Das große Missverständnis

von

Reflexionen über das Dilemma der documenta fifteen von Eva Brenner

Was hat es auf sich mit dem größten deutschen Kunstskandal, der gegenwärtig das Schlachtschiff der weltweit bedeutendsten Kunstausstellung, der Kasseler documenta ins Wanken bringt? Warum hat der Antisemitismus-Vorwurf gegen Kunstwerke der indonesischen Gruppe Taring Padi so viel Staub aufgewirbelt wie nie zuvor? Wie konnte es geschehen, dass ein Kunstwerk mit explizit antisemitischen Motiven im Stil einer Goebbels-Propaganda am zentralen Platz der Schau, dem Museum Fridericianum, eingerichtet, dann verhüllt und letztendlich unter Protesten abgebaut wurde?

Paradigmenwechsel

Die documenta findet alle fünf Jahre in der deutschen Provinzstadt Kassel statt, sie begann am 10. Juni und dauert noch bis zum 17. September. Erstmals hatte man keine bekannten Künstler-Kurator* innen, sondern das neunköpfige Kollektiv Ruangrupa aus Indonesien, einem Land des Globalen Südens eingeladen, die Schau künstlerisch zu betreuen. Dieses lud weitere Kollektive mit politisch-aktivistischer Perspektive ein, um auf dringende Problemfelder unsere Zeit – Rassismus, Verlust indigener Kulturen, Migration, Frauenrechte, Umweltkrise – aufmerksam zu machen. Darunter sind Länder aus Afrika, Asien, dem Nahen Osten und Lateinamerika; Künstler*innen aus Europa oder den USA stellen eine Ausnahme dar. Die meisten Werke lehnen individuelle Autor*innenschaft ab – mit der Gefahr, künstlerische Kohärenz und Verantwortung zu opfern –, sind prozessorientiert und werden erst im Laufe der Schau fertiggestellt. Anstatt klassischer Objekte gibt es an über 32 Standorten im Stadtraum verstreut Installationen, Fotos, Filme und Dokumentationsmaterial zu sehen.

Die documenta fifteen trat an, einen Wendepunkt in der westlichen Ausstellungspraxis einzuläuten, um künstlerische Stimmen aus dem nicht-westlichen Kanon ins Licht der Weltöffentlichkeit zu rücken, ein postkoloniales Konzept, das derzeit Schule im europäischen Ausstellungsbetrieb macht. Ein revolutionärer Durchbruch sollte es werden, einen Kunstbegriff der Community und Nachhaltigkeit, des Austauschs und sozialen Zusammenhalts vorstellen. Die angekündigte Frischzellenkur war intendiert als Signal gegen die kapitalistische Praxis der Vereinnahmung um nicht-westliche Kunst und ihre rebellischen Impulse direkt in das blutende Herz des Globalen Nordens, dem langsam, aber sicher die Luft zum Atmen ausgeht, zu befördern. Eine bunte, junge, politisch-aktivistische und vitalistische Schau sollte es werden.

Kunst, Aktivismus und Community

Der Schlachtruf von Ruangrupa heißt »lumbung«, womit ein gemeinschaftlich ausgerichtetes Modell der Ressourcennutzung, der Produktion von Ideen, der Verteilung von Wissen und Erfahrungen gemeint ist. »lumbung« nennt sich eine Reisscheune aus ländlichen Gebieten ihrer Heimat – ein gemeinschaftlich genutzter Bau, in dem die Ernte der Community als gemeinsame Ressource zusammengetragen, gelagert und nach gemeinsam bestimmten Kriterien verteilt wird. Der kunstferne Begriff schließt menschliches Arbeitspotenzial wie Zeit als Ressource für den Aufbau kollektiver kultureller Praktiken ein, unterstützt von Residency-Programmen, öffentlichen Zusammenkünfte und interkulturellen Events. Ein zweites Motto umfasst das Catchword »nongkrong«, indonesisch für gepflegtes Abhängen. Mit ihren Schwerpunktsetzungen folgt Ruangrupa dem revolutionären Anspruch der 68-Generation, Kunst und Gemeinschaft zusammen zu bringen, den kulturellen Zwiespalt zwischen Ost und West, Nord und Süd an Orten westlich dominierter Deutungshoheit zu überwinden.

