Die unerschütterliche Sehnsucht nach einem Platz innerhalb der kapitalistischen Gesellschaft bringt den Glauben an die bizarrsten Widersprüche zustande. Da staunt sogar Hegel.
VON LINDA LILITH OBERMAYR
Die Staatstheorie der Linken verzweigt sich seit jeher in zwei Seiten: einmal in die Seite der Befürworter*innen des Staates als Sozialstaat, ein andermal in die Seite der Gegner*innen des Staates als Klassenstaat. Der Sozialstaat beruht auf der Idee, den Staat zu Zwecken sozialer Gerechtigkeit einzusetzen, etwa durch den Erlass arbeitnehmer*innen-, mieter*innen- oder konsumentenschutzrechtlicher Regelungen. In diesem Sinne ist auch der austromarxistische »Dritte Weg« zu verstehen, der sozialerzieherisch und sozialgesetzgeberisch die Bedingungen der Möglichkeit einer zukünftigen, aber aufgeschobenen Revolution schaffen will. Die durch ihn gepredigte »soziale Revolution« ist also nicht dadurch sozial, dass sie die alte Gesellschaft auflöst, sondern bloß dadurch, dass sie in eben diese alte Gesellschaft regulierend eingreift. Der klassischen Sozialdemokratie wie dem austromarxistischen Reformismus geht es demnach primär darum, sozialen Ausgleich innerhalb der bestehenden Ordnung herzustellen.
Jenseits von Sozial- und Klassenstaat
Demgegenüber gilt der Staatstheorie im Anschluss an Lenin jeder Staat als Klassenstaat und als solcher dient er einzig der Durchsetzung der Interessen der herrschenden Klasse. Weil der Staat auf diese Weise aber als bloßes – das heißt inhaltsleeres und erst mit Inhalt zu speisendes – Instrument begriffen ist, folgt auf das »Zerschlagen« der Staatsmacht nicht der staatsfreie Zustand, sondern die Ergreifung derselben durch das Proletariat. Dieses setzt den Staat erneut zur Durchsetzung seiner Interessen – also primär der Verstaatlichung der Produktionsmittel – ein. Nun nimmt die Leninistische Staatstheorie ihr eigenes Diktum nicht ernst, wenn sie mit der Übernahme der Staatsmacht bloß inhaltliche Kritik am Staat übt. Denn wenn jeder Staat Klassenstaat ist, hängt diese Eigenschaft offenbar nicht mit der konkreten, die Staatsmacht innehabenden Person/Fraktion, sondern mit der Form des bürgerlichen Staates als solchem zusammen.
Affirmation des Gewaltverhältnisses Namens Staat
Gemeinsam ist der sozialdemokratischen und der leninistischen Staatstheorie folglich die im ersten Fall unmittelbare, im zweiten Fall mittelbare Affirmation des Staates als Gewaltverhältnis. Dass der Staat Gewaltverhältnis ist, ist allein darin mühelos zu erkennen, dass er sich das alleinige Recht zur zwangsweisen Durchsetzung, das Gewaltmonopol, sichert. Es erübrigt sich sohin, sich mit Beweisen dafür, dass das Verhältnis des Staates zu seinem Volk ein gewaltvolles ist, auseinanderzusetzen. Im Übrigen scheint dies allein für den überwiegenden Teil der Bevölkerung auch nicht Grund zur Empörung zu sein. Anlass moralischer Entrüstung ist ganz im Gegenteil nicht das Gewalt- und Herrschaftsverhältnis selbst, sondern bloß sein Missbrauch durch korrupte Politik oder zu falschen Zwecken. Diese Absurdität kommt am eindrücklichsten in Debatten darüber zum Ausdruck, ob die Gewaltanwendung der Polizei nicht womöglich »unangemessen«, ob nicht besser an Stelle des Schlagstockes die bloße Hand verwendet, besser nur zweimal statt dreimal zugeschlagen werden sollte usf. Diese Zustimmung zur angemessenen Gewalt – neuerdings auch performativ in Form von denunziantischen Nachbarschaftsanzeigen, die ein Ruf nach Gewaltausübung durch den Staat sind – ist in einer umfassenden Bejahung gerechtfertigter Herrschaft inbegriffen.
