VON JOSEPH GRIM FEINBERG
Als der kubanische Dichter José Martí 1890 diese Zeilen schrieb, konnte er nicht wissen, dass jene einmal gesungen werden würden:
Mein Vers ist hellgrün
Und von purpurnen Flammen:
Mein Vers ist ein verwundeter Hirsch
Der Schutz sucht in den Bergen.
In der allerersten Zeile dieser Sammlung Einfacher Verse schrieb er: »Ich bin ein aufrichtiger Mann.« Er suchte nach Worten, durch die die Realität hindurchscheinen konnte. Eine verwundete Realität, die Deckung sucht. Seine Worte waren wie Blätter, die die Tiere vor den Waffen der Jäger abschirmten. Aber sie ließen das Sonnenlicht herein und sie ließen den Dichter direkt von seiner »Seele« zu »den armen Leuten des Landes« sprechen.
Aber seine Worte fingen Feuer. Nachdem er im Kampf gegen die Sklaverei und die Unterwerfung unter die Kolonialherrschaft gestorben war, wurde er ein Nationalheld und seine Einfachen Verse später zu einer einfachen Melodie namens »Guantanamera« zusammengefügt und auf der ganzen Welt gesungen. Martí hatte geschrieben, dass »der kleine Gebirgsbach mir mehr gefällt als das Meer«, aber sein Bach floss in den Ozean.
1973 schrieb der chilenische Singer-Songwriter Víctor Jara ein musikalisches »Manifesto«, als Echo von Martís poetischem Testament – und wenn ein Manifest ein Versuch ist »Dinge klar zu machen«, also Dinge zu manifestieren, dann können Martís und Jaras Verse als Manifest für die Manifestation selbst gelesen werden:
Ich singe nicht nur um zu singen
Auch nicht wegen meiner schönen Stimme
Ich singe weil meine Gitarre
Hat Sinn und spricht wahr
Es wurde zum Manifest einer Generation, die etwas zu sagen hatte und nicht davon abgehalten werden konnte, es zu sagen. Nur ein paar Jahre später, 1978 in Brasilien, sang Caetano Veloso gegen diejenigen, die sich fragten, warum er sich nicht hie und da ein bisschen mit einem unpolitischen Liebeslied beruhigte:
Ich singe nur, was nicht verschwiegen werden kann
Mit anderen Worten, ich bin sehr romantisch
Seine Romantik war politischer Natur, ein Glaube an die Kraft des Liedes. Womit er sich Kritikern von beiden Seiten gestellt hatte: Bei einem mittlerweile berüchtigten Musikfestival in Rio im Jahr 1968 hatte er sich mit einer Gruppe radikaler Studenten auseinandergesetzt, die die offensichtliche politische Irrelevanz seiner auffälligen Outfits, sexualisierten Tanzbewegungen und seltsamen neuen Harmonien anprangerten. Leider war seine Musik politisch nicht irrelevant genug, um zu verhindern, dass er im nächsten Jahr von der brasilianischen Diktatur verhaftet und verbannt wurde. Vielleicht hat das Militär erkannt, was die jungen Linken übersehen haben: dass seine Verschmelzung von politischer und ästhetischer Vision gefährlich war. Was er suchte, was für ihn »nicht verschwiegen werden kann«, war »ein perfekter Akkord / in dem die ganze Welt im Lied glänzen kann.« Ein perfekter Akkord, der verstimmt klang, wenn er neben den harmonischen Refrains von Diktatoren gespielt wurde.
In Kuba sah sich Silvio Rodríguez einem ähnlichen Rätsel gegenüber. Im selben Jahr, in dem Caetano versuchte, die Romantik neu zu definieren, schien er die Hände zu heben und es aufzugeben, seine Kritiker zufrieden zu stellen. Er sang: »Ich muss mich in zwei Teile teilen!« und ganz sanft von Liebe und Tränen,
Und die Öffentlichkeit würde sich versammeln und jubeln
Die Kinder und Rhythmusliebhaber kommen näher
Die Intellektuellen sitzen beiseite […]
»Aber ich habe mich immer wieder in Sachen verwickelt«, sagt er, und was sollte er tun? Er wollte von Liebe singen, aber auch von Revolution. Beide waren in ihm und wollten gesungen werden.
