Gedanken zur neuen Ausstellung im Jüdischen Museum Wien von Eva Brenner
Im Jüdischen Museum Wien ist derzeit die kontroversielle und überaus gelungene Ausstellung »100 Missverständnisse über und unter Juden« zu sehen, die seit ihrer Eröffnung am 30. November 2022 hitzige Debatten – vor allem unter Jüdinnen und Juden – hervorgerufen hat. Auf den ersten Blick wirkt der Kulturstreit wie ein künstlich herbeigeredeter Skandal. Die Kritiker:innen der Schau, vornehmlich aus dem konservativen Lager kommend, sprechen von mangelhafter Recherche, einem Affront gegen Jüdinnen und Juden und einer »unangemessenen« Annäherung an Erinnerungskultur. Die Vorwürfe reichen von pietätlos bis zu antisemitisch, womit der mutige Neuaufbruch der kürzlich angetretenen Direktorin in unnötige Schieflage gebracht wird.
»Ein großer Teil des jüdischen Publikums empfindet die Ausstellung in ihrer jetzigen Form als untragbar«, wetterte etwa Oskar Deutsch, Präsident der Israelitischen Kultusgemeinde Wien, der bekannte Publizist Paul Lendvai empfahl die Schließung. Ben Segenreich, langjähriger Israel-Korrespondent, hatte, wie er in einem Presse-Gastkommentar ausführte, durch den Besuch der Ausstellung »ständig Stöße vor den Kopf« erhalten. Über Wochen hinweg steigerte sich die Diskussion und nahm zuletzt die Züge einer skurrilen Hexenjagd an. Im Fokus scheint zu stehen, dass es die nicht-jüdische Neo-Direktorin, die sich zuvor u. a. als Leiterin des Jüdischen Museums Augsburg Schwaben einen Namen gemacht hatte, es wagt, heiße Eisen anzugreifen, wozu man ihr gratulieren muss.
Staudingers gemeinsam mit (dem ebenfalls nicht-jüdischen) Kurator Hannes Sulzenbacher gestaltete Schau unterzieht das Selbstverständnis heimischer Jüdinnen und Juden einem Härtetest. Den Gegner:innen der sehenswerten Schau steht ein oft verkürzendes Pro und Contra in den Medien sowie ein prominenter Offener Brief jüdischer Shoah-Überlebender gegenüber, die zu Sachlichkeit, Toleranz und Respekt aufzurufen: »Kritik ist immer wichtig (…) aber nichts rechtfertigt Rufmord und Hetze.«
Ein Museum im Aufbruch
»100 Missverständnisse« ist die erste große Ausstellung der neuen, seit Sommer 2022 amtierenden JMW-Direktorin Barbara Staudinger, in der sie jüdische Stereotype kritisch bis ironisch ins Zentrum rückt, gängige Klischees parodiert, die über und von Jüdinnen und Juden im Alltag grassieren, und neue Wege der Erinnerung aufzeigt. Antisemitische ebenso wie philosemitische Stereotype werden provokant aufgegriffen, um sie zu entkräften – sowohl ernsthaft wie auch humorvoll. Das reicht vom angeblich körperlich-schwachen Juden über das jüdische Genie bis zur perfiden Ritualmordlegende, nach der Juden das Blut christlicher Kindern für magische Zwecke missbrauchen. In einem Ausstellungsstück posiert ein Skinhead ketzerisch mit der Aufschrift »Judenfreund« am Lederjackett, wobei der Reichsadler – mit Davidstern statt Hakenkreuz – sich das Peace-Zeichen gekrallt hat.
Debatte und Kritik
Diskursiver und politischer soll das Jüdische Museum, das 1993 bzw. 2000 in der Wiener Innenstadt an zwei Standorten eröffnet wurde, fortan werden. Die ermutigende Neupositionierung sieht kritische, zeitgemäßen Ansprüchen Genüge leistende Ausstellungen für ein neues, vor allem jüngeres Publikum vor, ausgediente Praktiken und Vorstellungen des Ausstellungsmachens sollen aufgebrochen, die Rolle des Museums neu belebt werden. Ein jüdisches Museum sei »keine Heilanstalt gegen Antisemitismus«, meint selbstbewusst die neue Direktorin, die sich unängstlich gegen die Anwürfe abgrenzt. In der Tat hat sie gängige Vorurteile, Romantizismen und Aneignungen jüdischer Kultur und Lebensart ins Visier genommen. Zusätzlich bildet eine Unzahl von Thesenanschlägen das vergiftete Bewusstsein der Mehrheitsgesellschaft ab, die da u. a. sind: »Alle Juden sind kluge Denker bzw. Nobelpreisträger.« – »Eine schöne Frau ist gefährlich, besonders wenn sie eine Jüdin ist.« – »Jüdinnen und Juden sind überempfindlich.« Die Liste ließe sich fortsetzen.
