BERTHOLD SELIGER fordert einen neuen Klassikkampf um die verdrängten Potenziale der Musik.
Nun sitzen sie wieder in den Startlöchern und scharren mit den Hufen: Das große Beethoven-Jubiläum 2020 soll ein »nationales Ereignis mit internationaler Strahlkraft« werden, wie es die eigens von der deutschen Bundesregierung, dem Land Nordrhein-Westfalen, dem Rhein-Sieg-Kreis und der Stadt Bonn gegründete und mit üppigen 30 Millionen Euro von der Bundeskulturpolitik alimentierte Firma »Beethoven Jubiläums Gesellschaft« verlauten ließ. »Unser Beethoven« als nationale Aufgabe, wie schon in früheren Jubeljahren, nur dass man heutzutage der identitätsstiftenden Ideologie neumodischen Marketingquark hinzufügt: »BTHVN2020« lautet die offizielle Dachmarke (ob sie dann bei ihren Aufführungen der Neunten auch »Frd schnr Gttrfnkn« singen werden?), unter der Pünktchen-Ausstellungen wie »Beethoven. Welt.Bürger.Musik« (die als »bisher größte kulturhistorische Ausstellung« beworben wird), eine »erlebnisorientierte« Dauerausstellung im Beethoven-Haus, eine »BTHVN-Woche« mit Kammermusik und eine multimediale Dauerinstallation namens »Beethoven Story« angepriesen werden. In Berlin haben sie das Signet #bebeethoven erfunden (vor paar Jahren hieß es noch #be.berlin), und ein Stadtmagazin freut sich über das »Vorglühen für Beethovens Geburtstagsfete« – Ludwig sticht alle!
Aber ist es denn nicht lobenswert, wenn ein großer Komponist wie Beethoven »barrierefrei« präsentiert wird, als Ludwig zum Anfassen, mit modernsten Mitteln glattgebürstet und eingemeindet? »BTHVN«, der erste deutsche Popstar, eine nationale Sinnstiftungsmaschine wie sonst nur Goethe und das Bauhaus? »Bekanntlich kommt für die meiste Musik, die etwas taugt, einmal der fatale Zeitpunkt, wo sie sich, wie man so sagt, ‚durchsetzt‘, also ihre revolutionäre Funktion einbüßt und zum Kulturgut neutralisiert wird.« So beginnt ein 1970 erschienener Aufsatz des Komponisten und Musikwissenschaftlers Heinz-Klaus Metzger »Zur Beethoven-Interpretation«. In diesem Jahr stand Beethoven längst auf allen möglichen und unmöglichen Denkmälern, war vom Kulturbetrieb (dem des Nationalsozialismus wie dem des Adenauer-Deutschlands) vereinnahmt worden und diente der Selbstvergewisserung der Bourgeoisie wie der Mächtigen.
Und bis heute gilt: Sitzt man in Konzertsälen, Philharmonien und Opernhäusern, dann stellt man fest, dass weder die Menschen um einen herum im Zuschauerraum noch jene auf der Bühne die Vielfalt der Gesellschaft abbilden. Die klassische Musik ist damals wie heute eine Kultur der Eliten, und zwar sowohl der Bildungselite als auch der klassischen (also wirtschaftlichen) Elite. Und die Konzertveranstalter, Opernhäuser und Radiosender sorgen dafür, dass die immergleichen Stücke aufgeführt werden, ein »allgemeiner Routine-Express-Zug von Beethoven bis Sibelius und zurück«, wie Hanns Eisler die Reduzierung von klassischen Konzertprogrammen auf einige wenige Komponisten tituliert hat. Die Konzertbesucher*innen werden nicht gefordert, sondern sollen sich am überschaubaren Repertoire einer Wohlfühlklassik laben, an »schönen« Melodien und Harmonien. Klassische Musik zum Entspannen und Abschalten.
Der ideologisierte Kanon
Dieser vom Bürgertum erfundene Kanon orientiert sich am »Publikumsgeschmack«: Das, was das Publikum wünscht, wird meistens auch gespielt, die Quote regiert die Konzertprogramme wie die Veröffentlichungen der Plattenfirmen, und die radikalere klassische wie erst recht die zeitgenössische Musik fehlen in den Programmen fast vollständig oder sind an spezielle Reihen und Festivals »outgesourced«. Von Intendanten hört man Äußerungen wie »unsere Welt endet bei Prokofjew« (also vor Erfindung des Toasters oder der Waschmaschine) oder »bei modernen Stücken verlieren wir ein Drittel des Publikums« (wie der Dirigent Baldur Brönnimann in einem Interview mit der Zeitschrift »VAN« berichtete). Der Kanon ist ein Hort der Ausgrenzung, ein Verteidigungsraum des konservativen Bürgertums, und: »Die Reinheit der bürgerlichen Kunst, die sich als Reich der Freiheit im Gegensatz zur materiellen Praxis hypostasierte, war von Anfang mit dem Ausschluss der Unterklasse erkauft« (Adorno/ Horkheimer: Dialektik der Aufklärung).
