»Der KPCh ist es bisher gelungen, Privatunternehmen sowohl durch die ökonomischen Strukturen des Staatskapitalismus als auch auf der politischen Ebene durch einen autoritären Korporatismus einzubinden.«
KARL REITTER hat das Buch von Felix Wemheuer zu den Umwälzungen in China gelesen.
Die weltgeschichtliche Bedeutung Chinas steht außer Zweifel. Wirtschaftlich, politisch und nun auch militärisch ist China das einzige Land, das sich mit den USA messen kann. Für Linke und Kommunist Innen entscheidend ist aber die Frage: Wohin entwickelt sich die Gesellschaft Chinas? Geht es in Umwegen doch Richtung Sozialismus, oder entsteht ein Regime, das als besondere Variation des Kapitalismus einzuschätzen ist? Um diese Fragen diskutieren zu können, sind zweifellos genaue Kenntnisse der sozialen Entwicklung und der gegenwärtigen Verhältnisse nötig. Seriöse und ernsthafte Informationen sind leider Mangelware, viele Berichte zeichnen sich entweder durch unkritische Berichterstattung oder billige antikommunistischer Polemik aus. Für eine ernsthafte Debatte sind sie zumeist unbrauchbar.
Felix Wemheuer, seines Zeichens Professor für Moderne China-Studien an der Universität Köln, hat mit Chinas große Umwälzung ein informatives und exzellent recherchiertes Buch verfasst. Im ersten Teil zeichnet Wemheuer die Rolle Chinas im Prozess der Entkolonialisierung nach 1945 nach und skizziert die ökonomische und politische Dynamik der letzten Jahrzehnte im Weltmaßstab. Die Aussagen dieses Abschnitts dürften vielen LeserInnen eher bekannt sein und liefern wenig neue Aspekte. Spannend und alles andere als bekannt sind hingegen die Ausführungen im zweiten, längeren Teil, sozialer Wandel der Gesellschaft und Konflikte.
Die semi-sozialistische Phase (1949 bis Ende der 70er Jahre)
Für die erste Phase von der Revolution 1949 bis Maos Tod 1976 schlägt der Autor den Begriff semi-sozialistisch vor. Am Land waren die Bauern in Landkommunen organisiert. In der Stadt in staatlichen Arbeitseinheiten mit lebenslanger Beschäftigungsgarantie, sozialen Sicherheiten und einem garantierten Einkommen, Verhältnisse, die als »eiserne Reisschüssel« bezeichnet wurden. »Die Arbeitskraft der Belegschaft der staatlichen Arbeitseinheiten war dekommodifiziert durch lebenslange Anstellung.« (172), das heißt, es gab so gut wie keinen Arbeitsmarkt. Sozialpolitisch war diese Phase durch ein System mehrfacher Klassifikationen gekennzeichnet. Die wichtigste Unterscheidung war die Haushaltsregistrierung, chinesisch als hukou bezeichnet. Diese Unterscheidung existiert immer noch, es gibt das Stadt-hukou, und das Land-hukou. Personen mit Land-hukou können dauerhaft nicht legal in den Städten leben, der Zugang zu Bildung, sozialen Sicherungssystemen und legalem Wohnraum in den Städten ist ihnen weitgehend verwehrt.