Vorwurf des Antisemitismus

Entzündet hatte sich der Vorfall daran, dass Ruangrupa palästinensische Künstler*innen, denen zudem eine Nähe zur Israel-kritischen BDS-Kampagne nachgesagt wird, jedoch keine israelischen, eingeladen hatte. Der Skandal war perfekt, als nach der Eröffnung antisemitische Darstellungen in einem so genannten Wimmelbild der Gruppe Taring Padi vor dem Kasseler Museum Fridericianum auftauchten: Unter dem Titel People’s Justice konnte man unschwer karikierte schweinsköpfige Mossad-Mitglieder und einen Schläfenlockenjuden mit Zigarre und SS-Helm erkennen.

»Zweifellos überschreitet die Karikatur des Juden die Grenzen dessen, was in Deutschland gezeigt werden sollte«, befand die Kunstzeitschrift Monopol, die Ruangrupa bis dahin unterstützt hatte. Zuerst verteidigte Direktorin Sabine Schormann das Kollektiv mit dem Argument, antisemitische Darstellungen hätten in der indonesischen Kultur ganz andere, nämlich anti-imperialistische Konnotationen, was den Skandal nur noch vergrößerte. Die Reaktionen reichten von Empörung und Betroffenheit bis zu Abscheu angesichts weiterer antisemitischer Klischees, die sich auch in anderen Kunstwerken fanden, kulminierend in einer erhitzten Debatte, die bis zum Deutschen Bundestag reicht, über Freiheit der Kunst, Zensur und Verantwortung, die Aufgaben von Kulturpolitik und -management.

Bereits im Vorfeld mit Antisemitismus-Vorwürfen konfrontiert, reißt das Dilemma für die Leitung der documenta nicht mehr ab, ja, die Debatte ist selbst Teil des kunstbetrieblichen Kriminalfalls geworden, zumal seither immer mehr, vor allem junge Besucher*innen nach Kassel strömen.

Absehbare Krise?

Nach der abrupten Entlassung der documenta-Chefin befand der Der Spiegel, dass es sich um einen »kulturpolitische(n) Abgrund, der größer ist als Kassel« handle: »Für immer wird die Ausstellungsreihe nun mit einem echten Skandal verbunden sein, und der geht sogar noch weit über die gezeigten antisemitischen Motive hinaus. Es wurde viel Vertrauen zerstört, in Personen, in Instanzen, aber auch in die Idee, dass in der Kunst doch immer alle auf derselben und irgendwie auf der richtigen Seite stehen.« Zuletzt hatte sich eine der bekanntesten Künstler*innen der Ausstellung, Hito Steyerl, von der Schau zurückgezogen und Meron Mendel, beratender Direktor der Bildungsstätte Anne Frank (Frankfurt/M.) seine Zusammenarbeit mit der documenta beendet.

Der anfangs euphorisch begrüßte, historisch überfällige Versuch von Ruangrupa, aus dem Korsett westlich orientierter Kunst/Konzeption auszubrechen, wirft immer mehr Fragen auf über die Theorie und Praxis der Kulturpolitik auf der documenta: Konnte es gelingen, den ambitionierten Brückenschlag zwischen den Kulturen, eine Erweiterung des westlichen Kunstbegriffs durch die Werke der »Armen« und »Ausgeschlossenen«, die Sprengung des geschützten Raums eines white cubes zu erreichen?

Diskursive Grundübel

Um das Desaster zu verstehen, ist es hilfreich, prägende Ansätze zeitgenössischer Kultur/Politik der letzten Jahrzehnte zu betrachten:

1. Der Postkolonialismus in Theorie und Praxis richtet den Fokus auf das »subalterne Subjekt« als das »Andere«, das gewöhnlich aus dem Globalen Süden stammt und im Diskurs als exotisch fantasiert wird. Um nicht länger Kulturen des Globalen Südens, die jenseits des Kalküls westlicher Standards liegen, zu diskriminieren, gelten im schlimmsten Fall überhaupt keine Regeln kulturpolitischer Beurteilung mehr. Das führt dazu, dass z. B. Ausstellungen nicht länger kuratiert werden und sich sexistische, rassistische oder auch antisemitische Inhalte in eine Schau wie die documenta einschleichen konnten. Aus Angst vor Zensur hatte im Vorfeld keine oder zu wenig kritische Überprüfung der auszustellenden Kunstwerke stattgefunden.

