Es bleibt dabei: Frauen entscheiden!

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Die Lebensschützer*innen des Netzwerks »Agenda Europe« wollen dem Naturgesetz der Moral wieder zur Geltung verhelfen, wähnen sich als Christ*innen verfolgt und möchten die Menschenrechte in ihrem Sinne verstan­den wissen. Sie sind gegen Verhütung, gegen Homosexualität und gegen Gleichstellungs- und Antidiskriminierungspolitik. Stattdessen reklamieren sie die »richtigen Leute« in inter­nationale Organisationen und verfügen über die entsprechenden finanziellen Mittel und konservativ-rechtsextremen Allianzen.

Über die Umtriebe von »Agenda Europe« berichtet HILDE GRAMMEL

Der Kampf um das Selbstbestimmungs­recht der Frau (Abtreibungsrecht, Recht auf Schwangerschaftsabbruch) war von Anbeginn an und nicht zufällig auch einer der Arbeiter*innenbewegung, für die der § 144 einen »Klassenparagraf« dar­stellte. Während wohlhabende Frauen immer Mittel und Wege fanden, eine unge­wollte Schwangerschaft zu beenden, griffen die ärmeren entweder zur lebensgefährli­chen Selbsthilfe oder suchten Engelmache­rinnen auf, um ihre Notlage zu beenden. Auf Schwangerschaftsabbruch standen (in Österreich bis 1975) hohe Geld- und sogar Gefängnisstrafen, sowohl für die Frau als auch die Person, die den Abbruch durch­führte. Da auch der Kapitalismus ein patri­archales System ist, hat jede Mutterschaft bis heute tiefgreifende Auswirkungen auf das Leben der Frau: jede Menge unbezahlte Arbeit, Destabilisierung der individuellen Einkommenssituation, häufig daraus fol­gende finanzielle Abhängigkeit, Armut und Altersarmut, die oftmals lebenslange Fixie­rung auf die Rolle derjenigen, die sich um die Bedürfnisse anderer zu kümmern hat etc. Deshalb ist und muss es die Entschei­dung der Frau bleiben, wie sie ihre repro­duktiven Fähigkeiten handhabt, da letztlich sie es ist, die die Konsequenzen zu tragen hat, weil die gesellschaftlichen Rahmenbe­dingungen noch immer unzureichend und die Sorgearbeit für Kinder keinen aner­kannten Wert hat, abgesehen vom Mutter­tag. Ich erinnere an die unwürdigen Debat­ten um Kindergartenöffnungszeiten, Ganz­tagsschule, Halbe-Halbe, Väterkarenz, Dop­pelt- und Dreifachbelastung, geteilte Obsorge, die hohe Teilzeitarbeitsquote von Frauen, die von Frauenhäusern ausgehende Gefahr für die Familie u. v. a. m.

Hatten sozialdemokratische Parteien – und darin insbesondere ihre Frauenorgani­sationen, in Allianz mit Aktivistinnen der Zweiten Frauenbewegung, der KPÖ, später der Grünen u.a. – über mehrere Jahrzehnte hinweg und durchaus erfolgreich versucht, die Lage von Frauen im Rahmen kapitalisti­scher Verhältnisse zu verbessern, sind wir heute in vielen Ländern mit einer Wende hin zu konservativen und rechtsextremen Politiken konfrontiert, die das Selbstbe­stimmungsrecht der Frau in Frage stellen, gefährden oder sogar abschaffen – siehe Polen. Im US-Bundesstaat Texas wird der­zeit ernsthaft über die Einführung der Todesstrafe für Frauen debattiert, die eine Abtreibung vornehmen lassen, in sieben US-Bundesstaaten wurden bereits »Herz­schlag-Gesetze« verabschiedet, wonach ein Schwangerschaftsabbruch nach der 6. Woche nicht mehr möglich ist, d. h., sobald ein eigener Herzschlag des Fötus zu hören ist. Zu diesem Zeitpunkt wissen Frauen oftmals noch nicht einmal, dass sie schwanger sind.

