Auswirkungen auf unsere künstlerische Praxis haben wird.

Für das gemeinschaftliche Leben bedeutet jede kreative Auseinandersetzung Bereicherung. Sie bereichert unser Nachdenken, die Art, wie wir reflektieren, über uns selbst und andere. Sie fördert Empathie und innovative Lösungsstrategien. Sie erhöht unsere Zufriedenheit, weil wir uns durch den kreativen Prozess aus drücken können und lernen. Wir treten dadurch in Kontakt mit der Außenwelt, in Kommunikation und Relation und lernen, durch die Materialisierung unserer manchmal chaotischen Emotionen und Gedanken, genau diese zu konkretisieren, was sich positiv auf unser Selbstwertgefühl auswirkt.

Wenn alle Menschen den ideellen und materiellen Zugang zur Kunstproduktion haben, jede Hierarchie aus dem Kunstgeschehen abgebaut ist und unabhängig von Ausbildung, Lebenslauf, Prestige oder familiärem Hintergrund, die künstlerische Arbeit aller allen zur Verfügung steht, also ein selbstverständlicher, allgegenwärtiger Austausch von persönlichen Ein- und Ausdrücken stattfindet und das alles ohne Einfluss marktwirtschaftlicher Prinzipien, dann sind wir nicht mehr von einer Elite abhängig, die uns sagt, was Kunst ist und wie sie zu sein hat, sondern bestimmen es selbst, jede:r für sich, gemeinschaftlich: Unser gesellschaftlich-demokratisches Kunsterlebnis.

1 multi pull – Verein zur Förderung einer gemeinschaftlichen Kunstpraxis wurde 2022 von kreativ, sozial und politisch aktiven Menschen gegründet. multi pull widmet sich der Förderung einer gemeinschaftlichen Kunstpraxis. Voraussetzung dafür ist das individuelle Tun und seine Erweiterung in einen gesellschaftspolitischen Kontext. Angesichts des Spannungsverhältnisses von kapitalistischen Marktinteressen, der Exklusivität der Kunstbranche und dem erschwerten Zugang zu künstlerischer Produktion für Menschen mit geringen finanziellen Mitteln setzt multi pull die Selbstorganisation und gegenseitige Unterstützung der Akteur:innen in den Mittelpunkt der Aktivitäten. Durch Vermittlungsformate wie Ausstellungen und Publikationen und durch das Zustandekommenlassen von selbstverwalteten Räumen sollen Alternativen zum kommerziellen Galerie- und Kunstbetrieb gefördert, sichtbar gemacht und entwickelt werden. Dem exklusiven Verständnis von Kunst wird die Frage und gleichzeitige Forderung nach einem demokratischen Kunstgeschehen entgegengesetzt. https://multipull.cargo.site

2 IG Bildende Kunst und Tiroler Künstler:innenschaft (Hrsg.) (2008): Leitfaden für faire Bezahlung in der bildenden Kunst. Empfehlungen für Basissätze in der selbstständigen Arbeit. http://igbildendekunst.at

Erstmals erschienen im UND - Heft für Alternativen, Widersprüche und Konkretes, Ausgabe 12 2022. Danke, Jasmin, Charlotte, Claudia und Walter.

AA FB share

Barbara Urbanic über politische Strategien und transnationale Bündnisse ultrakonservativer Christ:innen

Die seit 2021 in Kraft getretene, massive Einschränkung des Zugangs zu Abtreibung in Polen und die Aufhebung von Roe vs. Wade durch den US Supreme Court 2022 sind Folge von jahrelangem Aktivismus christlicher Abtreibungsgegner:innen. In ganz Europa formiert sich eine neuartige Christliche Rechte, die Bündnisse zwischen konservativen Christ:innen fördert, international bestens vernetzt und um Einfluss in Gesellschaft und Politik bemüht ist.

Der Begriff »Christian Right« kam Ende der 1970er in den USA auf, als fundamentalistische Evangelikale und konservative Katholik:innen sich in einem Abwehrkampf gegen die säkulare, progressive Gesellschaft wähnten und Anschluss in der Republikanischen Partei fanden. Anti-Abtreibungsaktivismus dient als single issue, das unterschiedliche Gruppierungen eint, meist als Frage des »Lebensschutzes« geframt ist, aber im weiteren Kontext sozial- und sexualmoralischer Überzeugungen zu verstehen ist.

Anti-Genderismus und ein »Christliches Europa«

In der Forschung etabliert sich zunehmend der Begriff Anti-Genderismus für dieses Bündel an Positionen wie Antifeminismus, Transfeindlichkeit, Ablehnung von Homosexuellenehe und restriktiver Sexualmoral. Zugrunde liegt dem ein streng binäres, essentialistisches Geschlechterbild und eine komplementäre, aber hierarchisch-patriarchale Geschlechterordnung. Die heterosexuelle Kleinfamilie unter Führung des Mannes gilt als einzig möglicher (weltlicher) Lebensentwurf und Rahmen für Sexualität. »Frausein« wird in dieser Konstruktion mit Mutterschaft gleichgesetzt, eine Abtreibung ist somit wider die – gottgewollte – Natur. Frauen werden dabei oft als Opfer des gesamtgesellschaftlichen Sittenverfalls verstanden.

Von der Gesellschaftskritik kann eine Verbindung zu einem anderen zentralen Leitmotiv der Christlichen Rechten hergestellt werden, nämlich der Konstruktion eines »Christlichen Europas« vor allem durch »othering« via antimuslimischem Rassismus. Die Frage nach Kontrolle über Gebären ist letztlich auch Demografie. In beiden Themenbereichen bestehen

Anknüpfungspunkte sowohl in die gesellschaftliche Mitte, wo der »Genderwahn« und Häme über »Multikulti« dankbare Themen im Feuilleton sind, als auch zur extremen Rechten, die sich in den letzten Jahrzehnten zunehmend auf ein unspezifisches Christentum als Identitätsmarker bezieht und Anti-Genderismus mit der rassistischen Verschwörungstheorie des »Großen Austausches« verbindet.

Neue Strategien und Vernetzung, alte Seilschaften?

Die Definition von »christlich«, die zur Anwendung kommt, ist konfessionell offen, die Zusammenarbeit zwischen verschiedenen Gruppierungen und Kirchen erwünscht. Gleichzeitig erfolgt eine Abgrenzung zu liberaleren Mitgläubigen auf politischer, nicht religiöser Basis. Ein Aktivismus in Form von Kampagnen und Events hilft, die theologischen Differenzen zwischen einzelnen Konfessionen auszublenden. Anliegen – wie etwa das Ziel, Abtreibungen gänzlich zu verbieten – werden in säkulare Sprache gepackt, die mit einem demokratischen, politischen Diskurs und der Trennung von Staat und Kirche vereinbar sind. Statt mit »göttlichem Willen« wird mit der vermeintlichen Naturgesetzhaftigkeit der erwünschten Gesellschaftsordnung argumentiert. Strategisch werden kleine Schritte in Richtung des politischen Ziels verfolgt (etwa eine Verschärfung beim Zugang zu Spätabbrüchen), die unter Ausschöpfung der politischen Mittel und der Möglichkeiten des demokratischen Rechtsstaats diesen zunehmend aushöhlen. Die Strategien werden nicht nur auf nationaler Ebene, sondern auch im Kontext transnationaler Organisationen eingesetzt, um politische Interessen der Christlichen Rechten durchzusetzen.

So ist seit 2013 die Organisation »Ordo Iuris« treibende Kraft in den anti-genderistischen Gesetzesänderungen in Polen – von de facto Abtreibungsverbot, über »LGBTQ-freie Zonen« – und einer Kampagne zum Ausstieg aus der Istanbul Konvention gegen Gewalt an Frauen. Ordo Iuris wurde anfangs von der international agierenden »Gesellschaft zur Verteidigung von Tradition, Familie und Privateigentum« (TFP) finanziert. Die rechts-katholische TFP wurde in Brasilien gegründet und engagierte sich ursprünglich vor allem gegen eine Bodenreform und die marxistisch beeinflusste lateinamerikanische Befreiungstheologie. Ein anderer transatlantischer Player mit Hauptbetätigungsfeld in Osteuropa im Netzwerk der Christlichen Rechten ist »World Congress of Families« (WCF), eine Organisation, die 1997 von amerikanischen und russischen Konservativen gegründet wurde und jährliche Treffen veranstaltet, die eine Mischung aus ultrakonservativen Amtsträgern verschiedener christlicher Kirchen, Adeligen, Unternehmer:innen, Oligarch:innen, Lobbyist:innen und rechten Politiker:innen vernetzt. Nicht zuletzt verbindet einen Großteil der Akteur:innen auch ein robuster Anti-Kommunismus.

Auf europäischer Ebene wurde 2013 »Agenda Europe« aktiv, ein hinter den Kulissen agierendes Bündnis, das als eine Art Think Tank für die Christliche Rechte in Europa dienen soll. Die Spanische Stiftung »CitizenGo« hingegen stellt eine Plattform für Online-Petitionen mit rechtskonservativen, christlichen Inhalten zur Verfügung. Die Verbindung nach Österreich läuft in beiden Fällen über die ÖVP-Nationalratsabgeordnete Gudrun Kugler.

