Ein gutes Leben für alle: So lautet die Vision von Attac. Alle Menschen, die heute oder in Zukunft leben, haben ein Recht auf Nahrung, Wasser, Wohnen, Gesundheit, politische Teilhabe und Gleichstellung. Welche Rolle spielt die EU auf dem Weg zu diesem Ziel?
Diese Frage stand am Anfang des von Attac Österreich herausgegeben Buchs »Entzauberte Union« (siehe auch Volksstimme Juni 2018). Die Antworten waren deutlicher als erwartet: In fast allen politischen Bereichen ist die EU keine Verbündete, sondern steht dem guten Leben für alle entgegen. Sie ist kein Schutz gegen den Neoliberalismus, sondern einer seiner wichtigsten Motoren. Sie ist auch kein Bollwerk gegen den Nationalismus, sondern bringt ihn selbst hervor.
Die EU ist nicht zu retten
Der Neoliberalismus der EU ist gegen demokratische Änderungsversuche abgeschirmt. Er ist in ihren Verträgen und im Mandat der Europäischen Zentralbank (EZB) festgeschrieben. Jede echte Reform bräuchte Einstimmigkeit unter den Regierungen. Auch müssen sich EU-Kommission und EZB keinen Wahlen stellen. Eine grundlegende Reform der EU ist daher unwahrscheinlich, wenn nicht unmöglich. Da sich ihr neoliberaler Charakter nicht ändern lässt, ist die EU auch nicht zu retten. Ihre Krise wird weitergehen.
Austreten ist auch keine Lösung
Doch auch ein Austritt wäre wenig erfolgversprechend. Aus dem über die EU-Ebene durchgesetzten Neoliberalismus lässt sich nicht einfach austreten. Große Teile der entsprechenden Regeln wurden in nationales Recht übernommen. Auch die starke Verflechtung der österreichischen Wirtschaft mit anderen EU-Staaten würde einen Austritt stark erschweren.
Die Mindestvoraussetzung, um all das zu bewältigen, wäre eine Übermacht fortschrittlicher Kräfte in Politik und Gesellschaft. Davon sind wir weit entfernt. Wahrscheinlicher ist, dass ein Austritt Nationalismus und Rassismus stärken würde, wie das in Großbritannien der Fall war. Dennoch sollten wir den Austritt entdämonisieren. In anderen Staaten, unter anderen Bedingungen, kann er eine sinnvolle politische Option sein.
Fünf Strategien
Verschiedene Strategien können uns einem sinnvollen Umgang mit der EU – und dem guten Leben für alle – näherbringen.
1. Anders über die EU denken und sprechen.
Die EU-Debatte ist von Gegensatzpaaren geprägt. Jedes Argument, jede Position wird einem der beiden Pole zugeordnet. Wer die EU kritisiert, heißt es etwa oft, wolle »zurück in den Nationalstaat«. Dabei sind beide längst miteinander verwachsen. Die Regierungen stellen den Rat, das mächtigste Gremium der EU. Umgekehrt haben viele nationale Gesetze ihren Ursprung auf EU-Ebene.
Beliebt ist auch die Unterscheidung zwischen »pro-« und »antieuropäisch«. Als letzteres gelten politische Kräfte, die inhaltlich nichts verbindet. Egal, ob sie solidarische oder menschenfeindliche Positionen vertreten, ob sie sich gegen die Militarisierung Europas oder den Schutz von Geflüchteten wenden: Die Bezeichnung »antieuropäisch« trifft sie alle.
Die genannten Gegensatzpaare führen uns in die Irre und lähmen die EU-Debatte. Verbreiten wir sie daher nicht weiter. Denken und sprechen wir stattdessen neu über die EU: als eine Machtinstanz, die, wie der Nationalstaat auch, fortschrittlichen Idealen oftmals im Weg steht.
2. Die neoliberalen EU-Regeln brechen.
Die Budgetregeln der EU verhindern oft wichtige Investitionen, etwa in Wohnbau oder Pflege. EU-Regeln verhindern auch, gescheiterte Liberalisierungen, etwa im Transport- oder Energiebereich, wieder rückgängig zu machen.
