Die gewöhnliche Kritik der gesellschaftlichen Verhältnisse empört sich am Inhalt dieser Verhältnisse, benennt diesen Inhalt als ungerecht oder unfair und zirkuliert in einem bloßen »Das kann doch nicht sein!«. An ihre Stelle muss eine linke Kritik als Kritik der gesellschaftlichen Formen treten.
von LINDA LILITH OBERMAYR und KARL REITTER
Was ist Formkritik und was ist darunter zu verstehen? Aus der Marxschen Perspektive sind es vor allem die Formen der dominierenden Ökonomie und die Form der politischen Herrschaft, sprich der Staat, die es zu überwinden gilt, wollen wir eine freie Gesellschaft erreichen. Sprechen wir zuerst über die Formen der Ökonomie. Jede Art von Arbeit hat ein Arbeitsprodukt zum Resultat, mag es nun materiell oder immateriell sein. Im Kapitalverhältnis wird dieses Arbeitsprodukt zur Ware. Ware ist also die herrschende Form des Arbeitsprodukts. Wir wissen, dass auch im Kapitalismus nicht jedes Arbeitsprodukt diese Form annimmt. Hausarbeit, Pflegearbeit, freiwillige und ehrenamtliche Tätigkeit erzeugen keine Waren, die am Markt verkauft werden. Ebenso ist es mit der Arbeit. Die dominierende Form der Arbeit ist die Lohn- und Erwerbsarbeit. Diese wird üblicherweise als die einzig wahre Form der Arbeit anerkannt – jede andere Tätigkeit, und sei sie noch so wichtig für das soziale Leben, wird nicht als Arbeit erachtet. Sogar Linke sprechen daher oft nicht von Erwerbsarbeitslosigkeit sondern von Arbeitslosigkeit, als ob Menschen, die keinen Job haben, nicht arbeiten würden. Als dritte Form ist die Eigentumsform zu nennen. Sowohl das Arbeitsprodukt als auch die Mittel zur Produktion sind im Kapitalismus Privateigentum. Ziel jeder kommunistischen Bewegung muss es sein, diese Formen zu überwinden. Anders gesagt, wir wollen eine Gesellschaft, in der das Arbeitsprodukt nicht mehr auf dem Markt gekauft werden muss, in der Arbeit nicht zur Lohn- und Erwerbsarbeit wird und in der die Produktionsmittel Eigentum des gesamten Gemeinwesens sind. Das ist freilich leicht gesagt und schwer umgesetzt. Vor allem verfügen wir über keine Blaupause, über kein konkretes Modell, das wir dann »verwirklichen« wollen.
Aber Formkritik ermöglicht eine klare Orientierung. Es gibt Forderungen, die in die Richtung der Überwindung dieser Formen weisen. Das Konzept einer kostenlosen, sozialen Infrastruktur will viele Produkte der Arbeit dem Markt entziehen und allen ohne Entgelt zur Verfügung stellen.
Heruntergebrochen auf eine konkrete Ebene wäre das etwa die Forderung nach kostenloser Bildung und unentgeltlichem Hochschulzugang. Bildung darf keine Ware sein, ebenso wie Wohnen oder die Versorgung mit Grundgütern. Die Forderung nach dem bedingungslosen Grundeinkommen relativiert den Zwang zur Lohnarbeit und will allen Menschen die materielle Existenz sichern, ohne sie in den Arbeitsmarkt zu zwingen. Auch bei dieser Forderung sind Zwischenschritte denkbar, etwa ein Grundeinkommen für Alleinerziehende oder Menschen ab 60 Jahren. Es sind vor allem der Arbeitsmarkt und der Wohnungsmarkt, die dringendst überwunden oder zumindest eingeschränkt werden sollten.
Leider fokussiert die Tradition der ArbeiterInnenbewegung fast ausschließlich auf das dritte Element, auf die Eigentumsfrage der Produktionsmittel und des Grund und Bodens. Nicht selten wird eine bloße Verstaatlichung mit Vergesellschaftung gleichgesetzt. Ob sich Unternehmungen in Staatsbesitz oder in Privatbesitz befinden, ändert an der Tatsache, dass es sich um profitorientierte Kapitale handelt, recht wenig. Eine kommunistische Gesellschaft entsteht nicht dadurch, dass einfach die EigentümerInnen ausgewechselt werden und die ManagerInnen nun nicht mehr im Namen des Privateigentums, sondern im Namen des Staates Profit lukrieren wollen. Auch der Staatsbesitz an Grund und Boden schützt keinesfalls vor kapitalistischer Verwertung und Spekulation. In China ist der Staat nach wie vor Eigentümer des Bodens, dieser wird allerdings für 99 Jahre an private Investoren vermietet. Das Geschäft mit Wohnung und Miete floriert auch in China ausgezeichnet und führte zu exorbitanten Wohnungskosten. Es gilt also das Zusammenspiel dieser drei Grundformen: Ware, Lohnarbeit, Privatbesitz, im Auge zu behalten. Wer sich die Mühe macht, die Marxsche Frühschrift von 1844, besser bekannt als Pariser Manuskripte, zu studieren, wird erkennen, dass für Marx die Lohnarbeit das eigentliche Zentrum der kapitalistischen Ökonomie ausmacht. »Arbeitslohn ist eine unmittelbare Folge der entfremdeten Arbeit, und die entfremdete Arbeit ist die unmittelbare Ursache des Privateigentums.« (MEW 40; 521).