Während alle diese Organisationen umfassendere Programme haben, mit unterschiedlicher Schwerpunktsetzung, aber entlang der Thematik der »natürlichen Familie« und den demografischen Implikationen für ein »christliches Europa«, ist Abtreibung zentrales Kampagnenthema – auch in der österreichischen Christlichen Rechten.

Christliche Rechte in Österreich: Marschieren gegen Abtreibung

In Wien finden alljährlich zwei Demonstrationen der christlichen Abtreibungsgegner:innen statt: der »Marsch für die Familie« am Tag der Pride-Parade und der »Marsch für das Leben«. Die erstgenannte wird von rechtskatholischen Vereinen getragen – etwa der »Österreichischen Gesellschaft für Tradition, Familie und Privateigentum« und »Human Life International Österreich« – beides nationale Vertreter:innen großer internationaler Organisationen. Als Veranstalter tritt der Verein »Pro Vita« auf, der auch andere Kundgebungen mit teils rechtsextremer Beteiligung mitorganisiert, wie z. B. die Feier am Kahlenberg zur »Befreiung« von der 2. Türkenbelagerung und zuletzt auch Aktionen der Corona-Maßnahmen-Gegner: innen. Der Forderungskatalog umfasst neben dem Abtreibungsverbot auch das Verbot gleichgeschlechtlicher Ehe, von Sexualerziehung in Schulen oder ein »Müttergehalt« statt Kinderbetreuung außerhalb der Familie.

Deutlich anschlussfähiger an den religiösen und politischen Mainstream ist der »Marsch für das Leben«, der in ähnlicher Form in vielen deutschsprachigen Städten stattfindet und von kirchlichen Würdenträgern und konservativen Politiker:innen besucht wird. Ursprünglich handelte es sich um eine katholische Veranstaltung, doch mittlerweile werden in Verbindung mit dem Marsch neben der Messe auch ein evangelikaler Gottesdienst und eine orthodoxe Liturgie abgehalten. An beiden Veranstaltungen beteiligt sich zumindest seit 2022 der stark von Identitären geprägte Ring Freiheitlicher Jugend Wien.

Als 2018 die parlamentarische Bürger initiative »#fairändern« begann Unterschriften zu sammeln, war ein Zusammenhang mit christlichem Anti-Abtreibungsaktivismus über die Formulierung der Inhalte nicht erschließbar. Gefordert wurde die Einführung einer Abtreibungsstatistik inklusive Motiverfassung, ein verpflichtendes Beratungsgespräch, das Alternativen zur Abtreibung darlegt und eine Stehzeit zwischen Beratung und Eingriff, weiters das Ende der Straffreiheit für Spätabbrüche bei embryopathischer Indikation. Die involvierten Personen zeigten jedoch, dass #fairändern der Anti-Choice-Bewegung zuzurechnen ist. Unterstützung erhielt die Bürgerinitiative u. a. von katholischen Amtsträgern und Politiker:innen der ÖVP und FPÖ, beide zu der Zeit Regierungsparteien. Letztlich sammelte #fairändern 55.309 Unterschriften und wurde 2021 im Nationalrat mit »zur Kenntnis genommen« erledigt. Für Aufsehen sorgte, dass die ÖVP-Ministerinnen Susanne Raab und Christine Aschbacher zur gleichzeitig debattierten Initiative »Fakten helfen!« von Aktion Leben, die eine Motivstatistik forderte, Unterstützungsstatements abgegeben hatten.

Zusammenfassend lässt sich für die christliche Anti-Choice-Bewegung in Österreich sagen, dass es seit einigen Jahren eine neuartige Form des Aktivismus gibt, die sich die Strategien der transnationalen Christlichen Rechten zu eigen macht: Kampagnenarbeit, breite Allianzen mit anderen christlichen Gruppierungen (v. a. Zusammenarbeit von katholischen und evangelikalen Akteur:innen unter Ausklammerung der Evangelischen Kirche), eine Formulierung und Präsentation der Anliegen, die deren religiösen Gehalt minimiert und nicht zuletzt der Versuch, den Zugang zu Abtreibungen schrittweise und mit Mitteln des demokratischen Rechtsstaats einzu-schränken. Bei aller Mäßigung des Stils ist ein ausgeprägter Anspruch auf gesamtgesellschaftlichen Einfluss zu konstatieren. Die ÖVP, nicht die sich vermehrt »christlich« gebende FPÖ, dürfte weiterhin die Partei des christlichen Lagers sein. So weist sie Aktivist:innen der Christlichen Rechten in ihren Reihen auf – neben Nationalratsabgeordneter Gudrun Kugler z. B. auch die Wiener Gemeinderatsabgeordnete Caroline Hungerländer und Jan Ledóchowski, »Sprecher für Christdemokratie« im Wiener Rathausklub. Bei Themensetzung, Strategien und Bündnissen reiht sich die Christliche Rechte in Österreich in europäische Entwicklungen ein und es ist mit keinem Ende des Engagements gegen Abtreibung und den Bemühungen, Vernetzung und politische Wirkmacht weiter auszubauen, zu rechnen.

Barbara Urbanic hat in Wien und Tübingen Religionswissenschaft und Geschichte studiert. Sie beschäftigt sich mit der Entwicklung der Christlichen Rechten in Österreich und hat am Länderkapitel zu Österreich für den Anfang 2023 erscheinenden Sammelband The Christian Right in Europe: Movements, Networks and Denominations mitgeschrieben. Kontakt: Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein!

AA FB share

von Margit Appel

Der Rechnungshofbericht zeigt eine teilweise Überförderung von Unternehmen im Rahmen der Covid-19-Hilfen auf. Manche wollen auch im jüngst ausbezahlten Klimabonus und Teuerungsausgleich wieder eine Überförderung sehen und rufen auf, ihn zu spenden. Welche Zugänge zeigen sich?

Nun bestätigt auch der Endbericht des Rechnungshofes über die Cofag-Gebarung was schon der Rohbericht zeigte: eine teilweise Überförderung von Unternehmen im Rahmen der im Jahr 2020 ausbezahlten Covid-19-Hilfen. Bei einzelnen Unternehmen entstanden so höhere Gewinne als im Vergleichszeitraum vor der Pandemie. Obwohl der Zugang zu den Hilfen, ihre Ausgestaltung und die erreichbaren Beträge im EU-Ländervergleich sehr großzügig gestaltet waren, taten sich Unternehmen auch noch mit »unerwünschtem Optimierungsverhalten«, wie es im RH-Bericht heißt, hervor. Denn: beim Umsatzersatz, so fasst Luise Ungerboeck den RH-Bericht zusammen, mussten weder der tatsächliche Umsatzausfall, ein Liquiditätsengpass noch Zahlungsschwierigkeiten »belegt oder plausibilisiert« werden – die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Branche reichte aus, um die finanziellen Hilfen beziehen zu können.

Wie? In einem Staat in dem ohne »Bedürftigkeitsprüfung« im »untersten sozialen Netz«, das ja wohl so genannt wird, weil es um Menschen in konkreten Notsituationen geht, keine Hilfen fließen, scheinen Unternehmen bevorzugte »Kunden« des Staates zu sein. Die Geschäfte, Restaurants, Hotels und Produktionsbetriebe waren ab dem Frühjahr 2020 gut hörbar sehr unzufrieden mit der Regierungsgebarung in Sachen Kurzarbeitsbeihilfen, Umsatzersatz, Fixkostenzuschuss, Ausfallsbonus und Co. Alles ging zu langsam, war zu bürokratisch, mutete Anträge zu und war jedenfalls zu wenig. Vieles an dieser Kritik mag richtig gewesen sein, befand man sich doch in einer neuartigen Krisensituation, die die Regierung und die Institutio-nen des Staates in vielfältiger Weise forderten. Dass die Kritik so vehement ausfiel und ihr nicht der Atem ausging, lag am hohen Organisationsgrad der Betroffenen. Die Lobbies waren da. Man brauchte nur den professionellen Apparat der diversen Interessensvertretungen tätig werden lassen und sich mit den Sozialpartnern kooperativ stellen. In einer solchen Krisensituation würden doch alle so handeln!

Alle? Die jetzt beschlossene Valorisierung der Sozialleistungen ist kein Kind der Covid-19-Pandemie, sondern der Inflation und der Energiekrise. Das Arbeitslosengeld wird nicht valorisiert, Disziplinierung für die im erwerbstätigen Alter muss sein. Die meist schlecht bezahlten »SystemerhalterInnen« im Handel, der Pflege, im Spital, in der Reinigung, im Kindergarten müssen sich weiter »risikoavers« verhalten, das heißt sie können gegen unfaire und belastende Arbeitsbedingungen kaum auftreten, weil sie sich den Einkommensverlust, den Arbeitslosigkeit bedeutet, nicht leisten können. Überförderung? Bei diesen Gruppen weit und breit nicht in Sicht. Gut organisierte, durchschlagskräftige Lobbies? Einige tapfere selbstorganisierte Gruppen von Erwerbslosen, lauter werdende Gewerkschaften im Bereich Pflege, Gesundheit, Elementarpädagogik, Plattformen für die Interessen Alleinerziehender, in der Armutskonferenz organisierte Armutsbetroffene. Nicht gerade die »Klientel«, die von dieser Regierung vorrangig beachtet wird.