Eine weitere Einteilung erfolgte nach der Klassenherkunft und nach dem aktuellen Klassenstatus. Die Bevölkerung wurde in reaktionäre (weitgehend enteignete) Großgrundbesitzer und KapitalistInnen, in Mittelbauern, arme Bauern, ArbeiterInnen und Intellektuelle unterteilt. Hinzu kam die Position in der KPCh. Einen besonders positiven Status hatten jene Parteikader, die bereits vor der Revolution der KPCh angehörten, sie stellen während der Mao Ära die dominierende soziale Schicht dar. »Die Festlegung des Status basierte auf den ökonomischen Verhältnissen der Vergangenheit, nicht der Gegenwart.« (147) Wer also aus einer »schlechten« Familie stammte, musste mit Schikanen und Nachteilen rechnen. Allerdings wurde diese Sippenhaftung zu Beginn der Kulturrevolution 1966 massiv kritisiert. »In der gesamten Mao-Ära gab es ungelöste Spannungsverhältnisse zwischen dem eigenen Status auf Grundlage des Berufs (chengfen), der Familienherkunft (chusheng) und dem politischen Engagement (biaoxian).« (148)
Wechselhaft war auch die Politik der KPCh gegenüber den nationalen Minderheiten, die zwischen Förderung und Toleranz sowie Zwang zur Assimilierung mit der Han-Mehrheit schwankte. Klarer war die Politik bezogen auf die Rechte der Frauen, so wurden Zwangsheirat, Konkubinat und Kinderbräute gesetzlich verboten. Im Zuge der Kritik, ja Verteufelung der Kulturrevolution kamen allerdings erneut antifeministische Töne auf, die vor allem gegen Maos Frau, Jiang Qing, gerichtet waren, die eine führende Rolle im linken Flügel in der Kulturrevolution spielte. Der Phase der Kulturrevolution widmet der Autor kein eigenes Kapitel, hält aber fest, dass diese Revolte durchaus spontan entstand und das gegebene Machtgefüge massiv erschütterte. Mao förderte diese Rebellion zuerst, versuchte sie jedoch ab 1968 unter anderem mit Hilfe der Volksbefreiungsarmee zu stoppen.
Auf dem Weg zum Staatskapitalismus
Auf die Wirren der Kulturrevolution und Maos Tod 1976 folgte die große Wende in China, gekennzeichnet zuerst durch massive Fraktionskämpfe und weitgehende Rehabilitation der in der Kulturrevolution angegriffenen Kader. In den 1980er Jahren begannen jene Reformen, die in den 1990ern verstärkt wurden und laut Wemheuer zum Staatskapitalismus führten. 1984 wurden die Volkskommunen aufgelöst, der Boden an Bauern und Bäuerinnen verpachtet. Bis heute ist Grund und Boden Staatseigentum, allerdings wird dieser auch an Private verpachtet, die Laufzeit kann bis zu 99 Jahren betragen. Die Staatsbetriebe und mit ihnen die Privilegien der Beschäftigten – »eiserne Reisschüssel« – wurden in simple kapitalistische Unternehmungen umgewandelt, Entlassungen wurden legitim. Ebenso wurde der Klassenstatus abgeschafft, das hukou-System ist allerdings bis heute in Kraft.
Wemheuer zeigt anhand des Materials überzeugend, dass in der Mao-Ära weder eine freie Lohnarbeiterschaft noch ein Arbeitsmarkt existierten. Der »doppelt freie Lohnarbeiter« entstand erst nach und nach, und wie in Europa kam er vom Land. Die erste Generation der chinesischen WanderarbeiterInnen stand mit einem Fuß noch im ländlichen Dorf, mit dem anderen in den rasant entstehenden Weltmarktfabriken, insbesondere an der Küste und in den Sonderwirtschaftszonen. »Die Unternehmungen konnten lange niedrige Löhne bezahlen, die weit unter den Reproduktionskosten in der Stadt lagen, da diese weitgehend in die ländlichen Familien ausgelagert wurden.« (189) Die zunehmende Privatisierung des Wohnraums – nicht des Bodens selbst – führte zu einem Immobilienmarkt mit rasant steigenden Wohnkosten. »Seit den 2000ern nahmen Streiks und Arbeitskämpfe der ›Bauern-Arbeiter‹ im ›Sonnengürtel‹ zu.« (193) Diese Streiks waren teilweise durchaus erfolgreich und wurden von den Behörden auch geduldet. Auch das starre hukou-System wird teilweise in Frage gestellt, obwohl es flächendeckend noch immer von große Bedeutung ist.