Bis heute ist die »Klassik« so einheitlich bildungshoch gebunden wie keine andere Musikart, in den Konzerten finden wir Ärzte, Lehrer, Juristen, Beamte, aber kaum je Verkäufer*innen, Friseur*innen, Arbeiter*innen oder Landwirte. Die Eliten wissen um den treuhänderischen Wert der Kultur, es geht um kulturelle Hegemonie, und der bürgerliche Geschmack setzt auf Repräsentation. So, wie »die meisten Kunstmuseen von Weißen für Weiße geschaffen wurden« (Kerry James Marshall), wird die klassische Musik in der Regel von Musikern aufgeführt, »die von der Bourgeoisie und für sie ausgebildet wurden« (Roland Barthes).
Dabei erfüllt die Konstruktion des Kanons durchweg eine ideologische Funktion. Das Problem ist vor allem, was fehlt: Morton Feldman zum Beispiel, Frederic Rzewski, Isang Yun, Wladimir Ussatschewski, Ben Johnston, Ligeti, Henze, Xenakis, Varèse, Spahlinger und, natürlich, Hanns Eisler, um nur einige Beispiele von Komponisten zu nennen, deren Werke sich ähnlich mit der Gesellschaft auseinandersetzen wie weiland die Werke Beethovens, Schuberts oder Mahlers. Und es ist kein Zufall, dass von Sergej Prokofjew, immerhin mit »Peter und der Wolf« der populärste und meistaufgeführte Komponist des 20. Jahrhunderts, zwar regelmäßig seine »gefällige« 1., kaum aber die radikalere 2. Sinfonie aufgeführt wird, und schon gar nicht seine »Kantate zum 20. Jahrestag der Oktoberrevolution«, ein gewaltiges und faszinierendes Werk, das aber allein schon wegen des Titels »durchfällt«.
Wiener Arbeiter-Sinfoniekonzerte
Dass es auch anders geht, dass das Konzertwesen erfolgreich demokratisiert und für alle Schichten geöffnet werden kann, zeigt das Beispiel der Wiener Arbeiter-Sinfoniekonzerte, die von 1905 bis 1934 zunächst im Musikvereinssaal und ab 1913 im Konzerthaus stattfanden. Die Eintrittspreise waren niedrig, die Programme orientierten sich an der Bildungsfunktion von Kultur mit großer Aufgeschlossenheit für neue, also zeitgenössische Werke. Der sozialdemokratische Kulturfunktionär David Josef Bach erklärte, dass für das Publikum der Arbeiterkonzerte eine Sinfonie von Brahms »schwieriger als die ,Verklärte Nacht‘ von Schönberg, und Bach schwieriger als das Violinkonzert von Prokofjew« sein könne. Brahms wirklich »schwieriger« für die Arbeiterschaft als Schönberg? Ein interessanter Aspekt, den wir ähnlich bei Adorno finden. Dieser schrieb 1948, dass »die Meinung, Beethoven sei verständlich und Schönberg unverständlich, objektiv Trug« sei. Bei den Arbeiter-Sinfoniekonzerten war die Avantgarde ständig präsent, man spielte Schönberg und Bartók, häufig dirigierte Anton Webern, der seit 1924 auch den Singverein der »Kunststelle der sozialdemokratischen Arbeiterpartei« leitete. 31 Prozent der bei diesen Konzerten aufgeführten Werke waren zeitgenössisch (während es heute zum Beispiel bei den Berliner Philharmonikern gerade einmal fünf Prozent sind).
Bemerkenswert ist, dass das Werk Gustav Mahlers, der seinerzeit vonseiten des Wiener Publikums noch Ablehnung erfuhr, ja offener Anfeindung ausgesetzt war, bei den Arbeiter-Sinfoniekonzerten bereits früh regelmäßig zu hören war. Legendär war der Mahler-Zyklus, den Oskar Fried dirigierte, auch wenn diese Musik, wie ein Rezensent der Arbeiter-Zeitung anmerkte, »unseren wackeren Spießern Verdauungsschwierigkeiten bereitet«.
Kommerz statt Kreativität
Wie sieht die »Klassik« heute aus? Auf der einen Seite erleben wir eine Art »Hochleistungsklassik« (Stefan Siegert) unter dem Diktat der Perfektion, und diese Perfektion soll Einzigartigkeit vorgaukeln – dabei kommt es in der Musik natürlich nicht auf Perfektion, sondern auf Kreativität an. Ein Ereignis im philosophischen Sinn wird Musik nur im Konzert. Warum fasziniert uns Nachgeborene der Gesang von Maria Callas bis heute? Weil Maria Callas singt, wie Malcolm X und Martin Luther King ihre Reden hielten und Politik gemacht haben, mit Haltung, mit unbedingtem Einsatz und aus existenzieller Notwendigkeit heraus. Aber die herrschende Klassikszene will genau diese Haltung vermeiden und bietet stattdessen meistens glattgebügelte, austauschbare Perfektion.