Da müsste es wohl zu begrüßen sein, wenn jetzt wenigstens für jene, die schon gar nicht mehr aus und ein wissen und sich an eine soziale Hilfsorganisation wenden müssen, Erfreuliches winkt. Die Caritas hat mit ihrem Aufruf, den Klimabonus zu spenden, wenn man ihn selbst nicht braucht, scheinbar großen Erfolg. Wie eine Kolumnistin der Stadtzeitung Falter vermelden kann, seien schon weit über 100.000 Euro eingenommen worden – sie mache gerne Werbung für diese Aktion: »Damit es für manche nicht gar so grimmig wird«. Grimmig ist es aber schon! Etwa für die 25 Prozent der Haushalte, die laut WIFO und Fiskalrat schon vor der Inflations- und Energiepreiskrise von ihrem Einkommen ihre Alltagsausgaben nicht mehr decken konnten, über 30 Prozent sind es mittlerweile. Die 200 Personen, die bislang ihren Klimabonus und Teuerungsausgleich der Caritas gespendet haben, werden da nur wenig zum Ausgleich beitragen. Die Falter-Kolumnistin zählt auf, welche bekannten Leute sich in »500 Euro Klimabonus. Brauch i das? Oder Caritas?«-Spots in den Dienst der scheinbar guten Sache gestellt haben. Hilde Dalik, Ursula Strauss, Barbara Stöckl, Michael Ostrowski, Josef Hader, Dirk Stermann deklarieren sich somit als überfördert. Nicht weil sie in der Covid-19-Pandemie als Kulturschaffende zu viele Covid-Hilfen bezogen haben oder unter Umständen vom »Familienbonus« oder der Extra-Familienbeihilfe profitieren, sondern weil sie – so wie alle Menschen, die ihren Hauptwohnsitz 2022 für mindestens sechs Monate in Österreich haben – einen Ausgleich erhalten haben für die eben ein geführte CO2-Steuer.

Die Aktion der Caritas hat eine falsche Stoßrichtung. Sie unterläuft eine neue politische Maßnahme und eine staatliche Leistung, die als jährlich auszuzahlender Ausgleich für die anfallenden Kosten durch die CO2-Steuer ausgestaltet ist: ein Instrument, an das wir uns gerade gewöhnen sollen, ja müssen, weil es ein wichtiger Baustein einer Transformation ist, die uns weg bringen soll von den fossilen Energieträgern. In den Folgejahren wird dieses Instrument zur Akzeptanz dringlicher klimapolitischer Maßnahmen dann gestaffelt sein nach der regionalen Verfügbarkeit öffentlichen Verkehrs. Nicht nach sozialen Gesichtspunkten. Man möge aber nicht so tun, als ob Menschen mit sehr gutem Einkommen oder Vermögen nicht gerne staatliche universelle Leistungen in Anspruch nehmen würden und das ist ja auch in Ordnung so. Egal ob Fami lienbeihilfe, Gratisschulbuch, SchülerInnen- und Studierendenfreifahrten, erst recht Steuergestaltungsmöglichkeiten wie Familien bonus oder AlleinverdienerInnen-Absetz betrag, PensionistInnen-Ermäßigungen, u. a. m.: vom großen Opting-Out hat man nichts gehört und es wäre auch bedenklich, weil der Sozialstaat mit seiner Vielzahl an Leistungen umso besser akzeptiert ist, umso mehr Belastungen der unterschiedlichsten Art (Unfall, Krankheit, Verantwortung für Kinder, Pflege, Formen von Einkommensverlust, …) für alle ausgeglichen werden.

Die scharfen Verteilungsfragen, die sich im Zuge der Transformation, in der wir drin sind, stellen, brauchen verteilungspolitische und keine wohltätigkeitsbasierten Lösungen. Wenn Einzelpersonen einfach so Geld, das sie nicht zum Leben brauchen, spenden – an welche Organisation auch immer – ist das ihre private Sache. Das machen viele Leute, die gar kein besonderes Einkommen haben auch. Wenn sich soziale Organisationen in ihrem Bemühen um die Erhöhung des Spendenaufkommens auf das klischeehafte Bild von der Gießkanne drauf setzen und damit das unsägliche Argument von der fehlenden Treffsicherheit bespielen, ist das mehr als unglücklich: es ist eine seltsam unpolitische Vorgangsweise für eine Organisation, die ansonsten anwaltschaftlich sehr wohl für politische Lösungen eintritt und eintreten muss.

Überförderte Unternehmen und zu Unrecht geförderte Nichtregierungsorganisationen, KlimabonusspenderInnen und um Spenden werbende Organisationen, politisch Verantwortliche sowieso sind alle angefragt, aus der ihnen jeweils aufgegebenen Verantwortung heraus und nach ihrem Vermögen zu einer strukturellen – das heißt systematischen und dauerhaften – Lösung der bestehenden und sich gerade wieder als drängend erweisenden Verteilungsprobleme beizutragen.

Margit Appel, Politikwissenschafterin, als freie Autorin und Referentin in der politischen Erwachsenenbildung tätig.

AA FB share

Das Gebiet, das heute an Italien, Slowenien und Kroatien grenzt, war schon immer mehrsprachig und multikulturell. In den letzten Jahrzehnten ist es geradezu zu einem Thermometer geworden, von dem die Fieberkurve der italienischen Rechten abgelesen werden kann. Diese hat das Grenzgebiet zum Brennpunkt ihres Geschichtsrevisionismus gemacht. Von Piero Purich

Jahrhundertelang benutzten die Menschen an der Oberen Adria unterschiedliche Sprachen, redeten italienisch, slowenisch, kroatisch, deutsch, furlanisch, in venezianischen Dialekten, istriotisch, häufig in gegenseitiger Beeinflussung. Viele Kinder aus Mischehen gehörten mehreren auf dem Territorium präsenten Kulturen an, waren im engeren Umkreis in einen, am Arbeitsplatz in einen anderen sprachlichen Kontext eingebunden.

Dieses Gleichgewicht wurde mit dem großen Krieg und der anschließenden Annexion des Territoriums durch Italien zerstört, das sich die Homogenisierung der gesamten Bevölkerung in eine einzige ethnonationale Gruppe, die italienische, zum Ziel setzte. Ab 1918 wurde mit zunehmender Gewalteskalation und Verboten, gerichtet vor allem gegen die slowenische, kroatische und deutschsprachige Bevölkerung, eine »ethnische Rekultivierung«, sprich erzwungene Italianisierung betrieben, die bis zum Ende des 20. Jahrhunderts andauerte.

 

Zweiter Weltkrieg

Am 1. Mai 1945 drangen die jugoslawischen Partisaneneinheiten in Triest und dem Rest des Territoriums ein. Sie waren Angehörige einer von den Alliierten anerkannten Befreiungsarmee, in deren Reihen neben JugoslawInnen auch italienische AntifaschistInnen vertreten waren. Die jugoslawische Armee, wie alle alliierten Armeen, nahm feindliche SoldatInnen, deutsche und italienische KollaborateurInnen, gefangen und internierte sie in Jugoslawien. Hier wurden sie identifiziert, ihre Rolle in den faschistischen Einheiten festgestellt. Diejenigen, denen Kriegsverbrechen zur Last gelegt wurden, wurden verurteilt – teilweise zum Tode. Die meisten Gefangenen wurden innerhalb einiger Monate in die Freiheit entlassen, allerdings hatten die schlechten sanitären und hygienischen Bedingungen in den Lagern den Tod vieler zur Folge gehabt.

Wie überall in Europa kam es in den Tagen der Befreiung auch in dieser Region zu summarischer Justiz und persönlichen Rachefeldzügen gegen FaschistInnen, die UnterstützerInnen der Besatzer und jene, die über zwanzig Jahre lang die Bevölkerung – sowohl aus politischen als auch aus nationalistischen Motiven – schikaniert und terrorisiert hatten. In manchen Fällen wurden die Opfer der Racheakte in Karsttrichter (Foibe) geworfen, d. h. in vertikale Höhlen, die mehrere Dutzend Meter tief sein können. 162 dieser Leichen wurden später von Triestiner Stellen, etwas mehr als zweihundert von istrischen geborgen.

Grausames Nachspiel

Die Gesamtzahl der vermissten Personen (einschließlich jener, die als SoldatInnen in der Gefangenschaft verstorbenen waren, sowie der Opfer der Nachkriegsrache, aber auch jener Menschen, von denen man nichts weiß und die auch in früheren kriegerischen Auseinandersetzungen umgekommen sind) schwankt zwischen 1.200 und 1.800; diese Zahl ähnelt jenen in den anderen Regionen Norditaliens. In der Emilia etwa gab es im Showdown gegen die FaschistInnen 3.000 Opfer.