Ein Dauerbrenner in China ist der Kampf gegen die Korruption. »Mittlerweile sind jedoch auf allen Ebenen so viele Kader wegen Korruption diszipliniert und verurteilt worden, dass man die Kampagne nicht mehr mit Fraktionskämpfen alleine erklären kann.« (235) Der Autor weist auch in diesem Zusammenhang auf den besonderen Charakter der Repression in China hin. Wir dürfen uns China keineswegs als Land vorstellen, in dem jede kritische Äußerung unmöglich ist, in dem es keine Streiks, Proteste oder andere Widerstandsformen gibt. Im Gegenteil. »Die KPCh hat in ihrer Geschichte große Wandlungs- und Anpassungsfähigkeit bewiesen. (...) Die Partei war zudem in der Lage, auf Proteste in der Bevölkerung nicht nur mit Repression, sondern auch mit Zugeständnissen und Reformen zu reagieren.« (243) Die roten Linien beginnen dort, wo Proteste schichtübergreifend organisiert werden, wenn sich also ArbeiterInnen mit StudentInnen und umgekehrt solidarisieren. »Die Behörden befürchten besonders Personen, die eine Vernetzung über die Grenzen eines sozialen Milieus hinaus herstellen können.« (246) Die politische Herrschaft der KPCh ist hingegen tabu. Obwohl – sehr zum Missfallen westlicher KommentatorInnen – diese Herrschaft grundsätzlich kaum in Frage gestellt wird. In der Regel geht es gegen bestimme Kader, Provinzverwaltungen und bestimme Maßnahmen, kaum gegen das System selbst. Einen Kitt stellt auch der chinesische Nationalismus dar. »Man sollte den Glauben nicht unterschätzen, dass nur die KPCh eine vereinigte chinesische Nation zur modernen Industriegesellschaft, Wohlstand und Weltgeltung führen könne.« (244)
Neu entstandene KapitalistInnenklasse
Ökonomisch spielen die Staatsunternehmungen eine dominante Rolle in der Wirtschaft Chinas. Der Autor betont, dass es nicht einfach ist, das Ausmaß des Staatssektors zu berechnen. Es wird zwischen Staatsunternehmungen und »staatsverbundenen Unternehmen unterschieden, bei denen der Staat mehr als 50 Prozent der Anteile besitzt. In der Praxis ist allerdings der genaue Anteil der staatlichen Beteiligung oft nicht öffentlich bekannt.« (210) Wemheuer weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass die bloße juristische Form des Eigentums von geringer Relevanz ist. Wenn wir etwas aus der Geschichte Chinas lernen können, dann auch dies: Ob der Staat oder Private Unternehmungen führen, macht wenig Unterschied, solange Lohnarbeit für den Zweck des Profits eingesetzt wird, Entlassungen jederzeit möglich sind und die Produkte am Markt als Waren verkauft werden. Politisch hat sich die KPCh der neu entstandenen KapitalistInnenklasse geöffnet. »Im Nationalen Volkskongress von 2013 waren unter den Delegierten 83 US-Dollar-MilliardärInnen vertreten.« (217) PrivatunternehmerInnen machen bereits über 35 Prozent der Parteimitglieder aus. Daher wundert es wenig, dass die Bereitschaft der neuen Kapitalist Innenklasse gegenüber Staat und Partei, auf Konfrontationskurs zu gehen, eher gering ist. »Der KPCh ist es bisher gelungen, Privatunternehmen sowohl durch die ökonomischen Strukturen des Staatskapitalismus als auch auf der politischen Ebene durch einen autoritären Korporatismus einzubinden.« (219)
Im letzten Abschnitt des Buches stellt Felix Wemheuer dann die entscheidende Frage: Wohin wird sich China entwickeln? Wird es der Staatsklasse gelingen, ihre Legitimation zu behalten? Wird es ihr gelingen, die dramatische Umweltzerstörung und die wachsende soziale Ungleichheit zu bewältigen? Diese Fragen bleiben – wenig überraschend – unbeantwortet.
Felix Wemheuer – Chinas große Umwälzung. Soziale Konflikte und Aufstieg im Weltsystem (2019, PapyRossa Verlag, 270 Seiten, 16,90 Euro)