Fordern wir Regierungen in Bund und Land auf, mit falschen Regeln zu brechen. Das soll kein blinder, sondern ein strategischer Ungehorsam sein. Die Regeln erfolgreich zu missachten, schafft neue politische Spielräume und schwächt ihre Durchsetzbarkeit. Auch ein möglicher Konflikt mit den EU-Institutionen ist eine Chance: Er erlaubt es, einer breiten Öffentlichkeit zu vermitteln, was in der EU falsch läuft.
3. Städte und Gemeinden nützen.
Ob es um eine solidarische Flüchtlingspolitik, die Regulierung der Finanzmärkte oder die Klimakatastrophe geht: Internationale Lösungen wären sinnvoll, kommen aber einfach nicht zustande. Ewig auf sie zu warten, hilft uns nicht weiter. Veränderung kann auch auf anderen politischen Ebenen beginnen, etwa in Städten und Gemeinden. Attac hat beim Kampf gegen TTIP und CETA nicht darauf gehofft, die EU-Kommission zu bekehren. Stattdessen haben wir über fünfhundert Gemeinden mobilisiert, um Druck auf die Regierung zu machen.
In Barcelona, Madrid oder Neapel haben soziale Bewegungen selbst die Stadtregierung übernommen. Sie setzen bei alltäglichen Problemen der Menschen an und entwickeln mit breiter demokratischer Einbindung Lösungen von unten. Für diese »munizipalistische« Politik, benannt nach dem spanischen »el municipio«, die Gemeinde, ist die Stadt der Ausgangspunkt für Alternativen auf größerer Ebene. Oft leisten sie Widerstand gegen die Zentralregierung, etwa indem sie bei Abschiebungen oder Zwangsräumungen die Kooperation verweigern.
Gegenüber der EU können sich Städte und Gemeinden etwa vorgeschriebenen Privatisierungen und Liberalisierungen widersetzen. Alternativen sind auf lokaler Ebene meist einfacher umsetzbar. Barcelona hat beispielsweise ein gemeindeeigenes Solarenergie-Unternehmen gegründet, das die von BürgerInnen und Unternehmen produzierte Elektrizität kauft und verteilt.
4. Internationale Zusammenarbeit neu denken.
Grenzüberschreitende Solidarität und Kooperation sind wichtige Werte. Die EU vereinnahmt sie für sich, lebt aber nur einen Internationalismus des Kapitals. Europäische und weltweite Zusammenarbeit geht auch anders. Handel kann beispielsweise so organisiert werden, dass die PartnerInnen einander ergänzen statt niederkonkurrieren.
Internationale Kooperation ist zudem nicht auf Staaten beschränkt. Barcelona hat ein Netzwerk sogenannter »furchtloser Städte« initiiert, die sich im Kampf für Menschen- rechte, Solidarität und Demokratie vernetzen.
5. Wirtschaftliche Alternativen von unten aufbauen.
Die EU mag eine Hürde auf dem Weg zu einem guten Leben für alle sein. Das wahre Problem ist aber die kapitalistische Wirtschaftsweise, in der Profite wichtiger sind als die Bedürfnisse von Menschen und Umwelt. Leider ist es für viele Menschen »einfacher, sich das Ende der Welt vorzustellen als das Ende des Kapitalismus« (Fredric Jameson). Doch im Kleinen gibt es bereits konkrete wirtschaftliche Alternativen.
Solidarische Landwirtschaft, Lebensmittelkooperativen, Kollektivbetriebe, Solidaritätskliniken und die Open Source Bewegung stillen nicht nur die Bedürfnisse von Menschen. Sie bemühen sich auch darum, einzelne Lebensbereiche wieder der Markt- und Profitlogik zu entreißen. So machen sie eine andere Welt vorstellbar. Unterstützen wir sie!
Dieser Text von Attac Österreich basiert auf dem Buch »Entzauberte Union. Warum die EU nicht zu retten und ein Austritt keine Lösung ist« (Mandelbaum Verlag, 2018)