Nach dem Fall der Berliner Mauer rückten die Foibe in den italienischen Medien plötzlich wieder in den Vordergrund. Nach der Auflösung Jugoslawiens und dem Selbstmord der Kommunistischen Partei Italiens gingen die NeofaschistInnen daran, sie zur Grundlage eines neuen italienischen Staatsmythos zu machen. Ein Opferparadigma wurde ersonnen, das alle vorangegangene italienische Verantwortung für Verbrechen in Jugoslawien auslässt: Die Opfer in den Abgründen sind keine in Gefangenenlagern an Krankheiten gestorbene SoldatInnen oder wegen ihrer abscheulichen Taten hingerichtete KollaborateurInnen mehr, sondern einfach ItalienerInnen – »Als ItalienerInnen getötet« und/oder »Opfer der slawischen kommunistischen Barbarei«.

Institutionalisierter Revisionismus

Der diesbezügliche historische Revisionismus ist mittlerweile institutionell geworden: 2004 hat der italienische Staat den 10. Februar offiziell als »Tag der Erinnerung« (Giorno del Ricordo) eingeführt (mit deutlich antagonistischem Bezug zum Internationalen Tag des Gedenkens an die Opfer des Holocaust am 27. Januar), der eine Parallele zwischen der Shoah und den Foibe intendiert, so dass sogar von einem »istrianischen Holocaust« gesprochen werden darf. Widerstand dagegen leisteten im Parlament lediglich die wenigen kommunistischen Abgeordneten.

Seit 2004 ist der italienische Tag des Gedenkens der einzige staatliche Gedenktag in Europa, der FaschistInnen ins Gedenken mit einbindet. (Man stelle sich vor, der deutsche Staat würde die Toten der SS feiern, zusammen mit den SoldatInnen der Wehrmacht, und dabei die Vertriebenen gleich miteinbeziehen.) Er ist zu einem echten Tag des faschistischen Stolzes geworden. HistorikerInnen, die versuchen, das Geschehene objektiver zu betrachten, werden als LeugnerInnen gebrandmarkt, vielen von ihnen wurde verboten, in den Schulen öffentlich darüber zu sprechen. Filme, Fernsehdramen und Theateraufführungen propagieren eine völlig ahistorische Sichtweise, aufbereitet für die durchschnittlichen italienischen ZuschauerInnen, die keine Gelegenheit oder keinen Willen hatten, sich mit der Genese der Grausamkeiten vor, während und nach dem Krieg zu beschäftigen und die der fast dreißig Jahren früheren faschistischen Gewalt unwissend, gleichgültig oder billigend gegenüberstehen.

Leider sind sogar die höchsten institutionellen Ämter diesen Interpretationen gefolgt: Im Februar 2007 sprach Präsident Napolitano (ehemaliger Kommunist, in den 1970er Jahren verantwortlich für die Beziehungen der Kommunistischen Partei Italiens zu Jugoslawien) in seiner offiziellen Rede von »rasendem Blutdurst«, »Barbarei« und »slawischer Annexion«, was die Empörung des kroatischen Präsidenten Mesić hervorrief, der ihm ausgeprägte »rassistische Phrasen« vorwarf. 2020 war es Mattarella, der von ethnischen Säuberungen sprach (das Risiko, damit einen diplomatischen Zwischenfall mit dem slowenischen Präsidenten Pahor zu provozieren, wurde umschifft, indem man in Bazovica – ganz auf EU-Linie – gemeinsam sowohl der Opfer in den Foibe als auch der Opfer des faschistischen Terrors gedachte und sich auf etwas gemeinsames Drittes einigte: auf die Verurteilung des Terrors der slowenischen bzw. jugoslawischen »kommunistischen PartisanInnen«). Unterwerfung unter die Rechten auch in der Sprache: Leise wird für die Obere Adria bereits der Begriff »Ostgrenze« verwendet, was dieser multikulturellen Region einen italienischen Charakter oktroyiert.

Die institutionelle Linke in Italien ist heute nicht imstande, ihre eigenen kulturellen Linien zu produzieren, die Verarmung historischer, politischer und sozialer Analysen ist deprimierend (vor allem, wenn man bedenkt, welche hervorragenden Intellektuellen beiderlei Geschlechts die italienische Linke hervorgebracht hatte), die Unterwerfung unter das Narrativ der Macht ungebremst.

Kapitalistischer Autoritarismus

Italien driftet nach rechts ab, und das nicht erst seit Meloni. Besonders sichtbar geworden ist das angesichts des kriminellen Verhaltens der Behörden während des G8-Gipfels in Genua im Jahr 2001, fortgesetzt wird es mit der fortschreitenden Umwandlung der VertreterInnen des Staates (in erster Linie des Präsidenten der Republik und der höchsten Ämter der Justiz) in BefehlsvollstreckerInnen von WirtschaftspotentatInnen. Die Draghi-Regierung legte unter dem Vorwand der Covid-Krise und des Krieges in der Ukraine den Grundstein für einen neuen autoritären Staat, der finanziell direkt vom Kapital kontrolliert wird. Das Parlament wurde durch einen verfassungsrechtlich gar nicht vorgesehenen Ausnahmezustand weit gehend entmachtet. Die Gewerkschaften haben sich vollständig an Regierungsentscheidungen ausgerichtet, Privatisierungsmaßnahmen von öffentlichem Vermögen wurden genehmigt; die meisten Medien sind – mit ganz wenigen Ausnahmen – zu einem Propagandainstrument für neoliberale Orientierungen geworden. Bei den letzten Wahlen war die Reaktion der BürgerInnen auf all dies hauptsächlich Enthaltung (ein Drittel der Stimm berechtigten ging nicht zur Wahl) oder die instinktivste Antwort: Wähle direkt die neofaschistische Rechte, die einzige Formation, die sich im Parlament gegen die Draghi-Regierung gestellt hat. Die Situation ähnelt jener in den 1920er Jahren, als das Finanz- und Industriekapital die Faschisten kooptierte und die Drecksarbeit machen ließ; heute will es nicht die historische Verantwortung tragen für die Umwandlung des Landes in einen Polizeistaat, verbunden mit der zunehmenden Prekarisierung des Proletariats und der Mittelschicht, der Rechte der BürgerInnen und ArbeiterInnen, des Sozialstaats sowie mit der totalen Anpassung der Außenpolitik an die Positionen der NATO.

Die gezielte Erosion der Demokratie und Volkssouveränität ist dabei, ihr Gesicht zu ändern: Um die KetzerInnen zu beruhigen, gibt es nicht mehr den respektablen Inquisitor, sondern einen Henker mit Kapuze. Die Einführung des »Giorno del Ricordo« ist keinesfalls nur ein historischer Revisionismus.

Piero Purich ist Historiker, Musiker und Lehrer. Sein Hauptinteresse gilt der Migration, der Vertreibung und dem Einsatz von Propaganda zur Umsiedlung von Bevölkerungsgruppen, insbesondere im nordadriatischen Raum. Verfasser mehrerer Bücher und Artikel in europäischen Zeitschriften. 2017 nahm er seinen ursprünglichen Nachnamen an, der während des Faschismus in Purini italianisiert wurde. Unterrichtet Geschichte am Carducci-Dante-Gymnasium in Triest.

AA FB share

Hungerrevolten und Sozialdemokratie. Robert Sommer über den Herbst 1911 in Wien. Das Jahr, in dem das Subproletariat vor lauter Hunger vergaß, dass die Demonstration rechtzeitig vor dem nicht vorhandenen Mittagsessen beendet sein musste.

Der Brotkrustenkrieg. Die Gaspreisrandale. Die Milchrebellion. Der Speckschwartlaufstand. Teuerungskrawalle. Günstiges Kakerlakenklima. Das sind die Schlagzeilen des kommenden Jahres. Du Mob, ich Mittelschicht. Das wird der Irrtum des Jahres 2023 sein. Die einzige Prognose aber, auf die man wirklich setzen kann: Die Werktätigen werden von der Sozialdemokratie zurückgehalten werden wie schon 1911, 1918 oder 1934. Die ewig gleiche Parole lautet: »Warten wir den richtigen Zeitpunkt ab, Genossen!«

1911 hatten die Lebensmittelpreise und die Wohnungskosten in Wien eine Dimension erreicht, die dem Sodawasser eine neue Bedeutung verlieh (Quelle fehlt). Auf manchen Heurigentischen sah man nur mehr die weltweit in Wien bekannte Siphonflasche stehen. Die Frauen schleuderten Bierkrügel aus den Fenstern, wenn die Dragoner in ihre Gasse bogen. Glas zersplittert, die Kavallerie wiehert, die Bosniaken fluchen serbokroatisch und die Gasse klatscht. Das ist der Sound der Hungerrevolte.

Das Jahr war gefüllt mit Trauma-Material und Millionen Gründen, die Hand an sich zu legen.

