Zum Verhältnis von ideologischer Verblendung und Emanzipation.
Von LINDA LILITH OBERMAYR
Fetischcharakter
Es ist eine Eigentümlichkeit der warenproduzierenden Gesellschaft, dass die ökonomischen Beziehungen der Menschen als sachliche Beziehungen von Dingen erscheinen. Die Warenform, so Marx, spiegelt »den Menschen die gesellschaftlichen Charaktere ihrer eignen Arbeit als gegenständliche Charaktere der Arbeitsprodukte selbst, als gesellschaftliche Natureigenschaften der Dinge zurück« (MEW 23; 86). In der scheinbaren Verselbständigung des Wertes gegenüber dem lebendigen Arbeitsprozess fetischisiert sich unser Verhältnis zu den Arbeitsprodukten; darin gleicht der Warenfetisch der religiösen Verehrung von Gegenständen, denen übernatürliche Eigenschaften zugeschrieben werden. In diesem Sinne stellt sich das Arbeitsprodukt als eine geheimnisvolle »gesellschaftliche Hieroglyphe« ihren Schöpfern gegenüber, die sich aber dadurch vom religiösen Fetisch unterscheidet, dass sich in letzterem die dem Gegenstand zugeschriebenen Eigenschaften niemals wirklich realisieren werden (außer wir glauben daran). Anders beim Warenfetisch: Tatsächlich beziehen sich die ProduzentInnen unter den Bedingungen kapitalistischer Produktion sachlich aufeinander, denn die voneinander unabhängigen, das heisst privaten Produzent*innen treten ausschließlich über den Austausch ihrer Produkte in gesellschaftliche Beziehung.1 Es ist daher auch völlig falsch, im Warenfetisch nur das falsche Bewusstsein, die bloße Ideologie zu sehen. Die Ideologie ist, und das ist eine entscheidende Pointe Marxens, wahr und falsch zugleich.
Totaler Verblendungszusammenhang?
Das Bewusstsein der Menschen in der kapitalistischen Gesellschaft wird also verkehrt durch die Form, in der sie sich aufeinander beziehen, denn diese Form – die allgemeine Wertform bzw. Geldform – verschleiert die Einsicht in den gesellschaftlichen Charakter dieser Form. Wie ist dieser »ideologische Verblendungszusammenhang« (Adorno/Horkheimer) aber zu verstehen? Müssen wir es wortwörtlich nehmen, wenn Marx schreibt: »Es ist nicht das Bewußtsein der Menschen, das ihr Sein, sondern umgekehrt ihr gesellschaftliches Sein, das ihr Bewußtsein bestimmt« (MEW 13; 9)? Ja, aber nicht in der Variante eines umfänglichen Determinismus, in dem sich die Rolle von Sein und Bewusstsein im Erkenntnisprozess unerklärlicherweise dadurch umdreht, dass die geistlose Materie sich die Menschen unterwirft. Marx spricht ja immer noch von ihrem gesellschaftlichen bzw. vom gesellschaftlichen Sein, also einem Sein im Sinne der spezifischen materiellen und historischen Umstände, in denen sich die Sozialität des Menschen formiert. Damit ist der ideologische Verblendungszusammenhang jedenfalls als gesellschaftlich und historisch bestimmt erkannt, denn er entspringt ausschließlich den Formen der warenproduzierenden, das heißt wertförmig vermittelten Gesellschaft.
Die Unmöglichkeit des externen Standpunktes
Die Kritik und Entschlüsselung der Fetisch-Verhältnisse kann nur innerhalb dieser Verhältnisse selbst stattfinden und nicht von außen an diese herangetragen werden. Ein solches Außen kann es nicht geben, denn die (Ideologie-) Kritik äußert sich immer nur von einem Standpunkt innerhalb der gesellschaftlichen Totalität. Das Beziehen eines externen Standpunkts bleibt ihr verwehrt, weil jede Kritik die Kritik eines Subjekts ist, das in der einen oder anderen Art ins Kapitalverhältnis verstrickt ist; sei es die Kritik seitens der eigentumslosen ArbeiterInnenklasse oder seitens der Kapitalfraktion. Eine moralisierende Kritik, deren angebliche Stärke ja gerade im Bezug auf externe, universale Maßstäbe liegt, müsste sich die Unmöglichkeit der Überwindung des Kapitalismus eingestehen.
