Buch-Rezension von Markus Gönitzer
Im Jahr 2020 veröffentlichte die Philosophin Eva von Redecker mit ihrem damals noch als Geheimtipp antizipierten Buch Revolution für das Leben eine antikapitalistische Liebeserklärung an die zentralen sozialen Bewegungen unserer Zeit. Zwei Jahre später ist die sprachgewaltige Philosophin breit rezipiert und Dauergast in linksliberalen Feuilletonmedien. Gerade Linke sollten Redeckers feministischen, ökologischen und antirassistischen Erneuerungsversuch revolutionärer Begehrlichkeiten einer genaueren Lektüre unter ziehen.
Über die zärtliche Erzählerin gegen die große Erzählung
Kontraintuitiv zum linken Reflex der »kritischen Kritik« gilt der erste Blick auf Redeckers Werk nicht dem Inhalt, sondern der Form ihrer Erzählung. Redeckers Stil, der sich in Olga Tokarczuk entlehnt: die zärtliche Erzählerin. Dabei handelt es sich um eine Erzählperspektive, die die Verwobenheit Revolution für das Leben auf angenehme Weise von den engen Zwängen des akademischen Schreibens löst, entfaltet seine Stärke vor allem im Erzählen von Geschichten. So spinnt Redecker behutsam an einem Erzählnetz aus unterschiedlichen Genre-Versatzstücken: Theoretischen Exegesen folgen persönliche Reflexionen über kindliche Erkenntnisse, antike Mythen begegnen Stimmen aus sozialen Bewegungen. Es waren nicht zuletzt feministische Philosoph:innen wie Donna Haraway, die uns beauftragten, darüber nachzudenken, mit welchen Geschichten wir unsere Geschichte(n) erzählen wollen. Redecker führt als Antwort darauf eine Erzählstimme ins Feld, die sie von der Literaturnobelpreisträgerin aktueller Herrschaftsverhältnisse in ihrer gegenseitigen Wechselwirkung erzählbar machen soll. Diese Stimme ist also ein Plädoyer für ein multiperspektivisches Erzählen, ohne sich in einer bloßen Nebeneinanderstellung von Standpunkten zu verlieren. Sie fordert ein Erzählen, das seine Zugänglichkeit und sein Verbindendes in Alltagswahrnehmungen sucht, auch wenn diese für einzelne Akteur:innen von Macht und Herrschaft gänzlich unterschiedlich strukturiert sind. Dieser Stimme nachzuspüren ist keine leichte, aber eine von Linken viel vernachlässigte Aufgabe: Ihr Ziel ist nichts Geringeres, als sich auch stärker mit dem ›Wie‹ und nicht nur mit dem ›Was‹ des Erzählens zu beschäftigen. Redecker nimmt sich dieser Aufgabe an und lädt die Leser: innen ein, sich ebenfalls darin zu üben: »Wir sollten das können, als erzählende Tiere.«
Ein neuer Hauptwiderspruch, der keiner ist
Das ›Was‹ der Erzählung in Revolution für das Leben eröffnet uns aus der Perspektive linker Theoriebildung zwar keine gänzlich neuen Einsichten, regt aber zu neuen Verknüpfungen an. Im Geiste zeitgenössischer lateinamerikanischer Feminismen spannt Redecker den Widerspruch zwischen Kapitalismus und Leben als das zentrale Konfliktfeld unserer Zeit auf. Durch das Nachwirken kolonialer und patriarchaler Beherrschungsansprüche (»Phantom besitz«) und der alles durchdringenden Eigentumsform (»Sachherrschaft«) zerstört der Kapitalismus laut Redecker Leben und Lebensgrundlagen. Diese Entwertung des Lebens erkennt sie in ihrer Reinform in der verweigerten Hilfe gegenüber den Ertrinkenden im Mittelmeer, rassistischen Morden und den Opfern patriarchaler Gewalt, aber auch in den zehrenden Erschöpfungs- und Entwertungsprozessen des Planeten, menschlicher Tätigkeiten und Beziehungen und zu guter Letzt des Menschen selbst. Als emanzipative Gegenspielerinnen und Trägerinnen der »Revolution für das Leben« führt Redecker schließlich jene sozialen Bewegungen der Gegenwart ins Feld, die sich für eine Rettung von Leben, für sorgende anstatt zerstörerische ökologische und ökonomische Prozesse einsetzen. Im Detail betrachtet sie dabei die Klimabewegung (Fridays for Future, Extinction Rebellion, Ende Gelände), die Black Lives Matter Bewegung und feministische Bewegungen (Feministischer Streik und Ni Una Menos). Der Erfolg dieser Bewegungen wird laut ihr davon abhängen, inwieweit sie sich zueinander in Bezug setzen können, um kapitalistische Herrschaft dauerhaft herauszufordern und gemeinsam neue Zwischenräume und Gegenstrukturen aufzubauen, zu pflegen und zu festigen. In dieser Hoffnung drückt sich auch Redecker Verständnis von Revolution aus: Sie sieht diese nicht als punktuellen ökologischer Kreisläufe – sowie der Umgestaltung zwischenmenschlicher Beziehungsweisen.
