Der sozialphilosophische Essay von LINDA LILITH OBERMAYR zeigt, dass der Ruf nach Solidarität Isolation und Abgrenzung meint und weshalb die gegenwärtige Situation keinen Ausnahmecharakter hat.
Zeitgleich mit dem Auftauchen von Covid-19 entdeckt der Staat eine Tugend, die er immerzu dann von seinen BürgerInnen einfordert, wenn er um das Volk als seine materielle Basis fürchtet: die Solidarität. Wir alle sollen zusammenhalten, sollen uns umeinander sorgen, sollen aufeinander Rücksicht nehmen. In der Form des Imperativs liegt der Hinweis auf eine Realität, die offensichtlich nicht durch Solidarität gekennzeichnet ist. Nur einer Gesellschaft, die von radikalen Interessengegensätzen bestimmt ist, lässt sich das perennierende Sollen äußerlich aufoktroyieren.
Als solche Äußerlichkeit gewinnt die Solidarität den Charakter der Toleranz in der ursprünglichen Wortbedeutung des »tolerare«, lateinisch für »ertragen«. Diese solidarische Toleranz hat den negativen Beigeschmack, dass die Rücksichtnahme auf unsere Mitmenschen uns regelmäßig zuwiderläuft, sich die Begeisterung für umfassende Gemeinschaftlichkeit also in Grenzen hält. Woran liegt das?
Solidarität und Interessengegensatz
Das liegt daran, dass unsere Gesellschaft auf eine Weise strukturiert ist, in der sich die Interessen wechselseitig beschränken, in der also die liberale Vorstellung einer negativen Freiheit herrscht: 1 Wir können tun, was wir wollen, solange wir dadurch nicht die Freiheit anderer eingreifen, der Andere begegnet stets als antagonistischer Gegenpart. Diese Interessengegensätzlichkeit entspringt natürlich unmittelbar dem Klassengegensatz innerhalb der warenproduzierenden Gesellschaft. Die Forderung einer solidarischen Toleranz widerspricht also zunächst der Negativität der faktischen Realität.2 Sie widerspricht aber auch der mit der bürgerlichen Gesellschaft gesetzten Subjektform des »Menschen als isolierter und zurückgezogener Monade« (MEW 1, 364). Dieser Individualismus, der nicht nur die Wirtschaftsweise, sondern auch den gegenwärtigen Zeitgeist auf den Punkt bringt, scheint nun durch die pandemisch verordnete Solidarität zu bröckeln – ein Schritt in die richtige Richtung, oder?
Slavoj Žižek sieht das offenbar so, hat er doch in mehreren Interviews die Corona-Krise für fruchtbaren Boden kommunistischer Ideen und internationaler kollektiver Solidarität erklärt. Er diagnostiziert jedoch im gleichen Schritt die paradoxe Ausprägung dieser Solidarität im Modus der Vereinzelung und Isolation, der Abschottung und des Rückzugs. Eine Solidarität also, die fundamental antisolidarisch operiert. Unabhängig davon, dass eine äußerlich verordnete Solidarität, die fern jeglicher Ökonomiekritik ist und sich wesentlich aus der Furcht ums blanke Überleben nährt, auch nicht im Sinne einer Verelendungstheorie revolutionstheoretisch mobilisierbar ist, stellt sich die Frage, ob diese überhaupt den Charakter eines neuen »Moments« im gesellschaftlichen Gesamtzusammenhang für sich beanspruchen kann.
Die Normalität im Ausnahmezustand
Wenn die Forderung nach internationaler Solidarität den Modus der Abkapselung und Separation propagiert, dann reklamiert sie nichts, was nicht schon wäre, oder Hegelianisch gesprochen, sie setzt das, was schon ist. Denn wir alle sind als gleiche und freie Warenbesitzer die isolierten Subjekte, die jetzt obrigkeitlich als Ideal kollektiver Solidarität inszeniert werden und trotz dieser unserer Isolation sind wir voneinander in dem umfänglichen Sinne abhängig, dass alle zur Verhinderung einer fortschreitenden Infektion angerufen sind. Gleichzeitig bestätigt sich der im amerikanischen Traum kulminierende bürgerliche Individualismus, wenn die Staatsmacht an die Verantwortung jedes Einzelnen appelliert, daran, dass jeder nicht nur seines Glückes, sondern auch des Glückes aller Schmied ist.
In gewisser Weise sind wir also jetzt da, wo wir vor Covid-19 auch schon waren. Die verordnete Solidarität bringt ein Bündel an ideologischen Vorstellungen mit sich, die keine bloßen Trugbilder, sondern adäquate Widerspiegelung der gesellschaftlichen Realität sind. Die Analogie zu Hegel bricht allerdings an diesem Punkt ab. Denn die Hegelsche Figur der Rückkehr als der Rückkehr zu dem, was bereits ist, benennt einen Bewusstwerdungsprozess darüber, dass das Gesetztsein – die Forderung nach Selbstisolation – nur die Unmittelbarkeit des Bestehenden – die monadischen Warenbesitzer Innen – wiederholt. An solcher Reflexion mangelt es der staatlichen Solidaritätsbekundung, welche sich jungfräulich an die Wirklichkeit anzuschmiegen sucht. Immerhin ließe sich eine solche Reflexion aber als Ausgangspunkt einer fundamentalen Gesellschaftskritik und also einer echten Solidarität aus Einsicht in die Produktionsweise heranziehen.
1 Freilich ist auch auf die »positive« Freiheit des doppelt freien Lohnarbeiters hinzuweisen.
2 Es geht mir hier lediglich um den formalen Widerspruch zwischen der äußerlich verordneten Solidarität und dem kraft Eigentumsfreiheit äußerlich verordneten Egoismus.
Linda Lilith Obermayr ist Philosophin und Juristin und beschäftigt sich vorwiegend mit Sozialphilosophie und Ideologiekritik.