Die Zahl der in Österreich beschäftigten Personen mit Migrationshintergrund steigt. In jüngster Zeit immigrieren diese überwiegend aus den osteuropäischen EU-Staaten. Gleichzeitig entscheiden sich immer mehr ÖsterreicherInnen dazu, ihre Angehörigen in osteuropäischen Pflegeheimen versorgen zu lassen. Was aber hat Europa damit zu tun?
Eine Analyse von MANUELA JURIC
Vom Pflegenotstand zum Pflegeimport
Europa steht vor einem Pflegenotstand: Die durchschnittliche Lebenserwartung bei der Geburt im Jahr 2017 liegt derzeit bei 80,9 Jahren. Die Zahl der Hochbetagten, das heißt jener, die 80 Jahre alt und älter sind, nimmt drastisch zu. Mit zunehmendem Alter steigt die Wahrscheinlichkeit, professionelle Pflege und Betreuung in Anspruch nehmen zu müssen und damit auch der Bedarf an ausgebildeten Personen in den Pflegeberufen. Auf der österreichischen Mangelberufsliste 2019 ist der Beruf der Diplomierten Gesundheits- und Krankenpflege seit Jahren unverändert aufgelistet. Aussagekräftige Studien, welche Auswirkungen der bestehende Personalmangel zukünftig auf den gesamten Pflegesektor haben wird, liegen bis dato nicht vor.
Aber nicht nur in Österreich fehlen Fachkräfte. In vielen EU-Staaten erschweren schlechte Arbeitsbedingungen die personelle Besetzung in der institutionellen Pflege und betroffene Pflegebedürftige können sich einer qualitativ hochwertigen Pflege nicht sicher sein. Wenngleich sich bereits zahlreiche Mitgliedsstaaten der EU öffentlich mit der Frage beschäftigen, welche Strategien langfristig aus dem Pflegenotstand führen können, scheitert es oft an umsetzbaren Lösungen.
Derzeit wird das Problem vor allem in den westlichen EU-Ländern mit dem Instrumentarium der Arbeitsmigration gelöst. Diese liegt immer dann vor, wenn Menschen ein- und auswandern, um in einem anderen als ihrem Herkunftsland einer Erwerbstätigkeit nachzugehen. In Österreich haben 20 Prozent der Beschäftigten in Gesundheitsberufen einen Migrationshintergrund, bei den Betreuungsberufen liegt der MigrantInnenanteil bei knapp 28 Prozent. Waren in den 70er-Jahren noch Jugoslawien und Philippinen die Hauptherkunftsländer der in Österreich tätigen Pflegekräfte mit Migrationshintergrund, werden aktuell immer mehr pflegerische und betreuerische Dienstleistungen in Österreich von Personen aus dem osteuropäischen Ausland erbracht. Die zumeist weiblichen Pflegekräfte kommen hauptsächlich aus der Slowakei, Rumänien, Bulgarien oder Ungarn. Sie arbeiten – oft gut ausgebildet – in Pflegeheimen und in der Hauskrankenpflege und akzeptieren die dort herrschenden prekären Arbeitsbedingungen oder als sogenannte »Laien« in der 24-Stunden-Betreuung in arbeitsrechtlich höchst fragwürdigen Vertragskonstellationen. Die österreichische Pflege wird importiert, das Problem scheint kurzfristig gelöst zu sein.
Arbeitsmigration aus Sicht der Herkunftsländer
Betrachtet man nun die Situation aus Sicht der Herkunftsländer, stellt sich die Situation folgendermaßen dar: Viele junge, oft überdurchschnittlich gut ausgebildete, überwiegend weibliche Fachkräfte emigrieren, um in Österreich Pflege- und Betreuungstätigkeiten zu verrichten. Diese fehlen sodann vor Ort in der Altersversorgung. Parallel dazu altert die Bevölkerung Osteuropas demographisch ebenso wie in Westeuropa. Wenn immer mehr junge Menschen ihre Herkunftsländer verlassen und der Altersdurchschnitt steigt und damit auch der Bedarf an professionellen Pflegekräften, durch wen und in welcher Form kann eine Versorgung der vor Ort lebenden Pflegebedürftigen sichergestellt werden? Die Frage stellt sich sowohl im institutionellen Bereich der professionellen Pflege, als auch im Zusammenhang mit unbezahlter Reproduktionsarbeit. Es kommt zu einem Care-Defizit, in welchem emigrierte Frauen für die unbezahlte Care-Arbeit in ihren Heimatländern nicht mehr zur Verfügung stehen und die Versorgung Pflegebedürftiger weder institutionell noch innerfamiliär gesichert werden kann.