Neue Kämpfe, alte Hoffnung
In der Hoffnung, die die Philosophin in eine synergetische Schlagkraft gegenwärtiger sozialer Bewegungen setzt, wird auch eine der Leerstellen ihres Ansatzes sichtbar. Denn gerade diese Verknüpfungs- und Vermittlungsarbeit zwischen einzelnen sozialen Kämpfen, die Schaffung von kontinuierlichen Verbindungen und die Zuspitzung gemeinsamer Ziele stellte sich für die Linke in den letzten Jahrzehnten häufig als unüberwindbare Herausforderung dar. Auch bei Redecker bleiben die Prognosen oder Analyse, wie die jeweiligen Bewegungen eine gemeinsame Praxis entwickeln könnten, weitestgehend unbestimmt. Das Buch bietet somit eine umrahmende Erzählung, weniger aber eine Strategie für die »Revolution für das Leben« an. Auch im Umreißen einer postkapitalistischen Zukunft bleibt das Buch verhalten und vage. Neben einer abstrakten Vorstellung sorgender und regenerierender Infrastrukturen, die an die Stelle kapitalistischer Verwertungslogik treten sollen, werden große Stücke auf die uneingelösten Potentiale dezentraler Rätedemokratie (»rebellischer Universalismus«) gehalten. Ob die Ziele revolutionärer Bemühungen nicht, wie von dem verstorbenen Soziologen Erik Olin Wright gefordert, vorstellbarer, erreichbarer und umsetzbarer beschrieben werden müssten, wäre also eine Gegenfrage an die zärtliche Erzählerin.
Es sind also vor allem die zu Beginn beschriebenen Konzepte, die Redeckers Buch inspirierend und anregend machen: Das Plädoyer für eine neue Art des Erzählens und die Einführung des Konflikts Kapital/Leben, der die Verwobenheit und Wechselseitigkeit verschiedener Herrschaftsverhältnisse zu fassen vermag und Perspektiven für Allianzen und gemeinsame Kämpfe öffnet. Beides bietet Ansätze, die wir in Zeiten pandemischer Tristesse, imperialer Eskalation und katastrophischer Klimakrise als wertvoll ansehen sollten, wenn nicht sogar als überlebenswichtig.
Markus Gönitzer ist Teil der Vorstandkollektive der Kulturinitiative Forum Stadtpark, des Vereins / Društvo Peršman und des WerkStattMuseums im Margarete Schütte-Lihotzky Haus. Gemeinsam mit Leo Kühberger gestaltet er die linke Buchpräsentationreihe Debating. Society.
Zuletzt erschienen:
Eva von Redecker: Revolution für das Leben. Philosophie der neuen Protestformen. Frankfurt am Main: S. Fischer 2020
Maja Göpel, Eva von Redecker: Schöpfen und Erschöpfen. Hrsg. von Maximilian Haas und Margarita Tsomou. Berlin: Matthes & Seitz 2022