Die Überwindung des Staates
Wohl noch eine Stufe schwieriger ist die Überwindung der politischen Form dieser Gesellschaft, sprich die Überwindung des Staates. Die Position von Marx war spätestens nach den Erfahrungen mit der Pariser Commune 1871 klar: Es geht nicht darum, die Personen auf den Kommandohöhen des Staates auszutauschen, sondern den Staat durch ein von unten organisiertes Rätesystem zu ersetzen. Auch das ist freilich leichter gesagt als getan. Räte entstanden immer dann, wenn die Staatsmacht implodierte – und davon kann in unseren Breiten nicht die Rede sein. Zur Staatsfrage existieren aber durchaus unterschiedliche Positionen innerhalb der Linken. So wird behauptet, der Staat sei nichts anderes als das Werkzeug der herrschenden Klasse. Zugleich wird ungebrochen danach gestrebt, der herrschenden Klasse dieses Werkzeug aus der Hand zu nehmen, ohne zu bedenken, dass mit dem Staatsapparat zugleich die Herrschaft über die Gesellschaft übernommen und ausgeübt wird. Marx proklamierte, dass der Staat absterben soll, jedoch war er auch ein klarer Gegner des »politische[n] Indifferentismus« (MEW 18, 299 ff) und trat dafür ein, sich an Wahlen nach Möglichkeit zu beteiligen. Auf den Punkt gebracht können wir von Marx lernen, dass eine bloße Eroberung der Staatsmacht keineswegs ein Garant für eine emanzipatorische Gesellschaft ist – die Geschichte hat diese Auffassung dramatisch bestätigt.
So wie die Überwindung der ökonomischen Formen ist auch das Absterben des Staates kein utopisches Fernziel. Zwischenschritte sind möglich. Der österreichische Soziologe und Sozialphilosoph Heinz Steinert schrieb: »Und wo sollte solch ein ›Absterben‹ beginnen, wenn nicht mit den Gefängnissen?« Und er setzt hinzu: »Was kann eine freiheitliche Entwicklung bezüglich Polizei, Strafgesetz und Gefängnis bedeuten, wenn nicht den Machtverlust dieser Institutionen und wenn möglich ihr Verschwinden?« (Steinert 1987; 132). Das Absterben des Staates voranzutreiben, bedeutet konkret, vor allem den permanent ausgebauten Überwachungs- und Repressionsapparat zurückzudrängen. Das bedeutet auch, die Rolle des Staates als Erzieher und Pädagoge insbesondere gegenüber Erwerbsarbeitslosen, aber auch als Wächter über unsere Kultur und Werte in Frage zu stellen. Gehen wir nicht der Ideologie des Neoliberalismus von »Weniger Staat, mehr Privat« auf den Leim. So viel Staat und Bürokratie, so viel Intervention in die Gesellschaft, so viel Gängelung, Vorschriften und Kontrolle wie unter der Dominanz des Neoliberalismus gab es noch nie. Wenn es passt, wird der »freie Markt« mit einem Federstrich beseitigt und durch Protektionismus, Drohungen und offene Staatsgewalt ersetzt.
Die Grenze der Gerechtigkeit
Mit der Forderung nach Gerechtigkeit kann die Überwindung der Formen, sprich die Überwindung der Fundamente dieser Gesellschaft nicht formuliert werden. Gerechtigkeit zielt auf eine bessere Verteilung auf der Basis der herrschenden Formen der Ökonomie ab. Das macht Gerechtigkeit zu einer strukturkonservativen Forderung. Auch wenn KommunistInnen sich dafür einsetzten, dass der gesellschaftlich produzierte Reichtum so verteilt wird, dass alle Menschen ein Dach über dem Kopf haben und nicht hungern müssen, so verbleibt der Kampf um besserere Versorgung auf dem Boden der herrschenden gesellschaftlichen Verhältnisse. Oder um es noch drastischer auszudrücken: Gerechtigkeit lässt die Überwindung der Formen nicht einmal denken, geschweige denn, sie als politische und soziale Orientierung zu proklamieren. Das ist auch der Grund, warum quer durch alle politischen Lager der Begriff der Gerechtigkeit so beliebt ist. Gerechtigkeit ist ein derart unbestimmter Begriff, dass er nicht nur philosophische Bibliotheken füllt, sondern auch in aller Munde geführt wird: irgendwie ist jede und jeder für mehr Gerechtigkeit, ob jung oder alt, rechts oder links, ob Kapital- oder ArbeiterInnenfraktion. Gerade darin liegt aber die rhetorische Stärke eines so unbestimmten Begriffes, denn mit ihm lässt sich alles und nichts begründen und anprangern: Der einen Seite gilt das als gerecht, was der anderen Seite ungerecht erscheint.
