Viele Welten in einer Bärbel Danneberg CC BY-SA 2.0 VICTOR ALBERT GRIGAS (1970) / FLICKR

Viele Welten in einer

von

Bärbel Danneberg über den Bus nach Bingöl von Richard Schuberth

 

»Die Geradlinigkeit erprobt sich erst in der Beweglichkeit und der gerade Weg führt zu keiner Erfahrung.«

Ahmet Arslan: Sozialarbeiter, türkischer Kurde, kurdischer Linker, Bauernsohn, Intellektueller an Wiener Instituten, jugendlich-politischer Widerstandskämpfer, alternder Heimatsuchender, Immigrant, Träumer und Realist, ein Zerrissener in den Gefühlswelten des Seins. Die Hauptfigur im Roman von Richard Schuberth macht sich im Bus nach Bingöl auf den Weg in seine Heimat, dem kleinen Dorf Holike in der kurdischen Provinz Dersim. Jahrelang saß er in Wien als Dozent »auf Podien, auf die uns wohlmeinende Österreicher einluden, welche unsere unausgesprochenen Konflikte nicht kannten«. In den Augen der Wiener Liboşlar aus der Türkei war er das »unkorrumpierbare Ausrufezeichen vor ihrer Anpassung«. Noch immer hielten sie es mit den Kemalisten. »Es waren dieselben Leute, welche, um von den Grünen und den Multikultifeministinnen gemocht zu werden, jede Kopftuchträgerin mit liberalen Theorien verteidigten, aber beim Istanbultrip mit größter Verächtlichkeit über sie spotteten.« Diese Gedanken gehen Ahmet Arslan durch den Kopf, als er im Bus nach Bingöl sitzt und die Mitreisenden betrachtet, diese eigenartige Menschenmischung, die ein Spiegel der Gesellschaft ist.

Schon am Flughafen in Istanbul wird unser Blick auf die Widersprüche dieses Landes und seine Menschen gelenkt. Der Airport wurde nach der Ziehtochter Kemal Atatürks, Sabiha Gökçen, benannt. Der »Leitstern weiblicher Emanzipation« war die erste Frau in der Türkei, die ein Flugzeug flog, die zur Kampfpilotin ausgebildet wurde und die aus der Luft Kurd*innen tötete: sie flog erste Einsätze während der Dersim-Massaker 1937 und ‘38 gegen kurdische Dörfer. Erst 2004 gelang dem Journalisten und Menschenrechtsaktivisten Hrant Dink der Nachweis, dass Sabiha Gökçen aus einer armenischen Familie stammte, die den Massakern von 1915 zum Opfer gefallen war. Als Ahmet Arslan im April 2008 die Kontrollen dieses Flughafens passiert, überkommt ihn nach 28 Jahren Abwesenheit aus der Heimat eine alte Angst: »Durfte er dieser alerten, gut gelaunten ServiceTürkei trauen?« Im Bus nach Bingöl begegnen wir ähnlich widersprüchlichen Gestalten und sehen uns mit unseren schnellen Vorurteilen gegenüber ihrem äußeren Erscheinungsbild und ihrer Lebenswelt konfrontiert: der deutsche Schriftsteller reist, um sein Leben zu beenden; das ängstliche Mädchen reist, um von den Strapazen einer illegalen Abtreibung zurück in ihr Dorf zu kommen; die auffallend selbstbewusste Kemalistin reist, um ihren reichen Papa zu besuchen; die kopftuchbedeckte Aktivistin der AKP-Frauenorganisation mit Drogenvergangenheit reist, um andere Frauen mit ihrem neureligiösen, regierungstreuen Glauben moralisch zu erpressen; der Rekrut reist, um sein Land vor Terror zu schützen; die tote Frau im Sarg des Kofferraums reist, um beerdigt zu werden.

In seinem Dorf angekommen, wird Ahmet Arslan von ebendiesen Widersprüchen eingeholt: der »Peinlichkeit des neuen türkischen Mittelstandes der Ära Erdogan«, der religiösen Macht von Traditionen, den Sehnsüchten in den Mythen und Liedern, der Ungeduld eines Aufbruchs in eine neue Zeit und der Behäbigkeit des Stillstands. Wann er Kurde wurde, wird er irgendwann gefragt. »Im Gefängnis von Elazig haben sie mich als Kurden geschlagen. Seitdem bin ich einer.« Richard Schuberth nimmt die Lesenden mit auf eine spannende Reise zwischen den Kulturen und politischen Positionen.

Richard Schuberth: Bus nach Bingöl, Roman. Drava 2020

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Gelesen 4912 mal Letzte Änderung am Sonntag, 28 Februar 2021 17:52
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