Die Frau ist nichts, ihr ungeborenes Kind hingegen alles

Nationalistische Programme sehen die Frau als Gebärerin des eigenen völkischen Nach­wuchses und stellen das Recht des Fötus über jenes der Frau, die bloß ein Gefäß für das heranwachsende Leben zu sein hat. Dahinter stecken tiefe Frauenverachtung, die Unfähigkeit, die reproduktive Macht von Frauen und ihr Recht, über diese zu entscheiden, anzuerkennen, die Reduktion von Frauen auf ihre Leiblichkeit, der Wunsch, Frauen über ihre Kinder zu kon­trollieren usw. Im Regierungsprogramm von Türkis-Blau ist – im internationalen Vergleich noch relativ zurückhaltend – die Rede von der verstärkten Beratung von Frauen vor geplanten Schwangerschaftsab­brüchen und von verstärkter Unterstüt­zung von Schwangeren in Not durch Geld- und Sachleistungen. Gleichzeitig wird mit der Einführung des Familienbonus und der Kürzung bzw. Streichung der Mindestsiche­rung signalisiert, dass es zweitranging ist, wie es Frauen und ihren geborenen Kin­dern ergeht, primär ist der Schutz der Schwangeren (oder eigentlich: ihrer Leibes­frucht, deren Recht auf Leben). Während sich das Regierungsprogramm bezüglich des Schwangerschaftsabbruchs also nicht sehr beredt gibt, wurde die Initiative fairän­dern vom Stapel gelassen, die die Möglich­keit von Spätabtreibungen verbieten will, wenn eine Frau sich nicht in der Lage sieht, ein behindertes Kind großzuziehen. Die Protagonist*innen dieser Initiative, die Frauen- gegen Behindertenrechte auszu­spielen versucht, sind sattsam bekannt (Abgeordnete von ÖVP und FPÖ, Erwin Pröll, Christoph Schönborn u. a.).

Und wie sieht es im Europa des 21. Jahr­hunderts mit den Frauenrechten aus? Zwei Monate vor der EU-Wahl fand Ende März in Verona eine dreitägige, vom US-amerikani­schen World Congress of Families (WCF) organisierte, Konferenz mit dem Titel The Wind of Change – Europa und die weltweite Pro-Life-Bewegung statt, mit Innenminister Mat­teo Salvini als Hauptredner und der Berate­rin des Präsidenten von Moldawien, der ungarischen Familienministerin, der Spre­cherin der kroatischen Pro-Life-Bewegung (Originalzitat: »Gewalt gegen Frauen zu bekämpfen stellt eine Bedrohung für die traditionelle Familie dar«), Vertretern der russisch-orthodoxen Kirche und weiteren illustren Gästen. Während Salvini mit der Aussage auffiel, dass es die Aufgabe der Ita­liener*innen sei, »Kinder in die Welt zu set­zen, da ein Land, das das nicht tut, zum Sterben verurteilt« sei, versammelten sich an die hunderttausend Pro Choice-Akti­vist*innen zu einem eindrucksvollen Pro­test vor dem Tagungsort. Viele von ihnen verhüllten sich mit roten Mänteln als »Mägde«, analog zu Margaret Atwoods dys­topischem Roman Der Report der Magd (engl.: The Handmaid’s Tale, 1985), dessen Verfilmung gerade als gefeierte Netflix-Serie die Runde macht. Mit ihrer Aktion veranschaulichten die Aktivistinnen, wel­chem Frauenbild die christlichen und nationalistischen Rechten tatsächlich anhängen. (In Atwoods Roman wird den Frauen von einem Tag auf den anderen die materielle Existenzgrundlage entzogen, indem ihre Bankomatkarte ungültig und der Zugang zu ihrem Konto gesperrt wird. Per Gesetz werden sie von allen Arbeits­plätzen im öffentlichen Leben verbannt. Gelingt es ihnen nicht zu fliehen, werden sie in Umerziehungszentren gesperrt, einem Brainwashing über ihre Aufgaben als Frau unterzogen und haben ihre Dienste als Gebärmaschinen für kinderlose Ehepaare der gesellschaftlichen und politischen Elite zur Verfügung zu stellen. Regelmäßige Ver­gewaltigungen sind an der Tagesordnung ebenso wie drakonische Strafen, wenn Frauen versuchen, sich des gegen ihren Willen in sie eingepflanzten Lebens zu ent­ledigen. In einer Gesellschaft, in der die meisten Menschen durch Umweltkatastro­phen unfruchtbar geworden sind, ist die weibliche Fertilität zu einem Fetisch geworden, dem alle anhängen. Dass dies jedoch keine Aufwertung von Frauen bedeutet, im Gegenteil, das zeigt Margaret Atwoods weitblickender Roman, der laut Aussagen der Autorin in Bälde eine Fortset­zung finden wird.)

