Das Gesundheitssystem ist krank! Aber, ist es das Gesundheitssystem? Woran ein Recht auf Gesundheit scheitert.
VON ANKE STRÜVER
Wenn es um die Gesundheitsversorgung in den EU-Mitgliedsstaaten geht, wird meist auf das vorherrschende Solidar- und Gleichheitsprinzip und die großen Unterschiede zu den USA verwiesen. Wer hierzulande älter als fünfzig ist, wird sich aber auch an die großen Unterschiede zu den 1970er Jahren erinnern. Seitdem sind die Abgaben für die gesetzlichen Krankenkassen kontinuierlich gestiegen und die Versorgungsleistungen gesunken; wer es sich leisten kann oder will, gleicht Letzteres heutzutage durch private Zusatzversicherungen aus. Diese Bestandsaufnahme ist allgemein bekannt und vor allem weitgehend anerkannt. Dennoch – oder gerade deswegen – gehen Politiker*innen gerne mit stolzen Aussagen wie diesen an die Öffentlichkeit: »Der Gesundheitszustand der Bevölkerung ist Spiegel für den Wohlstand der Gesellschaft.« Sie verweisen damit auf eine (individualisierte) Wohlstandsgesellschaft, die sich von der (kollektiven) Wohlfahrtsgesellschaft seit den 1980er Jahren erfolgreich emanzipiert hat und die in den neoliberalen Gesellschafts- und Gesundheitsreformen und der Verschiebung von Versorgung auf Selbstsorge ihren erschreckenden Höhepunkt gefunden hat.
Versorgung
Der oft zitierte Ausspruch des römischen Dichters Vergil »der größte Reichtum ist Gesundheit« ist auf Englisch viel eingängiger (»the greatest wealth is health«) und wird seit fünf Jahren als Teil der Agenda 2030 der UN bzw. der Sustainable Development Goals als Slogan plakativ vermarktet (siehe bspw. https://www.unenvironment.org/news-and-stories/story/ greatest-wealth-health). Für das Erreichen dieser Art von Reichtum steht, zumindest in Mitteleuropa, der gesicherte Zugang zu hochwertigen grundlegenden Gesundheitsdiensten im Mittelpunkt. Doch genau das, der Zugang zu Gesundheitsdiensten, und seien sie noch so gut (oder gar umsonst) reicht bei weitem nicht aus für eine gesunde Gesellschaft. Vor ziemlich genau zehn Jahren haben Wilkinson & Pickett (2010) ihre Studie zu den gesundheitlichen Auswirkungen gesellschaftlicher Ungleichheiten publiziert: Sie machen deutlich, dass sich gesamtgesellschaftliche Ungleichheiten stärker auf die Gesundheit der marginalisiert und prekarisiert lebenden Menschen auswirken als auf die der Situierten. Umgekehrt hängt eine Reduktion gesundheitlicher Ungleichheiten von der Steigerung der gesellschaftlichen Gleichheit ab. Kurz gesagt: sozial gleichere Gesellschaften sind auch gesündere Gesellschaften.
Verhältnisse und Verhalten
Bereits 2008 hatte die Weltgesundheitsorganisation einen Bericht zu sozialen Determinanten von Gesundheit betitelt mit »Soziale Ungerechtigkeit ist für den Tod von Menschen im großen Stil verantwortlich« (WHO 2008). Der Bericht bezieht sich vor allem auf globale Ungleichheiten. Doch er macht erstens verständlich, dass und inwiefern gesellschaftliche Ungerechtigkeit der zentrale Faktor für Gesundheit und Krankheit ist. Und er stellt zweitens heraus, dass eine Verbesserung der globalen Gesundheitssituation nur über eine Verbesserung der gesellschaftlichen Verhältnisse erreichbar ist.
In den Debatten um Gesundheit spielt der Begriff der Verhältnisse eine umkämpfte Rolle. Anders als Ansätze zur Public Health, die in der Regel die sozialen Determinanten von Gesundheit über quantitativ orientierte Risikoanalysen bestimmen und/oder auf Verhaltensänderungen abzielen, spricht die WHO gesellschaftliche Konstellationen an, wodurch sich die WHO-Kritik durchaus auf nationale Gesellschaften übertragen lässt. Denn sozioökomische Armut, fehlende Bildung, Migrationserfahrung, Wohnraummangel, Umweltgifte etc. resultieren nicht zwangsläufig in schlechten sozialräumlichen Verhältnissen; sie machen nicht direkt krank und verringern nicht automatisch die Lebensqualität und Lebenserwartung. Vielmehr handelt es sich dabei um gesellschaftlich ungerecht strukturierte und vermittelte Prozesse.
So zeigt sich bspw. in vielen europäischen Städten, dass Menschen, die sozioökonomisch, soziokulturell oder sozialräumlich marginalisiert werden, eine kürzere Lebenserwartung haben und überdurchschnittlich häufig an psychischen wie physischen chronischen Krankheiten leiden (vgl. Poliklinik 2020). Dies kann nicht – oder zumindest nicht allein – über einen gesicherten Zugang zu Gesundheitsdiensten (s. o.) und/oder eine verbesserte Qualität der medizinischen Versorgung reformiert werden, da soziale Faktoren wie Wohnungsgrößen und Mieten, Arbeitslosigkeit und Einkommensunsicherheiten, Alters-Diskriminierung oder Rassismus die Gesundheit nachweisbar stärker beeinflussen als lokale räumliche oder soziale Verhältnisse oder individuelles (Fehl-)Verhalten.