Das einzige Antidepressivum, das kein Placebo war, hieß Revolte. Revolten können aber tödlich sein. Otto Bauer zu den Hungerunruhen 1911: »Zum ersten Mal seit dem Oktobertag 1848, an dem die Truppen Windischgrätz die Hauptstadt dem Kaiser wiedererobert haben, ist in Wien auf das Volk geschossen worden. Was selbst in den gewaltigsten Stürmen des Wahlrechtskampfes nicht geschehen ist, hat sich am 17. September 1911 in Wien ereignet. In ganzen Stadtvierteln blieb kein Haus, kein Fenster, keine Laterne unversehrt. In dem Proletarierviertel Ottakring wurden Schulgebäude und Straßenbahnwagen in Brand gesetzt. Barrikaden wurden gebaut, die Truppen schossen auf das Volk.«

Der Zi-Kü-Ka-Standard war voller Leute. Die Mehrzahl bestand aus Bettgehern. Nur durch die Beiträge der Bettgeher konnte die Familie die Miete bezahlen. Es war gut, dass die Kinder die meiste Zeit im Niemandsland der Schmelz waren, die damals noch unverbaut war. Die Schmelz war eine Universität der Delinquenz. Lasst euch nicht von der Polizei erwischen, war der Abschiedsgruß. Die Kinder brauchten das Bett nur im Winter, gottlob. Es waren drei Kinder in der Familie. Sie schliefen zu dritt in einem Bett. Das Bett war 1,20 Meter breit. Jedes Kind hatte 40 Zentimeter. Von den 20 Bettgehern in dieser Wohnung beschuldigte jeder jeden, verantwortlich für den unerträglichen Gestank zu sein. Und klagte jeden an, gestohlen zu haben. Das war kein Freundeskreis.

Die Angst vor der eigenen Courage ist konstituierendes Merkmal der Weltverbesserungsschadensversicherungsanstalt SDAP. Hätte eine angstbefreite Linkspolitik den Umstand, dass eine halbe Million Wienerinnen sich von dem ermordeten Working Class Hero Franz Schuhmeier verab-schiedete, auf sich wirken lassen können? Und sich die Frage stellen müssen, welche Bedingungen eigentlich noch fehlen, um endlich einen angewandten Austromarxismus in die Wege zu leiten?

Neben den »logischen«, geradezu obligaten Außenfeinden der Sozialdemokratie (Lueger, Monarchie, Kapitalist:innen und Klerus) waren von schräg unten neue politische Subjekte emporgewachsen. Die Freude der sozialistischen Funktionär:innen über die Erweiterung des Widerstandsspektrums in der Hungerrevolte hielt sich in Grenzen, weil der Monopolanspruch der Sozialdemokratie auf Linkspolitik damit in Frage gestellt war.

Die Anarchie der Vorstadt

Die Polarisierungen im Linksdenken und Linkshandeln äußerten sich in den einander ausschließenden Bedeutungen der Phrase Die »Anarchie der Vorstadt« (so auch der Titel des Buches von Wolfgang Maderthaner und Lutz Musner, Campus Verlag). Die einen assoziierten: Vandalismus, Chaos, Gesetzlosigkeit, Unsittlichkeit, Verwahrlosung. Die anderen träumten von einem Ersatz der Fürsprecher:innen durch die Selbstsprecher:innen, von der Umwandlung der repräsentativen Demokratie zur Basisdemokratie, für eine Welt ohne Hierarchien.

Die Frauen sind es, heute mehr denn je, die die schweren Einkaufstaschen tragen. Noch bevor sie im Fernsehen die Teuerungs statistiken sehen, leiden sie an ihrer Inflationswitterung. Es macht ihnen Angst, dass die Einkaufstaschen immer leichter werden, umsselbe Geld. Frauen spüren, dass die Krise schneller kommt als die Wirtschaftsprofessor:innen denken können. Die Frauen sind oft die Vorhut der Lebensmittelrebellionen. Die zweite neue Kraft sind die Jugendlichen der Vorstädte. Vor ihrer Radikalität, Kompromissfeindlichkeit und Unerschrockenheit ziehen sogar anarchistische Attentatsanwärter:innen den Hut. Die Hungerrevolte hat viele von den jugendlichen Wilden politisiert. Die dritte neue Kraft ist das, was die Bürger Mob nennen, das Arbeiter:innen Gsindl, die Gschtudierten, Marginalisierte und die Pfarre Beladener.

Ein Herbeizoomen dieser Akteur:innen ist nötig, wenn man sich die Wiener Besonderheiten der Hungerkrise anschauen will.

1. Die Frauen haben Hunger

Vielen Frauen und Müttern kam nicht in den Sinn, vor ihre Kinder mit dem pädagogischen Zeigefinger zu treten, wenn diese in den frühen Morgenstunden, »tätowiert« durch die Säbel der Berittenen, nachhause kamen. Leider könne die Aufklärung nur schwer zu den Frauen gelangen, schrieb ein zweifellos männlicher Arbeiterzeitungs-Journalist. Was da am 17. September 1911 in sein Blickfeld geriet, entsetzte ihn. Die Frauen füllten ihre Schürzen mit Steinen, die für ihre Söhne »an der Front« gesammelt wurden. Solche Produktlieferketten auf (proletarischer) Familienbasis stärkten die Verteidigungskraft der Youngsters gegen Dragoner, Ulanen, Husaken, Deutschmeister und Bosniaken, die an der Seite der Polizei mit ungeheurer Härte gegen die Protestierenden vorgingen.

Manche Historiker:innen datieren das Initialerlebnis dieser Revolte auf den Juni 1910. Weil die Fleischpreise einmal mehr gestiegen waren, rief das »Kremser Frauenkomitee« zum Fleischboykott auf. Es gab in dieser behaglichen Senf- und Weinstadt kaum jemanden, der die Offensive der Frauen missbilligte. Zwei Wochen lang blieben die Fleischhauer auf ihren Waren sitzen. Die cleveren Kremser:innen gründeten eine Konsumgesellschaft und verkauften Fleisch zum Einkaufspreis. Das Kremser Modell wurde in keinem Ort zur Vollendung gebracht.

Ebenso von autonormen Frauen ging, ein Jahrzehnt später, der in der Folge so genannte Kirschenrummel in Graz aus. Das klingt nach Kirtag inklusive Wahl der Kirschenkönigin. Es ist nicht bekannt, wem dieser absolut verharmlosende Titel eingefallen ist. In Wahrheit herrschten bürgerkriegsähnliche Zustände in der sterischen Hauptstadt, zwischen dem Wochenmarkt am Kaiser-Josef-Platz und dem Jakominimarkt. Am 7. Juni 1920 organisierten die Frauen in Eigenregie eine Marktpreiskontrolle. Sie stellten fest: in einem großen Schritt war alles teurer geworden, insbesondere die prallen Kirschen. Die Frauen verwüsteten den Wochenmarkt. Der Weltkrieg war noch nicht lange beendet, die materielle Situation war trister als vor dem großen Krieg. Die rebellierenden Frauen erreichten viel. Schon ab dem 12. Juni wurden die Marktpreise amtlich festgelegt. Es war für den Handel nicht mehr ratsam, Fantasiepreise für die Kirschen zu verlangen.

2. Die Lumpen haben Hunger

Wolfgang Maderthaner: »Die Revolte ist das Stehenbleiben vor der organisierten Revolution in der Anarchie des Aufstands und sie ist die verzweifelt schrille Mündlichkeit vor der artikulierten politischen Rhetorik. Sie ist Wut und Zerstörung, ohne die herrschende Ordnung aufheben zu können. Sie attackiert die Totalität der Herrschaft und trifft doch nur deren individuellen Repräsentanten. Sie kann vom scheinbar Geringsten ausgehen und mit dem Geringsten enden. Ihre Akteure sind klassenbewusste Arbeit ebenso wie Pülcher und Strizzis, Frauen und Männer, Kinder und Alte. Als Masse, die die Revolte trägt, läuft durch sie die Spaltung von Hoffnung und Verzweiflung, Kalkül und Spontaneität, Mut und Zaghaftigkeit, Utopie und Pessimismus, denn in jedem Einzelnen ihrer Teilnehmer sind diese Spaltungen als Mikrokosmos präsent. Ohne im Gesamten Form und Strategie zu haben, können nichtsdestoweniger einzelne Aktionen von hoher Präzision und Planhaltigkeit sein.«

Um zwölf Uhr muss die Demonstration beendet werden. Das hatten die Wiener Parteiführung und die Wiener Polizeiführung vereinbart. Wir befinden uns demnach wieder im Wien des Jahres 1911.

Schon im Oktober 1910 waren Hunderttausende auf der Straße, um gegen die Lebensmittelpreise zu protestieren. Von den offiziellen Protestmärschen ging kein politischer Druck mehr aus. Sie waren oft nur noch ministrant:innenfreie Liturgie. Die Parteisoldaten hatten alles unter Kontrolle. Aber als es ums Nachhausegehen ging, hatte die Parteispitze jede Kontrolle verspielt. Der befürchtete Schulterschluss zwischen Kultur und Subkultur, zwischen Arbeitssuchenden, Arbeitsverweiger:innen und Arbeiteraristokrat:innen war nicht nachhaltig, aber für einen Moment blitzte die Möglichkeit der Gleichheit auf. Auf nach Ottakring, lautete nun die Devise. Zu den Arbeiter:innen gesellte sich immer mehr Mob, vor allem aus dem 16. Bezirk. Der war keiner Partei verpflichtet. Die sozialdemokratische Fortbewegungsform der Prozession wurde durch den Schwarm ersetzt, der als Demoform der Anarchos gilt. In einer Prozession kann man nicht untertauchen, wenn man seinen Steine- Vorrat leer geschossen hat. Ein Schwarm macht alle unsichtbar, die in seinem Inneren Schutz suchen.