Auf der anderen Seite erleben wir ein gnadenloses Starsystem, in dem Figuren auf dem Schachbrett der Musikkonzerne hin und her geschoben werden, ob es die berüchtigten Geigen-Girlies sind, die von der Musikindustrie gezwungen werden, in sexy Posen die Menschen zum Kauf ihrer Produkte zu animieren (und, gewiss, all dies auch bereitwillig mitmachen), ob es die großen Zampanos sind, die zu Kultfiguren erhobenen Superstars der Branche, oder die Interpreten, deren vermeintliche Einzigartigkeit durch ein vage schräges Outfit geriert wird, ohne dass man von ihnen je eine nennenswerte Interpretation gehört hätte. Der Pianist Lang Lang hat sogar ein eigenes Parfüm auf den Markt gebracht, »Amazing Lang Lang FOR HER« und »... FOR HIM«; wer unbedingt nach Lang Lang riechen möchte, bekommt für 55 Euro 30 Milliliter des Pianistendufts. Was kann man von KünstlerInnen musikalisch erwarten, die ein Kunstprodukt der Kulturindustrie sind und deren Daseinszweck darin besteht, ihre und deren meist seichte Produkte zu verkaufen? Es geht allein um Kommerz, nicht um Kreativität oder Kultur, alle sind, alles ist bloße Ware.
Rückeroberung der Künste
Wenn die Situation der »klassischen Musik« also so ist, wie sie ist, eine unerquickliche Mischung aus Elitekunst, Hochleistungsklassik, Starsystem, Kulturindustrie, Konsumismus, Biedermeier und all dem, was sonst noch zu unseren Jahren des Missvergnügens beiträgt – warum dann nicht einfach die Klassik aufgeben, sie also den Eliten überlassen? Warum sollen wir überhaupt in den Klassikkampf ziehen? Werke wie die von Bach, Mozart, Beethoven, Schubert, Mahler, Debussy oder Bartók, aber auch von Shakespeare, Hölderlin, Heine oder Flaubert und Zola vermitteln uns etwas über unser Dasein, das wir nirgends sonst erfahren, sie verraten uns etwas über unser Menschsein, sie helfen uns, die Welt zu verstehen (und nur, wenn wir die Welt besser verstehen, können wir sie auch ändern), sie spiegeln und diskutieren menschliche und gesellschaftliche Konflikte, und nicht zuletzt: Sie spenden auch Trost, den wir angesichts der Verhältnisse dringend benötigen. Die Musik, die Kunst bleibt uns mitunter als »einzige Rettung aus einer von Grund auf falschen Welt«, wie Adorno angemerkt hat, »und zwar nicht, weil sie richtiger wäre, sondern weil sie um das universale Falsche weiß«.
Die Künste sind immer auch ein soziales Verhältnis. Wenn wir uns nur noch in der Musik vergangener Jahrhunderte bewegen (und diese zudem häufig in verharmlosenden Interpretationen erleben, denen jeder revolutionäre Funken ausgetrieben wurde), erleben wir nur noch Unterhaltung, Sedierung und Musik zu bürgerlichen Repräsentationszwecken. BTHVN2020 eben. Die »Möglichkeiten des Menschen« sind allerdings »noch andere, als im heute Bestehenden aufzugehen, andere als die Akkumulation von Macht und Profit« (Horkheimer). Der Dirigent Michael Gielen forderte etwa, dass »die Leute nicht weinen sollen vor Rührung«, sondern dass »Musik Feuer aus den Köpfen schlagen soll.« Uns derartige Möglichkeiten aufzuzeigen, kann die so genannte »klassische Musik« dienen. Eine Musik, die nicht der Selbstverwirklichung dient, sondern als Ermöglichungsraum und als gesellschaftliches Labor. Die kulturelle Produktion ist letztlich eine Bearbeitung der Wirklichkeit, in der wir leben. Wir müssen die Musik und die Künste zurückerobern.
Berthold Seliger ist Autor und seit über 31 Jahren Konzertagent. 2017 erschien sein Werk »Klassikkampf. Ernste Musik, Bildung und Kultur für alle« (Matthes & Seitz, Berlin). Österreich-Termine seiner »Lecture Show« über die aktuelle Neuerscheinung »Vom Imperiengeschäft. Wie Großkonzerne die kulturelle Vielfalt zerstören« (Edition Tiamat, Berlin):
➜15.11. Wien, KlezMORE-Festival
➜19.11. Fachhochschule Kufstein
➜20.11. Linz, Stadtwerkstatt