Gesundheitliche Ungleichheiten sind also nicht nur Effekte von Verteilungsungleichheiten, sie werden nicht direkt und unmittelbar durch Umweltfaktoren oder sozialen Stress hervorgerufen. Denn sonst müsste bspw. eine hohe Konzentration von Umweltgiften in der direkten Wohnumgebung alle dort lebenden Menschen krank und »gleich krank« machen. Gesundheitliche Ungleichheiten sind aber auch nicht nur auf individuell krankmachendes Verhalten oder fehlende Selbstsorge zurückzuführen.
Verteilung
In Ergänzung zum oben zitierten »wealth is health« ist mittlerweile der Ausspruch »health is wealth« auf dem Vormarsch (Stanwell-Smith 2017). Er definiert Gesundheit als Lebensstil und Lebensziel, als Voraussetzung für Freiheit und Wohlbefinden und verwehrt damit nicht nur chronisch wie akut Erkrankten diese Rechte, sondern reduziert (vermeintliche) Freiheit auf erfolgreiche Selbstsorge oder zumindest einen risikoarmen Lebensstil; d. h. das Recht auf Gesundheit wird individualisiert. Im Umkehrschluss bedeutet Gesundheitsgerechtigkeit in einer Gesellschaft der Gleichheit, dass alle ihre Lebensumstände wählen und gestalten können. Das ist allerdings weniger im Sinne eines bewusst verfolgten gesunden Lebensstils und damit verbundenen Verhaltensänderungen zu verstehen (z. B. geringer Nikotin- und Alkoholkonsum, gesteigerte sportliche Aktivität, Umzug in »bessere« Nachbarschaft etc.). Es geht viel grundlegender um die basalen Möglichkeiten der Teilhabe und Einflussnahme; darum, die eigenen Wohn-, Arbeits- und Lebensbedingungen selbst, aktiv und in Solidarität mit anderen verändern zu können.
In der EU ist derzeit absolute Armut weniger ein Problem als die relative Ungleichheit in der Gesellschaft – von der alle in einer ungleichen Gesellschaft betroffen sind. Aber der in niedrigeren sozialen Statusgruppen durch das Erleben von Ungleichheit erhöhte und teilweise chronische Stress steigert das Krankheitsrisiko (vgl. Exner 2013; Wilkinson & Pickett 2010, 2018). Der soziale Stress kann zu gesundheitsschädlichem Verhalten führen (Nikotin- und Alkoholsucht, Bewegungsarmut, Über- oder Untergewicht) und ist somit kein individuelles, sondern ein gesellschaftliches Problem. Gesundsein ist dadurch genauso wenig individuelle Leistung wie Kranksein individuelles Versagen. Strukturelle Ungleichheit, die sich u.a. in Gesundheit oder Krankheit verkörpert, kann durch Umverteilung und gesellschaftliche Teilhabe bekämpft werden – und zwar im Sinne einer Verteilungsgerechtigkeit, die viel komplexer als Gleichbehandlung oder Gleichverteilung wäre (Fraser 2009). Erst die Anerkennung struktureller Ungleichheit ermöglicht, durch ökonomische Umverteilung und politische Teilhabe Ungerechtigkeit zu bekämpfen – und Gleichheit zu erreichen.
Verwertung versus Verantwortung
Ökonomische Umverteilung und soziale Teilhabe sind gleichwohl kaum ausreichend, um das kranke System zu heilen. So lange kapitalistische Verwertungsprinzipien dominieren, reproduzieren sich strukturelle soziale Ungleichheiten, die sich durch neoliberale Regierungspraktiken und Austeritätsmaßnahmen noch verstärken. Im übertragenen Sinne sind hier weniger akut oder chronisch erkrankte Menschen krank, als ein System, das nur über die ( Re-)Produktion von Ungleichheiten funktioniert. In ihrem neuen Buch fokussieren Wilkinson & Picket (2018) die Auswirkungen von Austeritätsmaßnahmen und der wachsenden Arbeits- und Einkommensungleichheiten auf (vermeintlich individuelle) Probleme wie fehlendes Gefühl von Anerkennung und Angstzustände, die in physischem wie psychischem Stress resultieren. Sie mahnen zudem den Rückbau des finanzialisierten Kapitalismus zu egalitär-kooperativen Gesellschafts- und Wirtschaftsformen an – und koppeln damit viel stärker als die Sustainable Devlopment Goals die Steigerung der sozialen Gleichheit an wachstumskritische ökologische und ökonomische Produktions- und Arbeitsformen. Wenn »der Gesundheitszustand einer Bevölkerung Spiegel für den Wohlstand einer Gesellschaft ist«, dann wäre ein etabliertes Recht auf Gesundheit Ausdruck von Verantwortung – und Spiegel für den Gleichheitsgrad einer Gesellschaft.
Anke Strüver ist Professorin am Institut für Geographie und Raumforschung der Universität Graz.
Zitierte Literatur:
Exner, Andreas (2013): Gesundheit und soziale Gleichheit. In: Initiative Solidarisch G’sund (Hrsg.): Gesundheit für alle! Wien: Mandelbaum, S. 26–55.
Fraser, Nancy (2009): Scales of Justice. Reimagining Political Space in a Globalizing World. New York: Columbia University Press.
Poliklinik (2020): Poliklinik Veddel. Hamburg. http://poliklinik1.org/konzeptvision (08.03.2020)
Stanwell-Smith, Rosalind (2017): Health is wealth. In: Perspectives in Public Health 137 (4), 198.
WHO (2008): Closing the gap in a generation. Health equity through action on the social determinants of health. Genf: WHO.
Wilkinson, Richard & Kate Pickett (2010): the Spirit Level : Why Equality is Better for Everyone. London: Penguin.
Wilkinson, Richard & Kate Pickett (2018): The Inner Level: How More Equal Societies Reduce Stress, Restore Sanity and Improve Everyone’s Well-being. London: Allen Lane.