Ausgerechnet auf Marx beziehen sich die Funktionäre, die vor einer Aktionseinheit mit dem Plebs warnen. Als Verbündeter der Arbeiter:innen sei dieses Lumpenproletariat – so nannte Marx die Verlierer:innen des Systems – nicht zu verwenden. Ihre Käuflichkeit sei konstituierendes Merkmal dieses Milieus.

Diese Ressentiments waren im September des Jahres 1911 Schall und Rauch. Die gemeinsame Sorge, woher die Krone zu holen sei, um zumindest einmal in der Woche in eine Extrawurstsemmel beißen zu können, schaffte eine Nivellierung innerhalb der beherrschten Klassen. Die weniger Verarmten schnitten sich ein Gurkerl auf die Wurst (Quelle fehlt). Die führenden Sozis hätten es am liebsten, wenn ein Vaterunser, der – verdammt! – gerechter ist als der Herrgott, den wir kennen, so nett wäre, den 17. September aus dem Schöpfungsregister zu streichen.

 

3. Die Kinder der Gasse haben Hunger

Der Fokus auf die Kids der Vorstadt ist notwendig, um die Bedeutung dieses Tages zu begreifen. Viele Historiker:innen verwenden den Begriff Jugendrevolte, um das überraschendste Phänomen dieses Aufstands zu würdigen. Zehn- bis 15-jährige Halbwüchsige brachten ihre spezifische Organisationsform, die Bloddn (deutsch: Platten) in die Revolte ein. In Einzelgefechten eroberten sie die militärisch gleiche Augenhöhe mit den Gesetzeshütern. Weil die Polizei an diesem Tag schon vier Menschen getötet hatte (einem Mann war durch einen Dragonersäbel der Kopf gespaltet worden), wurden die Aktivitäten der Gassenkinder als Gegengewalt empfunden. Die marxistische Analyse war nicht die Hauptkompetenz der Arbeiterzeitung. Für das sozialdemokratische Zentralorgan waren die Kids nichts als verwahrloste Kriminelle. Stolz hob sie hervor, dass es unter den rund 200 verhafteten Jugendlichen kein einziges Mitglied der sozialdemokratischen Jugendorganisation gab. Eine tadellose Referenz für eine Organisation, die eine sozialistische Revolution in Erwägung zog.

Über die Hungerrevolte zu reden, heißt, über Franz Schuhmeier zu reden. Wenn jemand sagt, Lueger hätte das Volk durch sein Charisma elektrisiert wie kein anderer Politiker vor und nach ihm (bis 1933), sagt er nur die halbe Wahrheit. Schuhmeier bot ihm Paroli. Er war spätestens nach 1911 der von der Reaktion bestgehasste Sozialdemokrat in Österreich. Seine Duelle mit dem Bürgermeister wurden legendär. Schuhmeier setzte dafür die einzige Sprache ein, die er beherrschte: ein vorstädtisches Wienerisch, derb wie das Idiom der Strizzis. »Es ist beschämend, dass wegen jeder Tonne Fleisch Straßendemonstrationen stattfinden müssen und dass sich die Bevölkerung mit der Polizei herumraufen muss, die ja genauso billiges Fleisch braucht wie die Demonstrantinnen«, so Schuhmeier in seiner Parlamentsrede von Ende Juli 1911.

Er war der ungekrönte Kaiser von Wien. 1891 hatte er mit ein paar Dutzend Aktivist:innen begonnen, die Bezirksorganisation Ottakring der SDAP aufzubauen. 1911 war diese Bezirksorganisation schon so stark, dass sie alleine 2.600 Ordner für den längsten Begräbniszug, den Wien je erlebte, abstellen konnte. Es war das Begräbnis von Franz Schuhmeier. Eine halbe Million folgte dem Sarg. Jede:r vierte Wiener:in. Seither flammte die Diskussion über die Rolle charismatischer Einzelpersonen in einer Partei, die die Gleichheit an die Spitze ihrer Werteskala stellt, immer wieder auf. Ohne Zweifel ist Franz Schuhmeier die Verkörperung des Populismus von links. Die Juden sind ihm nicht geheuer. Er suchte die Ursachen der Hungerkrise nicht in der Struktur der kapitalistischen Herrschaft, sondern in der Bosheit bürgerlicher Politiker. Wie eine zynische Einladung zur Randale mutete seine Drohung an die Regierung an: »Wenn der Ministerpräsident die Fenster klirren und die Straßen erdröhnen lassen will von den Rufen der Verzweiflung, so kann er das erleben.«

 

Der überaus nützliche Populist

Viele Arbeiter:innen vermochten dieses Spiel nicht zu durchschauen. Sie hielten diese pur verbale Aggression für sozialdemokratische Politik und fanden ihre eigene Wut gut darin aufgehoben. Der Radikalismus war Schimäre. Der Populist rettete die Einheit der Partei. Viktor Adler und Otto Bauer, die beiden Denker der Partei, hielten nichts von ihm.

Es war ein Tag des Staunens und des Lernens. Der Journalist von der Arbeiterzeitung staunte, wie organisch sich der Zorn der Demonstrant:innen, unter denen die Infos von der Ermordung eines »Unsrigen« sofort zirkulierten, mit dem Scheißdrauf der Halbstarken (ich glaube, dieses Wort war damals noch nicht erfunden) vermischen ließ. Noch mehr staunte er, wie sehr die roten Straßenbahnfahrer grinsten, als die Kids eine Bim aus den Gleisen kippten. Am nächsten Morgen wird das Bild mit der umgestürzten Straßenbahn in allen Zeitungen zu sehen sein, mit Bedacht auch in der Arbeiterzeitung, damit deren Leser:innen zumindest im Nachhinein wissen, dass die Parteispitze gut beraten war, den Aufstand für die billige Knackwurst von 9.00 bis 12.00 Uhr zu terminisieren.

Die anfangs zitierte Schilderung von Otto Bauer ist aus dramaturgischen Gründen unterbrochen worden. Das Zitat schließt so: »Im Rücken der wild erregten Menge plünderte das Lumpenproletariat die Geschäftsläden.« Wem nützt, lieber Onkel Otto, der austromarxistische Überbau, wenn Verhungernde aus moralischen Gründen keinen Laden plündern dürfen? In einer Stadt, in der 40.000 Menschen einem Sarg nachlaufen, in dem Einbrecherkönig Schani Breit wieser ruht, der sachlich kompetenteste Safeflüsterer der Monarchie, zeigt der Zeigefinger ins Leere. Bauers Plünderer waren Teil einer sub-proletarischen Bewegung, die die proletarische, und Teil der proletarischen, die die subproletarische begleitete. Sie waren erfolgreich: Das Mieterschutzgesetz und die Mieterschutzverbände, die mit dem Skandal des Bettgeher:innentums Schluss machten, waren die Folgen des 17. Septembers 1911.

AA FB share

Von Elisabeth Rausch

Bruno-Schulz-Jahr 2022: vom Senat der polnischen Regierung so festgelegt, um an den ersten polnischen avantgardistischen Künstler und dessen Geburts- und Todesjahr zu erinnern oder ihn überhaupt erst weiter bekannt zu machen. Aus diesem Anlass wurde vom Polnischen Kulturinstitut in Wien, zahlreichen örtlichen Kulturvereinen und dem Warschauer Adam-Mickiewicz-Literaturinstitut ein Überblick über Leben und Werk des Künstlers zusammengestellt. Am Wiener Yppenplatz standen den Sommer über drei Litfaßsäulen, »Säulen der Erinnerung«, mit Texten und einigen Zeichnungen von Schulz.

Hierzulande ist der Künstler mit dem deutsch klingenden Namen wahrscheinlich nur einem sehr kleinen Kreis bekannt. Er war ein »Altösterreicher«, wie manchmal bei uns Leute bezeichnet werden, die mit der Ex-Monarchie Österreich-Ungarn zu tun hatten, zu deren Zeit aufgewachsen sind und von denen viele auch den ganzen Wahnsinn ihres bitteren Endes erleben mussten.