Aber waren sie das wirklich? Woher wissen wir, was in uns steckt und was wir singen sollen? Alles, was wir jemals von Martís Seele sehen werden, sind seine Verse. Alles, was wir über die »Bedeutung und Wahrheit« von Jaras Gitarre wissen, sind die Töne, die dem Klangkörper entsprangen. Und selbst wenn er den »Puls in seinen Adern« besang, sang er doch auch, dass sein Lied »auf den Grund der Erde ging, [...] wo alles endet und alles beginnt«. Und das ist irgendwo ganz anders. Für Caetano Veloso war es eher das Lied selbst als irgendeine eigene innere Idee, die »gesungen werden wollte«. Vielleicht ist es nicht die Seele, die durch klare Worte singt, sondern so, dass die Worte, dank ihrer eigenen Undurchsichtigkeit, das Geheimnis der Seele erschaffen. Wir alle tragen unsere Herzen auf unseren Zungen. Wir haben keinen anderen Ort, an dem wir sie tragen können. Die Seele ist nur das, was ungetragen bleibt.
Wir können niemals in das Herz eines Verses eindringen. Wir tanzen an seiner Oberfläche entlang. Und es tanzt mit uns, bis es uns für eine_n andere_n Partner_in sitzen lässt. Also warf Silvio seine Hände hoch: »Ich will nur singen, und es ist egal / Welches Schicksal ein Lied erwartet.« Aber es war sehr nett von ihm, uns eine Weile mit ihm tanzen zu lassen.
So wie Caetano von »Einem perfekten Akkord / In dem die ganze Welt glänzen kann« sang, hatte Joe Hill vor 75 Jahren vorausgesagt: »Wir werden ein Lied singen«. Wenn der »sanfte und demütige Sklave«, das sex-arbeitende »Mädchen unterm Strich«, der »arme und zerlumpte Landstreicher« und die »Kinder in den Mühlen« in einer großen Vereinigung zusammenkommen könnten, um die Ausbeutung abzuschaffen, dann könnten sie sich auch in Liedern zusammenfinden. Oder vielleicht war es umgekehrt. Wenn sie im Lied zusammenkommen könnten, dann könnten sie auch im Kampf zusammenkommen.
Aber Joe Hills Lied war nicht das Lied, das alle sangen. (Es ist nicht einmal eines seiner populäreren Lieder.) Das »eine Lied» ist natürlich kein einziges Lied, sondern alle Lieder, in jeder Sprache, alle Lieder aller Organisationen, die zusammen die weltweite Arbeit des Organisierens übernehmen, die mit ebensoviel Dissonanz wie Harmonie erklingen. Das ist die Arbeit oder das Organisieren, und manchmal ist es schwer zu sagen, ob die Organisatoren das Singen, oder das Lied das Organisieren übernimmt.
Auch »Die Internationale« – also vielleicht jenes Lied, welches am nächsten dran ist von allen gesungen zu werden – lässt die Angelegenheit ungelöst. Als Eugène Pottier es 1871 schrieb, bezog er sich auf die Internationale Arbeiterassoziation (IAA). Der Text verwendete jedoch eine brillante Ambiguität: Das weibliche Adjektiv »L’Internationale« bezog sich auch auf die »Marseillaise«, nach deren Melodie die Wörter zuerst gesungen wurden. Das gleiche Wort bedeutete also zwei Dinge – im Chor war es die Internationale als Organisation, die »die Menschheit« sein würde, aber im Titel war es das »Internationale Lied«, im Gegensatz zum nationalen »Lied aus Marseille«. Dann, ein Jahr nachdem das Lied geschrieben wurde, spaltete sich die Internationale und löste sich 1876 auf, bevor das Lied später seine eigene Melodie fand und die bekannte Hymne wurde. Das Wort verlor seinen konkreten organisatorischen Bezug und der abstrakte Begriff einer großen internationalen Organisation verschmolz mit der konkreten Existenz des Liedes. Die Internationale, einst tot, lebte dort weiter, wo das Lied gesungen wurde.
Vielleicht spielt es doch eine Rolle, »welches Schicksal auf ein Lied wartet«.
Joseph Grim Feinberg ist Kulturanthropologe und Sozialtheoretiker, er forscht in Bratislava und Prag.
Bisher erschienen: Folge 1 (Juni 2019) über Pete Seegers Hymnen für eine nicht existierende Nation.
Aus dem Englischen von HvD