Ohne das zu wissen, wird der Großteil der wahlberechtigten Bevölkerung spätestens am Tag des Urnengangs zu Hobbesianer* innen: Dass der Mensch dem Menschen ein Wolf ist und der ordnenden Staatsgewalt bedarf, ist der bürgerlichen Demokratie nämlich die allerliebste Weisheit.
Lehrstücke der Ideologie I – Freiheit als Herrschaftsverhältnis
Eine differenzierte Staatskritik muss an der Form des bürgerlichen Staates ansetzen, ihn also nicht bloß nach seiner konkreten Ausgestaltung oder als neutrales Werkzeug bestimmter Interessen verstehen. Der bürgerliche demokratische Staat ist nicht nur der Staat der »Reichen« und »Mächtigen«, er ist der Staat aller und alle sind seine Basis. Tatsächlich ist der Staat also neutral, in dem Sinne nämlich, dass ihm alle gleich und frei sind, ja er die Freiheit und Gleichheit aller sogar zwangsmäßig durchsetzt. Falsch ist jedoch, dass sich hinter diesem neutralen Schleier ein »Gorgonenhaupt [Schreckenshaupt] der Macht«, also das Sonderinteresse, fände.
Indem der Staat seinen Bürger*innen die Freiheit und Gleichheit verordnet, verweist er sie zugleich auf die Anerkennung des Privateigentums als der materiellen Betätigungssphäre ihrer Freiheit. Er gewährt ihnen Freiheit nur in der bestimmten Form der eigentumsmäßigen Verfügung, und weil ihm alle gleich sind, er also von all ihren Besonderheit absieht, gelten ihm die faktischen Eigentumsunterschiede unter ihnen nichts. Gleichheit ist nur die unterschiedslose Unterwerfung aller unter sein Recht. Gerade dadurch also, dass er als vollends neutrale Instanz die Freiheit und Gleichheit aller zwangsweise durchsetzt, setzt er den ökonomischen Interessengegensatz seiner Bürger*innen frei. Als Freie und Gleiche dürfen sie nun ihre gegensätzlichen Privatinteressen zu ihrem wechselseitigen Schaden verfolgen und sind in dieser Hinsicht wieder auf den Staat als regulierende Instanz verwiesen. Es ist also der Staat, der den Interessengegensatz, in den er die Ordnung hineinzutragen verspricht, erst wirklich betätigt.
Dass Freiheit ein Herrschaftsverhältnis ist, wird nicht erst in der gegenwärtigen Corona-Krise deutlich, sondern lässt sich immer dann zum Repertoire bürgerlich-demokratischer Alltagsweisheiten zählen, wenn einmal wieder »mehr Freiheit« vom Staat gefordert wird. Freiheit als Forderung an den Staat ist doch aber eine äußerst seltsame Konstruktion.
Lehrstücke der Ideologie II – Der Glaube an die gute Herrschaft
Obwohl restlose Unzufriedenheit mit dem Staat herrscht – freilich wird es nie verabsäumt, ihn im selben Atemzug in einem Vergleich mit totalitären Staatsregimen jenseits des demokratischen Westens zu loben –, erscheint der Staat als Einrichtung zur Beförderung des Gemeinwohls. Jeden Tag spürt der eigentumslose Teil, also die Mehrheit der Bevölkerung die Interessengegensätzlichkeit, die ihr der Staat aufoktroyiert, jeden Monat liegt die radikale Wirklichkeit als Gehaltszettel im Postfach und dennoch: gegen die negative Wirklichkeit hält die Bevölkerung fest an der Vorstellung, der Staat sorge sich um sie, und es ist diese Unerschütterlichkeit gegen jede empirische Erfahrung, die ihre Vorstellung zum Glauben erhebt. Der vollends säkularisierte bürgerliche Staat ist also der Staat, der jede Wirklichkeit gegen sich, aber immerhin noch den Glauben für sich hat.