Im Erdöl-Land

Also: Bruno Schulz wird 1892 in Drohobycz (ausgesprochen Drohóbitsch) im Kronland Galizien geboren. Seine Eltern polnisch-jüdisch, der Mutter Henriette Schulz gehört der Tuchladen, das Stoffgeschäft, das der Vater führt und die Basis, die Vorlage für die späteren Erzählungen von Schulz wird. Der Bruder ist Ingenieur in der Erdölbranche. Bruno besucht das k. k. Franz-Josef-Gymnasium in der Stadt, interessiert sich früh für Sprachen und Literatur, malt und zeichnet gern und will Malerei studieren. Als Vorzugsschüler schließt er das Gymnasium ab. Auf Anraten der Familie beginnt er in Lemberg Architektur zu studieren. Doch er erkrankt, der Vater wird krank, das Studium wird abgebrochen und er kehrt nach Hause zurück. Nach zwei Jahren geht es wieder nach Lemberg, dort legt er die erste Staatsprüfung an der Technischen Hochschule ab. Man schreibt das Jahr 1914, der erste Weltkrieg wird ausgebrochen, mit der Unterschrift des Kaisers aus Wien auf der Kriegserklärung gegen Serbien. Es braut sich was zusammen. Der Vater stirbt, das Haus wird bei Kriegshandlungen zerstört, Bruno fährt nach Wien, um hier Architektur zu studieren, kehrt jedoch nach einigen Monaten zurück, wird als untauglich nicht zum Kriegsdienst eingezogen. Er muss die Familie unterstützen und macht eine Ausbildung zum Zeichen- und Handarbeitslehrer. Er tritt der Gruppe »Kalleia« bei, lernt Künstlerinnen und Künstler der örtlichen jüdischen Intelligenz kennen und vertieft sich ins Selbststudium der Malerei und des Zeichnens, portraitiert Freundinnen und Freunde und fertigt phantastische und phantasievolle Bildwerke an. Er nimmt an zahlreichen Ausstellungen teil, in verschiedenen Städten, Warschau, Lemberg, Krakau etc. und unterrichtet wieder an seiner Schule, die jetzt Jagiełło-Gymnasium heißt. Er ist kränklich, geht auf Kuraufenthalte und lernt dort wichtige Unterstützerinnen und Unterstützer seiner Arbeit kennen. Zum Beispiel die Kunsthistorikerin, Dichterin, Schriftstellerin Debora Vogel. Sie ist von seiner Art zu schreiben sehr angetan und ermutigt ihn, unbedingt weiterzumachen. Der Briefwechsel mit ihr ist für Schulz so etwas wie der Beginn der Erzählungen der »Zimtläden«. Dies ist sein erstes Buch, 1934 in Warschau erschienen, hochgelobt von den einen, völlig unverstanden von anderen. 1938 erhält er dafür den Goldenen Lorbeer der Polnischen Akademie für Literatur.

Immer wieder beteiligt er sich an Ausstellungen, pflegt die Briefwechsel mit den Freundinnen und Freunden, Schriftstellern und Schriftstellerinnen. Das Briefschreiben ist für ihn eine literarische Ausdrucksform und eine Verbindung in die Welt. Seiner Verlobten Jozefina Szelinska, einer Lehrerin für Polnisch, hilft er bei der Übersetzung von Kafkas Prozess. Zwischendurch unterrichtet er auch, ist immer wieder zermürbt, auch vom Zeitmangel, wünscht sich »Nebengleise« der Zeit, für die dringlichen Umsetzungen der Ideen ins Schreiben und ins Zeichnen. Die Zeit ist zu knapp dafür und das Entsetzen über die Vorgänge in den Nachbarländern, den westlichen, manifestiert sich in Krankheit und tiefsten Depressionen. Auch in der kleinen Stadt Drohobycz wird es zunehmend wahnsinnig. Einst als galizisches Pennsylvanien bezeichnet, ist die Gegend wegen der reichlichen Erdölvorkommen Ziel von Begierden und Übernahmezwängen. Man stelle sich nur vor: in der Monarchie war dieses Gebiet der viertstärkste Lieferant von Erdölprodukten weltweit. Tausende Schächte und Erdölbrunnen durchzogen die Landschaft. Besitzwechsel, Todesfälle in den ungesicherten Schächten, die zum Teil 150 Meter tief waren, und andere Kalamitäten machten es möglich, dass es in der Stadt das größte Bezirksgericht in der ganzen Monarchie mit 30 Richtern und vielen Zuarbeitenden gab.

Im Kolonialland

Nach dem ersten Weltkrieg, im zweiten, wird das Gebiet zum »deutschen Osten«. Oberstes Prinzip allen Denkens und Schaffens: Eindeutschung. »Da grode Michl«, der schnurgrade Michael, als Kolonisationsprinzip. Der Diplomlandwirt Himmler, inspiriert von seinem Vordenker und Vormörder, Reinhardt Heydrich, lässt etliche Fachkräfte in Aktion treten. 18 Diplomgärtner stünden für den Osten bereit. Architekten, Landschaftsgärtner, Raumplaner für Stadt und Land, stehen sozusagen Stift bei Blatt, Gewehr bei Fuß stehen andere. Zuerst das schwere Gerät, dann etwas leichtfüßiger die Zeichner, Planer, Maler, Fotografen, Soziologen. Zuletzt die Mörderbande-Unterstützerinnen, Haudeginnen, Knaller-frauen zuhauf. Ziel der Aktion: die unbedingte »Neuordnung bei Menschen und Sachen«. Die Haupttreuhandstelle Ost beginnt rasch zu werken. »Zur Isolierung der polnischen Bevölkerung soll sie durch natürliche Abriegelung zersprengt und unter die Aufsicht und Führung der deutschen Bevölkerung gestellt werden.« Der Präsident der Reichsschrifttumskammer Hanns Johst meint damals: »Die Polen sind kein staatsbildendes Volk. Ein Land, das so wenig Sinn für das Wesen der Siedlung hat, ... hat keinen Anspruch auf irgendeine selbständige Machtstellung im europäischen Raum. Es ist ein Kolonialland.« Weiters sollten, so ein anderer Angehöriger der deutschen Funktionselite, er meint es in Bezug auf den Umbau von Lodsch (sic!) vulgo Litzmannstadt (nach einem Nazi und Offizier so benannt), »die asiatischen Erbteile mit Stumpf und Stiel ausgerottet werden.«

In Drohobycz schaut das dann ungefähr so aus: 1939 hatte die Stadt rund 35.000 EinwohnerInnen, zehntausend Polinnen und Polen, zehntausend Ukrainerinnen und Ukrainer, und fünfzehntausend Jüdinnen und Juden. Etwa zehntausend von letzteren wurden erschossen, die meisten an der Erschießungsmauer in der Stadt oder auf den Straßen. Der Wiener Tischler und damalige SS- und Gestapo-Chef Felix Landau galt als der »Judengeneral« und war für seine Schießeinlagen gefürchtet. Ebenso seine Frau, eine Wienerin und einstige Sekretärin in der Gestapo-Hauptstelle in Wien, die sich freiwillig zum Einsatz gemeldet hatte – so wie ihre Freundin, auch Sekretärin in Wien, und Gefährtin des Leiters der Gestapo-Stelle in Drohobycz. Beide, Gertrude Sengel und Josefine Krepp, machten aus »freien Stücken« ihre Mörderinnenarbeiten.

Felix Landau ließ sich in der Stadt eine größere Villa herrichten und nahm Bruno Schulz, der noch als Zeichenlehrer am nunmehrigen ukrainischen Gymnasium unterrichtete, als persönlichen Sklavenzeichner auf, um mit diversen Wandmalereien und Fresken das Kinderzimmer der Landau-Villa und andere Gebäude zu verschönern. Diese zeitweilig verloren geglaubten Fresken sorgten noch im neuen Jahrtausend für einen veritablen Kunst-Entführungskrimi.

Am 22. Juni 1941 wird die Sowjetunion von den Nazis überfallen, das Unternehmen Barbarossa wälzt sich ins Land. Drohobycz wird am 1. Juli von den Nazis besetzt. Schulz verliert seinen Arbeitsplatz, ein Ghetto wird errichtet, auch er muss übersiedeln. Die ganze rassistische Vorschriftenscheiße wird auch hier übergestülpt. Bruno kann noch beim Katalogisieren von 100.000 konfiszierten wertvollen Büchern helfen.

Am 19. November des Folgejahres gibt es wieder eine Terroraktion der Gestapo in der Stadt, im Ghetto. Bruno Schulz hatte für seine beabsichtigte Flucht schon alle Papiere beisammen und machte sich auf den Weg, seine Brotration vom örtlichen »Judenrat« abzuholen, ein Viertellaib Schwarzbrot für die Woche. Ein auf Felix Landau angeblich beleidigter SS-Mann, Karl Günther, erschießt Bruno Schulz, den »Leibjuden« von Landau, weil dieser angeblich seinerseits seinen Leibjudenzahnarzt Dr. Löw erschossen hatte. An diesem schwarzen Donnerstag werden rund 230 jüdische Personen ermordet. An den Erschießungen beteiligen sich auch ukrainische Milizen und ukrainische junge Frauen. Diese halfen auch bei den anstrengenden anstehenden Tagesprogrammen.

An der Erschießungsmauer in der Stadt gibt es ein Denkmal, im nahegelegenen Wald von Bronica ebenfalls (2016 wird in Drohobycz ein Bruno-Schulz-Museum eingerichtet. Und in einem Park der nun in der Ukraine gelegenen Stadt steht heute ein Denkmal für Stepan Bandera). Insgesamt wurden in Polen, und dazu gehörte damals auch der Bezirk Drohobycz, von den Nazis rund drei Millionen jüdische und drei Millionen nicht-jüdische Menschen erschossen oder in Gaswagen, später in Konzentrationslagern, umgebracht. Fast der gesamte Freundeskreis von Bruno Schulz war dabei. Alle weg und verschollen.

Irgendwo in seinen Schriften steht: »Hinter diesem Wirrwarr den eigentlichen Text finden.«

Sofern man in der Lage ist, zu lesen.