Steine des Anstoßes
Das Bild von Jüdinnen und Juden ist in unseren Breiten in großen Teilen der Mehrheitsgesellschaft von Missverständnissen geprägt. Ob die Überhöhung des »jüdischen Familiensinns«, des »jüdischen Lernens«, einer klischeehaften Vorstellung »jüdischen Lebens« oder die Traurigkeit, die allem, was »jüdisch« ist, anhaftet: All dies basiert auf Missverständnissen, die sich in weiterer Folge in Vorurteilen und stereotypen Bildern ausdrücken. Die aktuelle Ausstellung spürt diesen Missverständnissen nach, sucht nach den Hintergründen, hinterfragt sie oder begegnet ihnen mit einem augenzwinkernden Lachen. Missverständnisse stammen nicht von der Mehrheitsgesellschaft allein, sondern basieren auch auf missverständlichen Vorstellungen unter Jüdinnen und Juden. Manche Missverständnisse sind alt, manche haben sich erst nach der Shoah herausgebildet.
Beispiele der 100 ausschließlich von jüdischen Künstler:innen geschaffenen Werke sind ein verkitschter Chanukka-Leuchter aus Chanel-Lippenstiften, der Bettvorleger »Hitler Rug« von Boaz Arad mit Hitlerkopf (2007) oder das Video der australischen Künstlerin Jane Korman »Dancing Auschwitz« (2010), in dem die Künstlerin, ihr Vater und Auschwitz-Überlebender sowie dessen Enkelkinder in Auschwitz auf Erde mit der Asche der Ermordeten, also der einzig für sie vorhandenen Gräber, tanzen während auf dem T-Shirt des lächelnden Auschwitz-Überlebenden Adolek Kohn, etwa in Brusthöhe, das Wort »Survivor« geschrieben steht.
Es sei nachvollziehbar, dass in Wien, so Staudinger, »das als ›Täter-Hauptstadt‹ bis heute kein Shoah-Museum hat«, das Auschwitz-Video empöre. An einer zentralen Stelle platziert Staudinger eine überstrahlende Lichtinstallation, ein Neonschriftzug in blau auf gelbem Grund von Sophie Lillie und Arye Wachsmuth: »Endsieger sind dennoch wir« (2001), eine Wortentwendung im Gedenken an den Auschwitz-Überlebenden Heinrich Sussmann (1904–1986).
Kontroverse belebt
Bei meinem Besuch vor einigen Wochen waren die Räume proppenvoll, wie ich das in diesem Museum zuvor nie erlebt hatte. Neben der üblichen Klientel eines gehobenen, kunstaffinen Bürger:innentums tummelten sich etliche Schulklassen, mehrere Führungen fanden gleichzeitig auf den verschiedenen Ebenen statt, nicht nur, aber auch in der Sonderausstellung, die Atmosphäre glich dem Rummel eines Volksfestes. Schon dafür ist der neuen Direktion Beifall auszusprechen, denn hier wird endlich aufgemischt, das jüdische Museum wirkt lebendig wie kaum zuvor, eben nicht primär museal, was für dieses Museum im sprichwörtlichen Sinn zu gelten hatte.
Im Foyer kreuzten sich die Menschenmassen, im Shop stand man Schlange um den Katalog zu ergattern, in der Sonderausstellung herrschte jedoch eine ungewöhnliche Stille – für mich ein Ausdruck besonderer Betroffenheit. Offensichtlich waren die Besucher:innen überrascht, beeindruckt oder schockiert über die schonungslose Darstellung des Juden, der Jüdin und des Jüdischen im Allgemeinen, wie es sich in unserem Alltag zeigt. Zumal die meisten Ausstellungsstücke, in weiten Teilen rezenter Provenienz und kaum historisierend, dem Alltag entlehnt wurden. Das ergibt den in diesen Hallen unüblichen aktuellen Blick auf das spannungsgeladene Thema.
Kritik und Dialog
In der Vergangenheit hat das Jüdische Museum sich wiederholt mit antisemitischen Missverständnissen über Judinnen und Juden auseinandergesetzt, nun zeigt es philosemitische Varianten. Die zahlreiche Negativbefunde der »100 Missverständnisse«, die in den Feuilletons kursierten, werden konterkariert von der anwachsenden Besucher:innenzahl, wobei Schülerinnen und Schüler stets geführt werden, um die Auseinandersetzung mit der tabubrechenden Schau zu steuern. Siehe da: Der Einsatz lohnt sich.
»Weiter so!« – das möchte man der neuen Direktorin zurufen. Von Hauptinteresse der Kritiker:innen ist die Tatsache, dass die neue Direktorin selbst nicht jüdisch ist. Angesichts dieser teils haltlosen, teils bösartigen Angriffe erweist sich ihre Entschlossenheit, den eingeschlagenen Kurs fortsetzen zu wollen, als richtige Antwort und befruchtend für den zukünftigen Dialog im Jüdischen Museum. Dass sie mit ihrer Antrittsvorstellung negative Reaktionen auslösen würde, muss sie gewusst haben. Das Risiko eingegangen zu sein, ist in der heimischen Kunstszene eine Seltenheit und umso mehr zu begrüßen. Der Erfolg der Ausstellung gibt Barbara Staudinger Recht, er ist im österreichischen Kontext zumindest ungewöhnlich.
Die Ausstellung im Museum Dorotheergasse ist noch bis 4. Juni 2023 zu sehen.
www.jmw.at