Die natürliche Ordnung

Der Kongress in Verona zeigte nur die Spitze des Eisbergs des in Europa im Gange befindlichen Angriffs auf die reproduktiven Rechte der Frau. In welch konzertierter Weise christlich-fundamentalistische Grup­pierungen inzwischen vorgehen, um beste­hendes Abtreibungsrecht zu unterminie­ren, zeigt eine 2018 unter dem Titel Resto­ring the Natural Order (Die natürliche Ordnung wiederherstellen) vom European Parliamen­tary Forum on Population and Develop­ment1 veröffentlichte Studie. Darin werden das Netzwerk »Agenda Europe«, seine in die Form eines Manifests gegossenen Glau­benssätze und seine politischen Strategien einer eingehenden Analyse unterzogen. Erklärtes Ziel ist die Wiederherstellung einer Gesetzesordnung, die mit Menschen­würde und Naturgesetz in Einklang steht. »Perverse Ideologien« und Praktiken gefährden nämlich die westliche Zivilisa­tion, u. a. seien dies, neben der Abtreibung: die Trennung des Geschlechtsaktes von sei­nem vorrangigen Zweck, der Fortpflan­zung, und den Verantwortlichkeiten, die damit zusammenhängen; die Verwendung von Verhütungsmitteln (diese unterminie­ren die Würde des Geschlechtsakts); Homo­sexualität (bei ihnen beharrlich »Sodomie« genannt); In-Vitro-Fertilisation etc. Daher müssten Ehe und die aus Mann, Frau und Kind(ern) bestehende Familie geschützt, Gleichstellungs- und Antidiskriminierungs­politik gestoppt und die Istanbuler Konven­tion des Europarates gegen Gewalt an Frauen und häusliche Gewalt bekämpft werden. Es bedürfe einer Gesetzgebung, die die aus einem verheirateten Paar und seinen Kindern bestehende Familie gezielt fördert. (Hier kommen wir der Agenda der aktuellen Bundesregierung schon näher). Während einerseits das Leben bereits mit der Empfängnis beginnt, sei andererseits die Todesstrafe legitim, Abtreibung hinge­gen ein Verstoß gegen das Naturgesetz der Moral, da durch sie ein unschuldiges und schutzloses menschliches Wesen zerstört werde. Nicht einmal in Fällen von Verge­waltigung, Behinderung des Kindes oder bei bestehendem Gesundheitsrisiko für die Mutter solle sie erlaubt sein. Antidiskrimi­nierungspolitik sei deshalb abzulehnen, weil sie alle moralischen Urteile aus einer Debatte ausklammere, die ein moralisches Thema zum Inhalt hat, nämlich, ob homo­sexuelle Menschen gleiche Rechte bean­spruchen dürfen. Antidiskriminierungspo­litik beschränke die Meinungsfreiheit jener, die moralische Vorbehalte gegen »Sodomie« haben, etc.