Die Skandalisierung der Frauenmigration
Die Migration in den östlichen EU-Ländern ist in den letzten Jahren stark feminisiert (weiblich geprägt). Waren es zuvor noch mehr Männer als Frauen, welche zu Gunsten der finanziellen Sicherheit ihrer Familien abwanderten, migrieren aktuell mehr Frauen als Männer. Die Gründe hierfür sind überwiegend finanzieller Natur. In den meisten Herkunftsländern der Migrantinnen wurden die Bildungssysteme privatisiert. Die Finanzierung einer Ausbildung für die eigenen Kinder wird dadurch nahezu unmöglich gemacht, wenn kein sicherer Job in einem anderen EU-Staat mit höherem Lohnniveau gegeben ist, insbesondere für Alleinverdienerinnen. Frauenmigration wird jedoch im Gegensatz zur männlichen Abwanderung negativ gesehen. Migrantinnen werden dem gesellschaftlichen Vorwurf ausgesetzt, ihre Kinder zurückzulassen und geraten so unter Legimitationsdruck ihres transnationalen Lebens. Hinzu tritt, dass oft staatlich gesicherte Möglichkeiten der Kinderbetreuung fehlen und Frauen auf Hilfe Privater angewiesen sind, um ihrer Erwerbstätigkeit im Ausland nachgehen zu können, was wiederrum mit finanziellen Belastungen verbunden ist. Es entsteht ein Dilemma, in welchem weder das Verbleiben im Herkunftsland noch die Abwanderung ins Ausland zu einem für die Frauen befriedigendem Ergebnis führt. Wenn die handelnden AkteurInnen die eigene Emigration als Widerspruch zur Realisierung ihrer Lebensinteressen empfinden und dadurch Widerständigkeiten entwickeln, wird das Modell eines innereuropäischen Transfers von pflegerischen Dienstleistungen zwangsläufig scheitern.
Emigration in osteuropäische Pflegeheime als Lösung?
Gleichzeitig mit der steigenden Emigration von Pflegekräften nimmt die Zahl jener Menschen, die sich im Alter selbstbestimmt für eine Abwanderung entscheiden, kontinuierlich zu. Unter dem Begriff der »Lifestyle Migration« wird das Phänomen beschrieben, dass finanziell gut situierte Personen sich für einen Lebensabend an solchen Orten entscheiden, an denen sie sich ausschließlich aus Gründen der Selbstverwirklichung oder auf Grund des Versprechens einer höheren Lebensqualität niederlassen. Soziale und kulturelle Aspekte stehen hierbei im Vordergrund. Auch Pensionsmigrationen ehemaliger GastarbeiterInnen in ihre Herkunftsländer stellen einen Wohnortwechsel dar, welcher selbstbestimmt und aus dem Bedürfnis, die Pension im ehemaligen Heimatland verbringen zu wollen, entschieden werden.
Problematisch wird dies jedoch, wenn Armut, widrige Lebensumstände oder strukturelle Gegebenheit im Pflegesektor Pflegebedürftige zur Migration zwingen: niedrigere Pflegeheimkosten, geringe Lebenserhaltungskosten, kürzere Wartezeiten auf einen Pflegeheimplatz und die Hoffnung auf bessere Pflegeleistungen bei gleichen oder niedrigeren Kosten sind Gründe, die dazu führen, dass es zu einem Export der eigenen Pflegebedürftigkeit in ein osteuropäisches Pflegeheim kommt. Derzeit leben in Österreich etwa 201.000 PensionistInnen unter der Armutsgrenze. Der Anteil jener Personen, welche sich aus finanziellen Gründen für eine Pflegeversorgung im Ausland entscheiden, liegt noch im Promillebereich. Die steigende Altersarmut hier kann aber dazu führen, dass dies als letzter Ausweg aus ökonomischen, strukturellen und sozialen Drucksituationen wahrgenommen wird. Sichtbar ist der Trend daran, dass zunehmend Agenturen entstehen, welche sich auf die Vermittlung eines Pflegeheimplatzes in osteuropäischen Ländern spezialisiert haben. Die Tatsache, dass Vermittlungsleistungen dieser Art in Anspruch genommen werden (müssen) zeigt bereits, dass ein gesamteuropäisches Umdenken hinsichtlich der Pflegeversorgung stattfinden und nach langfristigen Lösungen gesucht werden muss, welche die adäquate Pflegeversorgung nicht von sozialen und finanziellen Ressourcen der Pflegebedürftigen abhängig macht. Hinzu kommt, dass durch die steigende Zuwanderung das Preisniveau für Pflegeleistungen in den Zielländern kontinuierlich steigt und Pflege dadurch für Einheimische zu einem unleistbaren Luxusgut wird. Das Gefälle zwischen Osteuropa und Westeuropa wird dadurch weiter zunehmen, die Pflege wird ein immer größerer Bereich, in dem sich die europäische Zweiklassengesellschaft abzeichnet.
Fazit
Unter Berücksichtigung der geschilderten Aspekte stellt sich die Frage, wie lange das Modell der Ost-West-Arbeitsmigration als Lösung des Pflegenotstandes herangezogen werden kann. Regionale Probleme werden durch Care-Migration nur kurzfristig gelöst, tatsächlich aber führt sie zu einer Verstärkung des gesamteuropäischen Pflegenotstandes. Der Pflegenotstand wird so zum Pflegekollaps, die fehlende gesamteuropäische Lösung zu einer Zwei-Klassen-Ghettoisierung Europas. Ebenso müssen regionale Lösungen entwickelt werden, welche dazu führen, dass Pflegebedürftige das Recht auf einen Pflegeplatz in der Nähe ihres Lebensmittelpunktes gewährt bekommen. Die Armutsgefährdung für PensionistInnen innerhalb der gesamten EU steigt kontinuierlich. Leistbare Pflege vor Ort muss als materialisierbares Grundrecht eines jeden alternden Menschen politisch gesichert werden.
Manuela Juric ist Juristin und arbeitet und forscht im Bereich des Pflege- und Medizinrechts und der Grund- und Menschenrechte im Alten-, Behinderten-, Kinder- und Jugendbereich