----

Leseempfehlungen:

Bruno Schulz: Die Zimtläden. Neuübersetzung von Doreen Daume. Carl Hanser Verlag
Bruno Schulz: Das Sanatorium zur Sanduhr. Neuübersetzung von Doreen Daume. dtv
Bruno Schulz: Die Wirklichkeit ist Schatten des Wortes. Aufsätze und Briefe. Herausgegeben von Jerzy Ficowski. dtv

Verwendete Literatur:

Wendy Lower: Hitlers Helferinnen. Deutsche Frauen im Holocaust. Fischer Taschenbuch
Martin Pollack: Galizien. Insel Verlag

Albert Freiherr von Margutti, Kaiser Franz Joseph. Manz'sche Verlags- u. Univ. Buchhandlung

AA FB share

Erinnern und Nicht-Erinnern: Dagmar Schindler, Vorsitzende des Bundesverbands österreichischer AntifaschistInnen, WiderstandskämpferInnen und Opfer des Faschismus beantwortet Fragen der Volksstimme.

Wie beurteilst du die Situation der aktuellen Gedenk- und Erinnerungskultur in Österreich?

DAGMAR SCHINDLER: Unterschiedlich, je nachdem, welches Bundesland und welche Stadt man im Auge hat: In Wien werden einerseits bestimmte Erinnerungstermine sehr hochgehalten, z. B. der 12. Februar von der Sozialdemokratie, aber nicht nur von ihr, als Tag des Aufstands des Republikanischen Schutzbundes gegen Heimwehr, Ständestaat und Austrofaschismus. Dann gibt es in Wien die Befreiungsfeier als »Fest der Freude«, an dem alles teilnimmt, was Rang und Namen hat – bis zu den höchsten Regierungskreisen. Alles andere, was wichtig ist für das Selbstverständnis unseres Staates bzw. was wichtig wäre für das Eigenbild der Österreicher und Österreicherinnen, existiert nicht: es ist z. B. nicht üblich, offiziellerseits die Befreiung Wiens zu feiern. Oder den Tag der Unabhängigkeitserklärung Österreichs, dem ja das Hrdlicka-Denkmal bei der Albertina gewidmet ist. Immerhin war der 27. April praktisch der Gründungstag der Republik. Die

Arbeitsgemeinschaft der Opferverbände, deren Teil auch unser Verband ist, hatte seinerzeit zumindest eine Kranzniederlegung gemacht, auch eine Abordnung der Polizei und anderer staatlicher Einrichtungen waren da vertreten. Aber dieser Tag ist auch in Wien lange nicht so publik wie der 26. Oktober, um von den Bundesländern gar nicht zu reden. Was sollen wir denn am 26. Oktober überhaupt feiern, wo ja die Republik praktisch zehn Jahre vorher wiedererstanden ist? Es ist mühsam, andere Infos und Events zu anderen Terminen zu machen, vor allem, wenn keine Budgets dafür bereitgestellt werden.

Das heißt, für Anderes gibt es keinen Bildungsauftrag?

DAGMAR SCHINDLER: So ist es. Der 27. April – als Beispiel – ist in keinem offiziellen Bildungsauftrag der österreichischen Stellen enthalten, wurde nirgends hineingenommen.

Was heißt das für den Bildungsauftrag eures eigenen Verbands?

DAGMAR SCHINDLER: Wir haben, als Teil der Arbeitsgemeinschaft der NS-Opferverbände, auch zu Corona-Zeiten anlässlich des 12. März, also am Jahrestag der nationalsozialistischen Machtergreifung bzw. des sogenannten Anschlusses an Nazideutschland z. B. Rundgänge mit mehreren Schulklassen gemacht, bzw. waren bei diesen dabei; in Floridsdorf, am Denkmal für Karl Biedermann, Alfred Huth und Rudolf Raschke, die als Angehörige der Wehrmacht kurz vor Kriegsende von den Nazis dort umgebracht wurden, weil sie sich für die kampflose Übergabe Wiens an die Rote Armee einsetzten; dann im Weiheraum im Wiener Landesgericht, das zur Nazizeit eine Hinrichtungsstätte war; und dann in der Salztorgasse, am Hintereingang des Hotels Metropol am Morzinplatz, wo sich der Gestapo-Sitz befunden hatte.

Zu den offiziösen Terminen gehört ja auch der Besuch im ehemaligen KZ Mauthausen, wo euer Verband regelmäßig vertreten ist.

DAGMAR SCHINDLER: Ja, wir sind dort ja auch immer wieder mit Schülerinnen und Schülern, und sehen ihren unfassbaren Schrecken über das, was dort geschehen ist. Aber abseits davon muss es auch Geschichten geben von Menschen, die gegen die Nazis aufgestanden sind – das ist ein untrennbarer Teil des Bildungsauftrags, wie wir ihn verstehen: die Erinnerung an den Widerstand!

Was antwortest du Jugendlichen, wenn sie dich fragen: Was hat das alles mit uns zu tun, mit unserer Generation?

DAGMAR SCHINDLER: Da arbeite ich mit einem klugen Zitat: Unsere Generation hat den Vorteil zu wissen, was warum wie passiert ist und immer wieder passieren kann. Widerständler und Widerständlerinnen sind der Beweis und das Beispiel, dass und wie man etwas dagegen tun kann. In der Arbeit mit Jugendlichen hat die Widerstandsliteratur, haben die autobiographische Erinnerungen einen ganz ganz hohen Stellenwert: Sie schildern, wie es zum Nazifaschismus gekommen ist, und zwar so, dass Jugendliche – das ist zumindest meine Erfahrung – davon ergriffen werden. Wenn historische Parallelen sichtbar werden, können auch aktuelle Zeichen gedeutet werden. Das Bewusstsein, was der Holocaust bedeutet, hat ja glücklicherweise in breiteren Teilen der Bevölkerung Fuß gefasst, so dass auch offiziell sehr bewusst der Opfer gedacht wird. Dasselbe wünsche ich mir für den Widerstand, der unbewusst oder bewusst vergessen wird. Was wäre, wenn die still geblieben wären? Was wäre, wenn es keine österreichischen Freiheitsbataillone gegeben hätte? Oder ein anderes Beispiel für das Vergessen: Wie lange haben DeserteurInnen um Anerkennung als Opfer des Naziregimes kämpfen müssen? Als ÖsterreichInnen wollten sie nicht für ein fremdes Land kämpfen, ihr Beitrag zur Befreiung ist aber immer noch zu wenig anerkannt. Eine erfreuliche Ausnahme ist die jüngste Benennung eines Gemeindebaus im 11. Wiener Bezirk nach dem Deserteur Wadani. Beim Festakt im Wiener Rathaus wurde sogar erwähnt, dass er seinerzeit Kommunist gewesen war. So etwas ist allerdings immer noch eine Ausnahme.

Ein Blick auf europäische Zustände: Der Rechtsruck wird immer salonfähiger.

DAGMAR SCHINDLER: Und er nimmt sich seinen Raum in der Mitte der Gesellschaft. Darum ist ja die Erinnerungsarbeit, wie wir sie verstehen, so wichtig: Sie kann beeinflussen, wie Menschen das wahrnehmen oder nicht wahrnehmen, und ich rede dabei gar nicht über QANON oder andere ähnliche Rechtsextremitäten, sondern über die breiteren Kreise – z. B: in der Exekutive, wo null Bewusstsein da ist bezüglich Symbolik und Signalen; Ustascha und NS-Erscheinungen werden als Spinnerei abgetan, aber dahinter stecken Netzwerke, Geld, Drogen usw. Also das Zeug spielt ins Weltbild hinein. Und wenn ich weiß, wozu das führen kann, gehe ich als vernünftiger Mensch anders damit um, und nicht so wie die ÖVP-Nationalratsabgeordnete, die unlängst mit AbtreibungsgegnerInnen mitmarschiert ist, gemeinsam mit den Identitären und der rechtsextremen »Tanzbrigade«.

Abschließend: Wie gehts eurem Verband, und was habt ihr in naher Zukunft vor?

DAGMAR SCHINDLER: Uns gehts bestens. Der Wiener Verband ist gut aufgestellt, wir haben engagierte, junge Mitglieder. Wir bereiten uns auf die Feier zum 75. Gründungsjahr im Oktober 2023 vor, haben ein Archivprojekt am Laufen, mit einmaligen Dokumenten und auch Artefakten, unterstützen den Aufbau des WerkStattMuseums im Klagenfurter Schütte-Lihotzky-Haus, und sind – so wie auch in einigen Bundesländern – in unterschiedlicher Weise aktiv. Z. B. bezüglich Straßen- und anderen Bezeichnungen nach Nazis, usw. usw. Ein Tipp: unsere Website besuchen: https://kz-verband-wien.at/.

Die Fragen für die Volksstimme stellte Mirko Messner

AA FB share

Kontakt

Volksstimme

Drechslergasse 42, 1140 Wien

redaktion@volksstimme.at

Abo-Service: abo@volksstimme.at

Impressum

Medieninhaber und Herausgeber:

Verein zur Förderung der Gesellschaftskritik
ZVR-Zahl: 490852425
Drechslergasse 42
1140 Wien

ISSN Nummer: 2707-1367