Doch die Kritik am Staat ist nicht nur vom Glauben an die Gemeinwohlorientierung staatlichen Handelns, sondern darüber hinaus vom umfassenden Glauben an die gute Herrschaft motiviert.
Durch die Brille dieses Glaubens jedoch muss jede noch so entgegengesetzte Wirklichkeit, jedes offenkundig dem eigenen Interesse entgegengesetzte Staatshandeln als Moment zur Herstellung der guten Herrschaft oder doch wenigstens als zugleich bedauerte (etwa wirtschaftliche) Notwendigkeit erscheinen. Der Staat muss die Steuern erhöhen, um zukünftig das Gemeinwohl zu fördern, und treue Patriot*innen nehmen dies mit würdevoller Selbstaufopferung gerne in Kauf. Dabei ist völlig klar, dass das Gemeinwohl nur sein Wohl, seine wirtschaftliche und geopolitische Stellung im internationalen Wettkampf der Nationalstaaten bedeutet. Wenn sich der Staat sohin in Zeiten von Epidemien um die Gesundheit seines Volkes kümmert, so gilt ihm die Gesundheit nicht als Wert an sich, sondern als Bedingung einer funktionierenden wirtschaftlichen Basis. Doch endet eine idealistische Kritik an der Wirklichkeit immerzu nur beim hoffnungsvollen Seufzer: »Eigentlich sollte das ja nicht so sein!«
CoronAnarchismus
Nun erscheint dieser Text zu einer Zeit, in der Staatskritik salonfähig, ja vom kritischen Bewusstsein der mündigen demokratischen Staatsbürger*innen gar nicht wegzudenken ist. Fast könnte man meinen, die sonst so patriotisch ergebene Basis flüchtet sich ins anarchistische Lager.
Gegenstand dieser neuen Staatskritik sind einerseits die massiven Einschränkungen in der Wirtschaft und andererseits die beobachtete Tendenz hin zum totalitären Überwachungsstaat. Hinsichtlich der wirtschaftlichen Einschränkung steht ein großer Teil der eigentumslosen Klasse vor dem finanziellen Ruin; das ist ein Faktum und als solches ist es tragisch. Gleichwohl ist die Kritik an dieser Einschränkung paradox: Nur weil der Staat durch die Verkündung von Freiheit und Gleichheit das Kapitalinteresse zum allgemeinen Interesse der Gesellschaft erklärt, ist die eigentumslose Klasse zur Lohnarbeit verpflichtet. Gegenüber dieser Not muss die Lohnarbeit als Segen erscheinen, füllt ihr Tauschwert doch monatlich die Mägen. Die Not um den lohnförmigen Gelderwerb ersetzt die Not des lohnförmigen Gelderwerbs. Diesem Faktum gegenüber bleibt eine Kritik aber blind, die nur erst die staatliche Einschränkung der privaten Freiheit, nicht aber den staatlichen Ursprung dieser Freiheit erkennt.
Ebenso ist die Kritik an den Maßnahmen unter Verweis auf das potentielle Zusteuern auf ein totalitäres Staatsregime verkehrt, denn diese Kritik weiß sich immer schon auf der Seite des demokratischen Gemeinwesens, dessen Wertekanon sie unhinterfragt als Maß der Dinge nimmt. Statt ihren Blick in energischer Bekräftigung der heimischen Demokratie spöttisch über die Grenze auf fremde Diktaturen zu werfen, sollte diese Kritik sich lieber dem eigenen Glauben an die gute Herrschaft zuwenden. Dieser Glaube kulminiert im Paradox, dass die demokratische Herrschaft deswegen eine gute ist, weil ihr alle zustimmen.