Aber nicht nur die Forderung nach Gerechtigkeit, sondern auch die Empörung über Ungerechtigkeit leidet unter denselben Defiziten. Empören kann sich nur jemand, die oder der sich einer sittlichen Ordnung verpflichtet fühlt und einen Verstoß gegen eben diese diagnostiziert. Das »Empört euch!« ist die Anzeige dieses Verstoßes und die Aufforderung zu seiner Beseitigung. Moralische Entrüstung oder Empörung sind also dem Zivilen Ungehorsam vergleichbar, welcher aus prinzipieller Rechtstreue einen Missstand innerhalb einer bestehenden Rechtsordnung reklamiert. Moralordnung und Rechtsordnung selbst wollen aus einer solchen Empörung nicht überwunden werden, vielmehr wird ihre ordnungsgemäße Einhaltung gefordert. Wenn die moralische Entrüstung also zum Ausgangspunkt einer theoretischen Erklärung von Ausbeutung und Entfremdung genommen wird, befindet man sich unmittelbar innerhalb des herrschenden politischen Konsens: Stichwort »gezähmter Kapitalismus«, »Kapitalismus mit menschlichem Antlitz«, »grüner Kapitalismus« usf. All diese Begriffe und Forderungen implizieren die Vorstellung einer kapitalistischen Produktionsweise, wie sie eigentlich funktionieren sollte; so nämlich, dass weder Mensch noch Natur ausgebeutet werden. Umgekehrt bedeutet dies, dass diejenigen Missstände, die gegenwärtig als Resultate der kapitalistischen Produktionsweise festgestellt werden – ein Geheimnis sind sie schließlich keineswegs –, als Konsequenz eines Verstoßes gegen eben diese Produktionsweise begriffen werden. Gegen eine solche idealistische Sicht auf die Wirklichkeit erkennt der Marxismus, dass diese Verstöße der inneren Logik des Kapitalismus mit Notwendigkeit entspringen. Oder anders formuliert lautet seine große Einsicht, dass die kapitalistische Produktionsweise bzw. die Produktion von Mehrwert/Profit gerade durch Ausbeutung und Entfremdung der Lohnarbeit funktioniert. Kapitalismus ohne Ausbeutung zu fordern, hieße so viel wie ein Fahrrad ohne Räder bauen zu wollen. Damit ist nicht gesagt, dass moralische Entrüstung an sich schlecht oder unangebracht wäre; im Gegenteil ist die kapitalistische Produktionsweise durch und durch moralisch verwerflich, denn sie produziert Elend und Leid. Jedoch führt eine theoretische Kritik an dieser Produktionsweise nicht weit, die ein solches moralisches Gefühl zu ihrem Ausgangspunkt nimmt und bei diesem verweilt.
Von der Kritik als Selbstzweck
Kritik wird aber selbst eine Form der gesellschaftlichen Verhältnisse, das heißt der kapitalistischen Produktionsweise und des liberaldemokratischen Rechtsstaates, wenn Kritik zum Selbstzweck wird. Wenn sich die Kritik selbst jenseits jeden Inhalts als Wert an sich präsentiert, dann ist eine Gestalt der Kritik in die demokratische Kultur einverleibt worden. Tatsächlich gehört es zum guten Ton demokratischer Bürgerlichkeit, stets kritisch durch die Welt zu spazieren und die Kritik als Tugend zu feiern. Kritisches Bewusstsein und der prätentiöse Verweis auf das Recht zur freien Meinungsäußerung, der jede Argumentation im Keim erstickt, sind die Praktiken demokratischer Sittlichkeit. Sobald jedoch die Legitimation der Kritik nicht mehr von der Kritikwürdigkeit ihres Gegenstandes abhängt, ist die Kritik zur fetischisierten Form der gesellschaftlichen Verhältnisse verkommen. »Seid kritisch!« ist die gedankliche Vorstufe zu »Empört euch!« und beiden Imperativen liegt der fehlerhafte Glaube zugrunde, die Widersprüche der Wirklichkeit seien Verstöße gegen eine Ordnung, wie sie eigentlich sein sollte.
Marx, Karl (MEW 1), Kritische Randglossen zu dem Artikel ›Der König von Preußen und die Sozialreform. Von einem Preußen‹, 392–409.
Marx, Karl (MEW 18), Der politische Indifferentismus, 299–304.
Steinert, Heinz (1987) »Marxistische Theorie und Abolitionismus. Aufforderung zur Diskussion«, in: Kriminalsoziologische Bibliographie, Jg. 14, Heft 56/57, 131–157.