Die Stärke der Immanenz
Demgegenüber sehe ich den internen Standpunkt dieser Kritik nicht als ihre Schwäche, sondern vielmehr als ihre Stärke an: »Es hindert uns also nichts, unsre Kritik an die Kritik der Politik, an die Parteinahme in der Politik, also an wirkliche Kämpfe anzuknüpfen und mit ihnen zu identifizieren. Wir treten dann nicht der Welt doktrinär mit einem neuen Prinzip entgegen: Hier ist die Wahrheit, hier kniee nieder! Wir entwickeln der Welt aus den Prinzipien der Welt neue Prinzipien.« (MEW 1; 345). Die immanente Kritik ist sogar die einzig legitime Kritik, gerade weil sie ihre Maßstäbe aus den Verhältnissen selbst bezieht. So sind Freiheit und Gleichheit als die zentralen, selbst verkündeten Kategorien der bürgerlichen Gesellschaft nicht etwa als defizitär verwirklichte zu kritisieren, sondern es ist zu zeigen, dass Freiheit und Gleichheit gerade durch ihre (vollständige, nicht bloß formelle) Verwirklichung als Freiheit des Eigentums und des Verkaufs der Ware Arbeitskraft die Klassenherrschaft vermitteln und reproduzieren. Persönliche Freiheit, Eigentumsfreiheit und Gleichheit sind die wesentlichen Voraussetzungen des gelingenden Tausch akts, in welchem der/die ArbeiterIn als doppeltfreier seine Arbeitskraft dem Kapital zur Verfügung stellt.
Daran anknüpfend ist auch die Erklärung des Proletariats zum revolutionären Subjekt nicht in dem erkenntnistheoretischen Sinne misszuverstehen, dass etwa nur das Proletariat in der Lage wäre, die Verhältnisse zu begreifen oder dass nur das Proletariat die wirkmächtige Gewalt zur Bekämpfung der Verhältnisse besitzt, gerade weil sie die »Verlierer« des Systems wären, nein. Der Standpunkt des Proletariats ist deswegen der revolutionäre Standpunkt, weil das Proletariat begreifen bedeutet, die Produktionsweise zu begreifen. Der dialektische Zusammenhang besteht darin, dass die Einsicht in das Proletariat als besondere Klasse die allgemeine Einsicht in die gesellschaftlichen Verhältnisse vermittelt. Daher schreibt Marx: »Diese Auflösung der Gesellschaft als ein besonderer Stand ist das Proletariat.« (MEW 1; 390).
Dadurch schließt sich aber auch der Bogen zu der eingangs skizzierten, sehr abstrakten Entwicklung des Fetischbegriffes. Den Fetisch als Fetisch zu durchschauen, geht nicht allein aus der begrifflichen Analyse der Wertformtheorie hervor, sondern ist gebunden an die Erkenntnis einer durch Klassengegensätze und -kämpfe strukturierten Wirklichkeit.
Immanente Kritik und Emanzipation
In diesem Sinne muss die immanente Kritik bzw. das Begreifen der Funktionsweise der gesellschaftlichen Formen Ware, Wert, Kapital usw. als Bedingung der Möglichkeit der Überwindung dieser Verhältnisse betrachtet werden. Die intellektuelle Leistung der Kritik zum entscheidenden Moment im Emanzipationsprozess zu erklären, hieße aber, von Marx zu Hegel zurückzugehen, denn bei Marx heißt es ja in Umkehrung der Hegelschen Philosophie: »Es genügt nicht, daß der Gedanke zur Verwirklichung drängt, die Wirklichkeit muß sich selbst zum Gedanken drängen.« (MEW 1; 386). Auch hier ist aber nicht von einer Wirklichkeit auszugehen, die dem menschlichen Bewusstsein entgegengesetzt oder dessen Zugriff gänzlich verschlossen wäre, sondern von einer Wirklichkeit, die wesentlich vom Menschen zu gestalten, zu verändern und umzuwälzen ist. Insofern sind antikapitalistische Wirklichkeiten zu schaffen, aufzufinden und an diese anzuknüpfen. Das Bedingungslose Grundeinkommen wäre eine solche Institutionalisierung einer antikapitalistischen Wirklichkeit, dem zugleich – trotz seiner Institutionalisierung – ein systemtranszendierendes Moment inhäriert ist, da das Lohnarbeitsverhältnis an sich gesprengt wird, indem die Geldleistung gerade nicht von der Verrichtung der Lohnarbeit abhängig gemacht wird. Die Überwindung der Verhältnisse geschieht natürlich nicht durch eine Horde rebellischer Maschinenteile, die sich von ihrem geistlosen Dasein lossagen, sondern durch diejenigen Menschen, die der Verkehrtheit der Produktionsweise den Kampf ansagen, weil sie deren auf Ausbeutung, Entfremdung und Selbstwidersprüchlichkeit basierende Funktionsweise verstanden haben. Ideologiekritik ist daher auch eine soziale und insbesondere politische Praxis, die sich die Umwälzung der politischen Ökonomie zur Aufgabe macht. Als solche ist sie die sich konstituierende kommunistische Macht.
1 Darüber hinaus sehen wir uns alltäglich unter der Kontrolle der Bewegung von Dingen: Alles und jedes ist abhängig vom Geld, dessentwegen der morgendliche Gang in die Arbeit angetreten wird.