2. Der »kapitalistische Avantgardismus« (meine Begrifflichkeit) produziert einen Zwang zum »Neuen«, zur unausgesetzten Revolte in der Kunst, die dennoch in den hegemonialen westlichen Betrieb integriert werden kann. Das stets fortschreitende Tempo künstlerischer Revolutionierung geht einher mit steigender künstlerischer Abstraktion – bis hin zum amateriellen Kunstwerk, dessen Herstellung (beinahe) ohne Handwerk auskommt. So werden Kunstwerke, die bloße Ideen, Konzepte oder Dokumentationen von projektierten Werken darstellen, zu Höchstpreisen gehandelt, wobei in dieser Vorstellung nicht-westliche Kunstwerke eine willkommene »Novität« darstellen. Auf dem westlichen Ausstellungsparkett vermarktbar, gelten sie als »primitiv«, wenig elaboriert, spirituell, roh und ursprünglich im Gestus – mit mythischer Authentizität aufgeladen.

3. Die Annahme, Kunst aus dem Globalen Süden sei nicht imstande, rassistische Positionen hervorzubringen, führte in die Sackgasse. Aufgrund des unhinterfragten Respekts vor dem »subalternen Subjekt«, vor dem diametral »Anderen« hat die künstlerische Leitung der documenta fifteen nicht genau genug hingeschaut, welche Kunst hier gezeigt und welche Werte damit repräsentiert werden sollten.

Fazit

Die realen materiellen und geopolitischen Gräben zwischen Nord und Süd – jenseits der Diskurse vager kultureller Differenzen – können nicht auf dem Wege einer Ausstellung überwunden werden. Dazu ist wesentlich mehr Analyse, Dialog und Entwicklung nötig. Allzu lange hat die westliche Kulturwissenschaft, haben der hegemoniale Kunst- und Kulturbetrieb die kritischen Debatten auf die Ebene der Zeichen/Sprache abseits der materiellen Existenz der tatsächlichen Kunstproduktion betrieben. Die Antwort auf den vielleicht nicht vermeidbaren Eklat kann nur heißen: Dialog und schonungslose Selbst/Kritik aller Betroffenen – in Politik, Kuratorium, Leitungsorganen und im Gespräch mit der interessierten Öffentlichkeit. Notwendig ist eine kritische Analyse von Ursachen, Entwicklungen und Auswirkungen postmoderner Oberflächen-Theorien der letzten Dekaden, die frühere, historisch fundierte Ansätze der Kunstbetrachtung ersetzt haben.

Es ist ein Hohn, dass die Mehrzahl der Künstler*innen aus dem Globalen Süden auf der documenta fifteen, die ihnen gewidmet sein sollte, nun das Nachsehen haben. Die Antisemitismus-Debatte hat die Diskussionshoheit erlangt, während die Werke der eingeladenen Gäste, die Zuspruch verdient hätten, in den Hintergrund getreten sind. Aus der Betrachtung nicht-westlicher Kunstwerke ist ein Diskurs über den Eklat geworden, das leere Leinwandgerüst des Bildes Peoples’ Justice steht verwaist vor dem Fridericianum, ist zum Mahnmal des Versagens mutiert. Statt einer regen Auseinandersetzung über nicht-westliche Kunst überschlägt sich das deutsche Feuilleton mit kritischen Stimmen aus der Feder namhafter Intellektuellen, die hilflos den Skandal zu begründen suchen, sich gleichzeitig darüber wundern, dass diese documenta fifteen, den Unkenrufen zum Trotz, zahlenmäßig zu einem Publikumserfolg avanciert ist. Das letzte Wort scheint noch nicht gesprochen – vielleicht nicht trotz, sondern wegen des Antisemitismus-Skandals.

Es wird nicht möglich sein, aus dem Dilemma, das den documenta fifteen-Konflikt grundiert, auszubrechen ohne die Einsicht, dass die Vermarktung subalterner kultureller Rebellionen die gegenwärtige Orthodoxie konstituiert. Einer Orthodoxie, die in keinster Weise das »westliche System« infrage stellt und tief verwurzelt ist in Theorie und Praxis ostentativ »rebellischer« Kunstproduktion, die aus den gescheiterten 68-Rebellionen gespeist, das Projekt des Neoliberalismus funktionell untermauert.

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Gelesen 2254 mal Letzte Änderung am Freitag, 02 September 2022 16:21
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