Womit wir bei den Strategien angelangt wären, die von Agenda Europe eingesetzt werden, um den gewünschten Einfluss in Gesellschaft und Politik geltend zu machen. Es gälte z. B. den Opferanspruch der Gegner zu entlarven, wozu gehört, dass Agenda Europe die Existenz von Homophobie in Frage stellt. Die wahren Opfer seien vielmehr die Christ*innen, es herrsche »Christianophobie«. Gudrun Kug­ler, eine der Initiatorinnen von Agenda Europe und ÖVP-Abgeordnete im österrei­chischen Nationalrat, hat z. B. OIDAC, eine »Beobachtungsstelle für Intoleranz und Diskriminierung von Christen in Europa« gegründet, eine Einrichtung, die einen Jah­resbericht herausbringt, der Fallbeispiele dieser Art von Diskriminierung sammelt. (Der Rahmen für das, was als beleidigend empfunden wird, ist dabei sehr eng gesteckt: bereits antiklerikale Äußerungen oder Verweise auf die historischen Privile­gien der katholischen Kirche zählen dazu). Eine weitere Strategie der Protagonist* innen von Agenda Europe ist die Adapta­tion der Menschenrechtsrhetorik auf ihre politischen Zielsetzungen: Anliegen wer­den in Form von ihnen vorenthaltenen Rechten präsentiert, z. B. fordert man das Recht des Vaters, die Abtreibung seines Kindes zu verhindern, die Rechte von Eltern, die ersten Erzieher* innen ihrer Kin­der zu sein oder das Recht der Kinder, vor Propaganda für »Sodomie« geschützt zu sein. Zu den weiteren Strategien zählen: diese alternativen Bedeutungen für etab­lierte Menschenrechte in akademische Arbeiten einfließen zu lassen, um akademi­sche Debatten zu beeinflussen; die »richti­gen Leute« in internationale Organisatio­nen hineinreklamieren und akkreditieren lassen (z. B. in den UN-Menschenrechtsrat, die Europäische Grundrechtsagentur, den Europarat, die OSZE etc.).

Agenda Europe ist das einzige Netzwerk, das in der Lage ist, diese umfangreichen Vorhaben umzusetzen. Es gehören ihm die Führungspersönlichkeiten der Pro-Life- und Pro-Family-Gruppierungen aller euro­päischen Länder an, zahlreiche EU-Politi­ker*innen, Abgeordnete aus Parlamenten von EU-Mitgliedsstaaten, des Parlaments des Europarats, des Europäischen Parla­ments, Politiker*innen einzelner Parteien und der EU-Kommission.

Die bisherige Leistungsbilanz von Agenda Europe kann sich sehen lassen: Die Europäi­sche Bürger*innen-Initiative »One of Us« (2013–14) geht ebenso auf ihr Konto wie die Entwürfe für die Abtreibungsverbotsge­setze in Spanien und Polen. Ihrer langen To-Do-Liste nach zu schließen werden sie nicht eher ruhen, bis sie ihre Ziele erreicht und dem Naturgesetz zur Geltung verhol­fen haben. Personal, Einfluss und Finan­ziers dafür haben sie. Womit sich der Kreis zum Kongress unlängst in Verona schließt: Das war nämlich Agenda Europe in Aktion, zusammen mit ihren Freunden des World Congress of Families. Wer findet, dass der­lei Spektakel entbehrlich sind, kann dies u. a. auch dadurch zum Ausdruck bringen, dass er*sie bei der EU-Wahl einer Kandida­tin die Stimme gibt, die dieses Netzwerk und seine Machenschaften im Visier behält.

1 Das EPF ist ein Netzwerk von Parlamentarier*innen aus ganz Europa, das sich den Schutz der reproduktiven Rechte der verletzlichsten Menschengruppen inner- und außerhalb Europas zum Ziel gesetzt hat. Die höchst informative Studie ist unter https://www.epfweb.org/sites/epfweb.org/files/ rtno_epf_book_lores.pdf abrufbar.

Gelesen 6662 mal Letzte Änderung am Montag, 03 Juni 2019 13:25
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